Ohne Komma

Der Puls steigt, als ich vier Sekunden vor Ablauf der Auktion auf Bieten klicke. Federfliege war bis dahin Höchstbietender. Lächerliche 5,11 €, das sind exakt 10 DM, war er bereit, für ein Fußballtrikot aus dem Jahre 1974 zu bezahlen. Mit original Unterschriften von Sepp Herberger, Franz Beckenbauer und vielen anderen und eben jener legendären Rückennummer 9, Jürgen Grabowski.

1974 war das Jahr, in dem Deutschland Weltmeister wurde. Es war ein heißer Sommer, die Sonne betäubte schon morgens ab 6.30 Uhr alle Vitalfunktionen. Die Reifen vom Bonanzarad versanken in der weichen Teerdecke. Der schwarz gepolsterte Bananensattel erreichte Temperaturen einer Kernschmelze und die Radlaufklingel schnitt den Mantel am verzogenen Vorderrad entzwei. Dea war noch Texaco und das Traumauto der Generation Oberlippenbart war ein Karmann Ghia Cabriolet. Frauen durften noch nicht fahren, der Schminkspiegel links kam erst 1980 bei der Charleston- Ente.

Noch drei Sekunden. Der Preis klettert auf 19-78.
Ich war 11, bekam meinen ersten Zungenkuss und Haare am Sack. Die Forschung konnte bis heute keinen Zusammenhang dazwischen beweisen. Sie hieß Stefanie und ich war ihr zweiter Freund. Meine Hände schwitzten und zitterten, als ich ihr pochendes Herz unter ihrem Pullover fühlen sollte. Ihre Eltern haben uns erwischt und brachten mich im Derby nach Hause. Stefanie Nr. 2 lernte ich im Park kennen. Ich war ihr erster Freund und diesmal schlug mein Herz ganz wild, als wir im Zelt im Garten ihrer Eltern übernachten.

Noch zwei Sekunden trennen mich von diesem einmaligen Unikat.
Das Höchstgebot liegt bei 19-90. Deutschland wurde in Italien Weltmeister. Ich war da, stand in Mailand beim Public Viewing (das gab`s da schon), als Brehme in der 85. Minute den Foulelfmeter gegen Argentiniens Goycochea zum 1:0 – Endstand verwandelte. Die Squadra Azzura war im Halbfinale gegen jene Argentinier rausgeflogen und so feierten die italienischen Tifosi mit mir, als hätte ihr Schillacci sein 7. Tor geschossen. Auf dem Heimweg zu meiner italienischen Au pair- Familie fuhr ich im Freudentaumel den linken Rückspiegel von meinem C- Kadett ab.

In der letzten Sekunde vor Ablauf explodiert der Preis. Ich traue meinen Augen kaum. Ich dachte, das geht nicht. Wir sind bei 20-06.
Es war das deutsche Sommermärchen, auch wenn diesmal die Italiener sich 0:2 gegen Deutschland im Halbfinale durchsetzten und lamentierend den Cup entführten. Ich boykottierte Pizza, Lasagne und dolce vita, versägte Fiats im E- Kadett, bis ich Charlotta bei einem Eisbecher Coppa del Mondo kennenlernte. Bella donna! Muste du probiere!

Die letzte Millisekunde senkt sich quälend langsam zu Boden wie eine isländische Vulkanaschewolke. Leiber schwitzen, Augen durchdringen den Bildschirm, einzelne rote, grüne und blaue LED- Pixel beginnen einen Samba zu tanzen, ehe endlich im Rausch von 16,2 Millionen Farben ein Jingle ertönt: Tä Tä Tätä!
Gewonnen! Ich hab`s! Tatsächlich! Ich schau noch mal genau hin:
Herzlichen Glückwunsch, murmeltiertag. Sie haben diesen Artikel gekauft. Das Original DFB- Fußballtrikot 1974, Jürgen Grabowski, Rückennummer 9 gehört Ihnen! Bitte zahlen Sie jetzt 2014 Euro.

Stolz wie der Oktopus Paul schalte ich den Rechner aus und summe leise mit:

54, 74, 90, 2014

6 Gedanken zu “Ohne Komma

  1. skriptum 13. Juli 2010 / 23:32

    Das war kein Schnäppchen, sondern ein glatter Schnapp! *gg

    Glückwunsch!

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  2. lordfoltermord 14. Juli 2010 / 12:33

    Aber das Trikot der Schande mit der Unterschrift von Krankl müsste noch für 19,78 € zu haben sein …

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  3. murmeltiertag 14. Juli 2010 / 13:35

    @ lordfoltermord:

    Musstest du jetzt diese alte Wunde wieder aufreißen?
    Wie sagte Edi Finger damals: „I wer’ narrisch“

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  4. Herr Teddy 14. Juli 2010 / 13:36

    Da fehlt doch ein Komma, oder?

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    • murmeltiertag 14. Juli 2010 / 14:00

      Nein, ohne Komma heißt auch die Erzählung!

      Hier aber eine tatsächliche Auktion, weggegangen für 1500 € für einen Müller.
      Ein Grabowski hätte sicher 2014 € gebracht. Wenn es ihn denn gäbe, ich tät´s bieten! 😉
      Zwar kein Grabowski, aber immerhin noch ein Müller!

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  5. Lies von Lott 31. Juli 2010 / 10:27

    Um Himmels Willen, soooo viel Geld und ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht mal, wer Gerd Müller ist.

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