Hartholz

Mein Rücken fühlt sich an, als hätte ich die ganze Nacht auf einem Igel gelegen. Jede Bewegung sticht mir ins Kreuz. Im Volksmund heißt das wohl Hexenschuss. Diese Hexe hat aber nicht nur einmal geschossen, sie war auf Jagd.
Jetzt bin ich beim Orthopäden, es ist 8.15 Uhr. Die Sprechstundenuschi stellt klöternd ihre Kaffeetasse ab, haucht auf den Magnetstreifen und liest meine Versichertenkarte ein. Nach einem kurzen Verhör über Schlaf- und Essgewohnheiten,  meine sexuellen Vorlieben und einem längeren Vortrag über Schmerzmittelabusus weist sie mir den Weg ins überfüllte Wartezimmer. „Das kann dauern“, ruft sie mir noch nach. Ächzend wie ein alter Truhendeckel lasse ich mich auf dem letzten freien JULES– Stuhl nieder. Die Gesichter um mich herum sehen aus wie eingeschüttete chilenische Bergarbeiter am 29. Tag. Der kahle Opa gegenüber angelt sich mit seinem Krückmax die letzte Autobild.  Er leckt zwei Finger an und blättert knisternd um. Als ich mühselig mir eine ADAC Motorwelt vom März 2009  greife, schießt die alte Hexe wieder, ich stöhne auf und lasse die Zeitung fallen. Autobild guckt auf. Ich starre ihm ins Gesicht und schiebe mir die Mitgliederzeitschrift für Wackeldackelliebhaber geschickt mit einem Fuß am anderen Bein hoch und greife sie mir. Beim Test über Sommerreifen fällt draußen der erste Schnee. Mein Magen knurrt, ich kratze mich am Arsch. Als Santa Claus ins Arztzimmer gerufen wird, nimmt er die Autobild mit. Saftsack. Um 9.30 Uhr verschlinge ich den Kicker. Lothar Matthäus bringt sich mal wieder als Trainer oder Papst ins Gespräch, Würstchen – Uli glaubt immer noch, das Bayern Meister wird und ein Zivi bringt eine beleibte und betagte Graulocke. Die klaut mir flink die letzte Gala. Es ist zehn vor zehn. Ich bin bei der Frau im Spiegel angekommen. Das dänische Königshaus beschließt ein Gesetz zur Neuregelung der Saunanutzung an Wochenenden und im britischen Unterhaus ist der Rinderwahnsinn ausgebrochen. Maulheld Schumacher will noch mal angreifen, Thomas Gottschalk moderiert die Tagesthemen und Wickert wechselt zu SAT1. Im Wartezimmer bleibt alles wie es ist. Als Frau Holle endlich hineingerufen wird, ist der Zivi eingeschlafen und sabbert. Sie stößt ihm ihren Hackenporsche gegen das Schienbein, knurrend schiebt er sie von dannen. Um 11.30 Uhr habe ich 10 Fehler in der Hörzu beim Original und Fälschung gefunden, das Sodoku in der Neuen Revue gelöst, Menowins Knasterlebnisse im Goldenen Blatt entziffert und mir mit dem Handy ein Pizza Quattro Stagioni bestellt, ohne Winter, dafür mit doppelt Sommer. Ich sei „biste blöde“, meint Adriano am anderen Ende und ich lasse ihn singen mit der Gitarre in der Hand. Mit dem Finger in der Nase werde ich um 12.30 Uhr aufgerufen, um noch einmal die Lebensdauer von Buchensperrholz im ersten Nebenzimmer zu spüren. Die Zeitschriften werden erbärmlicher in diesem Teil des Universums, Bild und Funk gehört noch zu den journalistischen Highlights. Über eine Stunde fressen meine Hämorrhoiden  mit den Holzwürmern um die Wette, wer mehr Formaldehyd verträgt, ohne zu Kotzen. In der Endausscheidung werde ich endlich zum Doc reingerufen. „Wo mich denn der Schuh drücken würde“, will er wissen. „Mir tut der Arsch weh vom Sitzen“,  sage ich.

6 Gedanken zu “Hartholz

  1. engerling 13. November 2010 / 22:04

    … wie kann man nur so negativ in den Tag „gehen“ … Ich hätte mich mit der Hexe angefreundet und sie gebeten, den Schuss an anderer Stelle des Universums zu platzieren – wie wäre es mit der „Autobild“ 😉

    P.S.: …ich hoffe der „Gang“ zum Doc hat was gebracht! … und … Gute Besserung 😉

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  2. murmeltiertag 14. November 2010 / 17:46

    Nicht alles in meinem Leben ist autobiografisch 😉
    Trotzdem Danke für die Genesungswünsche!

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  3. engerling 14. November 2010 / 18:32

    …also in meinem Leben ist alles autobiographisch – hab keinen Drang „Das Leben der anderen“ zu leben 😉

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  4. engerling 14. November 2010 / 21:56

    …künstlerische Freiheiten würd ich’s „benennen“, schwindeln würde ich dir nie unterstellen ;-))

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  5. Sofasophia 16. November 2010 / 18:37

    gut gesponnen, würd ich da einfach mal sagen. 🙂

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