Das letzte Einhorn

Manchmal kann ich mich einfach nicht entscheiden.

Ich möchte meine Ruhe, aber auch nichts verpassen.
Ich möchte gut essen, aber schlanker sein.
Ich wäre gerne jünger, aber nicht unreif.

Ich würde gerne mehr aus mir herauskommen, verlasse aber tagelang das Haus nicht.
Ich würde gerne etwas anders machen, hasse aber Veränderungen.
Ich möchte einfach nur, dass eins plus eins eins ist.

Ich möchte nachts nicht mehr raus müssen und morgens liegen bleiben.
Ich wünsche mir mehr Zeit, um am Meer zu sein.
Ich möchte raus aus meiner Haut.

Ich möchte mein Gegenüber finden. Jemanden, der mich aushält. Der mich trotz meiner Sorgen und Ängste liebt. Vor dem ich nichts erklären und rechtfertigen muss. Der mich versteht, auch wenn ich schweige. Der mir Antworten gibt, mich aber nicht in Frage stellt. Der im passenden Moment meine Hand nimmt und wieder loslässt. Jemanden, mit dem ich lachen kann, der aber den Ernst der Lage erkennt, wenn ich wieder einmal mit meinen Widersprüchen nicht zurechtkomme.

Strandgut

Nach ein paar stürmischen und kalten Tagen ist wieder Ruhe eingekehrt. Handschuhe versüßen mir den Moment. Das Meer liegt sanft da, während es zuvor drohte, die Seebrücke umzuschmeißen. Das Toben der See und das Fauchen des Windes haben nachgelassen. Endlich nur ein friedliches Wogenplätschern. Andere Lichtempfindungen, andere Gedanken. Die Bank am Tisch ist frei, dafür mehr im Schatten als meine. Ich zögere noch. Solange sie niemand haben will, solange bleibe ich auch hier. Missgünstig eine Fliege verscheucht, die sich vorlaut an meinem Rucksack zu schaffen gemacht hat.
Doch den Platz getauscht. Schreibe nun am Tisch, ist einfacher. Es könnte wärmer sein, aber ich wollte nicht länger auf dem Zimmer sein. Klappse liegt weit weg. Da liegt sie gut. Am liebsten würde ich sie da auch lassen. Ich will nicht zurück, will etwas Neues. Suche und brauche Ruhe und Entspannung. Will diese verrückten Geschichten nicht mehr hören, machen mich alle. Will raus aus dem Molloch. Vielleicht ein Haus am See? Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Wind kommt auf, Spaziergänger mit Hund. Schurrmurr. Miniaturen. Gedanken befreien, Stoffstückchen und Worte sammeln. Piratenflagge. Hau ab und lass mich in Frieden. Scheiß Töle. Auto fährt vorbei, Mülleimerdeckel schlägt zu, Vogel zwitschert. »Trinkpause, Keks essen.« Aber nicht hier an meinem Tisch, Gott sei dank! Pferd am Strand, reitet weg. Boot am Horizont. Gebell macht die Idylle kaputt. Menschen mit Hunden glauben, es sei normal und in Ordnung, wenn ihre Köter das tun. Der Kleinste ist der lauteste. Die Blonde war auch schon mal da, wählt aber eine andere Bank. Er kläfft weiter. »Ihr Hund freut sich auf das Meer«, wenigstens einer. Boah, ist das ein dämlicher Kläffer, hoffentlich ersäufst du.
»Ich habe Hunger«, schreit ein Blag. Ihr hättet auch gerne einen Tisch? Hahaha, leider bereits besetzt.
Mistdreck, da kommt noch einer. Man könnte fast meinen, ich bin am Hundestrand.
Nie bin ich alleine, irgendwas ist immer. Lasse die Gedanken fließen, zensiere sie nicht, sortiere sie nicht. Brauche Worte, Sätze, Ideen und Anregungen.

Klotz packt aus, Klotz räumt ein. Er sitzt da, starrt aufs Meer, will raus aus seinem Alltag, der ihn belastet, den er nicht mehr verarbeiten kann. Er sucht nach Auswegen und Lösungen, findet aber keine, dafür Krach und Hundescheiße. Es muss weitergehen, ohne Pause! Unsicheres Gegickere. Blond und blind. Wellen, Vögel.

Klotz kommt einen Moment zur Ruhe, lauscht den Geräuschen, fühlt sich wohl. Kalt zwar, aber er ist am Meer. Wo alles anders ist.

Der Kugelschreiber scheint bald aufgeben zu wollen. Einen Neuen zu kaufen scheidet aus, wo doch zu Hause die ganze Schublade damit voll ist. Die Füße auf den kleinen Absatz unter dem Tisch gestellt. Unter den geht aber auch. Da ist sie wieder, die Blonde. Bewegt sich, stellt sich in die Sonne, hinterlässt Fußspuren im Sand.

Klotz muss mittendrin sein, um schreiben zu können. Schreiben! Welch wunderbares Tun.

Sie schaut mich an, Ü40, wirkt dennoch verspielt, enge Jeans, debil? Nimmt ihr Rad, schiebt es an die Straße. Wieder fast alleine an meinem Schreibplatz. Eigentlich ist es zu kalt, Finger frieren trotz Handschuhen. Dehnungsübung am Geländer. Jetzt das andere Bein, ich könnte das nicht. Einen Kugelschreiber habe ich schon weggeworfen. Schade, dass ich mit die Anfangszeit des Schreibens nicht notiert habe, wäre gespannt. 45 Minuten noch bis zum Mittagessen. Hähnchenfilet Toskana oder so. Freue mich auf Wärme. Auto hält, Türen schlagen. Eindrücke aufnehmen, staccatoartig festhalten. Stoffmuster, Nähproben, einfädeln, sonst entsteht keine Geschichte. Was?! Geht weg, will nicht reden, will euch nicht zuhören. Brauche Flow, halte ihn aufrecht. Muss das tun. Muss es wegschreiben, damit Gedanken weg sind. Lila Mütze. Noch eine, dafür mit Puschel. Karopapier oder doch lieber Linie? Ich oder der Kugelschreiber? Wer von uns beiden gibt zuerst auf? Lange kann es nicht mehr dauern. Unzensiert sein dürfen. Das ist mir wichtig. Stehenlassen können. Weg ist die Aufwärmerin, gut so, Dummbatze. Hat mir nur den Blick aufs Meer verstellt. Vielleicht ist dem Kuli auch zu kalt. Sollte ich später mal googeln oder vorsorglich nach einem anderen die Augen offen halten. In der Sparkasse einen klauen, umlagern. Stehen da oben immer noch und quatschen. Haben die kein Zuhause? Schwarzer Van. Muss nun los, will nicht stoppen, friere aber durch. Rücken, Nase, zu kurze Socken. Fetter Arsch mit Rucksack. Laterne, schief, sieht sozialistisch aus.
»Warte, Papa will noch die Jacke zumachen!« Ja, dann mach doch und halt das Maul!
Paradoxerweise hätte ich nichts zu schreiben, oder weniger, wenn die Idioten nicht hier wären. Endlich verschwinden die Tratschtaschen. Das Kind weint.
Ich gehe meinen Weg zurück.

Verraten und verkauft

Der Wind pfeift mir um die Ohren und packt die riesigen Kiefern am Gemächt. Es knackt und knarzt, es stöhnt und ächzt wie in einem Altenheim. Der Himmel ist dick und düster, die Wogen drohen jedem, der sich ihnen nähert, mit der eisigen Faust des Neptun und der Strand wird wütend durchgeschüttelt. Immer wieder peitscht mir die kalte Gischt ins Gesicht und gefriert zu bizarren Stalaktiten in meinem Bart.
Ich kämpfe mich verzweifelt durch das Unwetter und suche Schutz an einem Buswartehäuschen, das die städtischen Verkehrsbetriebe wegen der Ökobilanz und Nachhaltigkeit bereits vor Monaten abgebaut haben. Ich überlege, ob sie wenigstens die Haltestelle nach mir benennen und einen Gedenkstein aufstellen würden, wenn ich jetzt erfriere. »Hier verstarb unser letzter und einziger Fahrgast. Wir bitten, die Verspätung zu entschuldigen.« Das würde mir schon reichen, ich bin da nicht besonders anspruchsvoll.

Dabei hätte ich es wissen müssen, nichts kriegen sie hin, diese Grünen.
Noch nicht einmal den Winter können sie abschaffen, oder wenigstens die Gezeiten.

Wollnashorn

Manchmal ist der Schlüssel einfach verschwunden. Die Tür bleibt zu, wie vernagelt und verrammelt. Dann stecke ich in meinem Kopf fest und komme nicht mehr heraus. Alleine mit meinen Gedanken bin ich eingesperrt in einer schwarzen Höhle. Einmal am Tag geht unten an der Tür eine Klappe auf und ein Tablett mit einer lieblos zusammengeschusterten Mahlzeit aus Pappmaché und Hirse wird hindurchgeschoben. Meist sitze ich schon lange vorher kerzengerade davor und warte. Nicht um des Essens willen, nein, das ist es nicht wert. Ich warte darauf, dass durch den schuhkartongroßen Spalt für einen Augenblick etwas Licht in die Finsternis fällt und ich endlich weitermalen kann. Mein Wollnashorn muss fertig werden!

Anbeginn

Am Anfang war ein Wort. Es stand da und wartete, als käme bald ein Bus mit anderen Wörtern vorbei. Eigentlich hoffte es genau das, denn dann wäre es nicht mehr so alleine. Es hätte sich schon über einen bestimmten Artikel gefreut.
»So ein Artikel klingt irgendwie wichtig«, sinnierte es verträumt.
Doch selbst mit einer einfachen Präposition wäre es zufrieden gewesen und überlegte, welche am besten zu ihm passen würde.
»Am Wort«, hob es schließlich mit sonorer Stimme an, »liegt es, einen spannenden Text zu erzählen. Einzig am Wort, nicht am Komma!«
Und wie es sich so reden hörte, da schwoll ihm vor lauter Stolz die Brust. Es wuchs und wuchs über sich hinaus. Überall ploppten alsbald neue Buchstaben auf, tanzten herum, formierten sich zu Zeilen und Seiten. Ganze Romane kamen und gingen.
Und da wusste es genau: Am Anfang war das Wort.

Feierabend oder: Homage to Loriot

Mitten im Wald an einem Teich liegt mein liebstes Einod. Weit und breit sind keine Menschen zu sehen oder zu hören. Ein Blatt trudelt durch die Luft, fällt staunend ins Wasser, hinterlässt kleine Kreise auf der Oberfläche und kichert leise. Eine Ente schimpft, weil ich nichts zum Füttern dabei habe. Dicke Wolken hängen grollend am Himmel und warten darauf, dass ich endlich wieder verschwinde. Der Rest ist Stille.
Hier ist alles so leicht. Ich muss nichts tun, keine Ansprüche oder Anforderungen erfüllen, niemanden retten. Nicht zuhören und nicht reden. Ich darf einfach nur hier sitzen, ohne Mantel oder Illustrierte.

Finitum

Manchmal gibt es Tage, das stresst mich der Alltag. Dann ist mir alles zu viel. Jede Kleinigkeit regt mich auf und ich weiß nicht, wie ich von der Palme wieder runterkommen soll. Und so gehe ich abends mit meinen Gespenstern schlafen und stehe am nächsten Tag wieder mit ihnen auf. Ich weiß einfach nicht, was ich dagegen unternehmen soll. Ich könnte brüllen und schreien vor Wut, ich könnte stampfen und toben. Sicher würde mir saufen und rauchen helfen, aber aus Erfahrung weiß ich: Das funktioniert nur kurzzeitig. Ich bin also mit meinem Latein am Ende. Mit den Nerven auch.
Aber vielleicht sollte ich mir eine Modelleisenbahn kaufen und fortan das ruhige Leben eines Schrankenbeamten führen. Oder ich gehe zur Post und stempele Briefmarken. Doch wie ich aus erster Hand und gut informierter Quelle weiß, ist das auch kein Zuckerschlecken. Ganz im Gegenteil: Die ewige Verspätung der Bahn oder das fehlende Porto auf dem Maxibrief haben schon so manchen dort in den Wahnsinn oder die Abhängigkeit getrieben. Und eigentlich kann ich dann ja auch da bleiben, wo ich bin.
Ich sage es ja: Das Leben ist ein Irrenhaus.

Unschuldig

Manchmal ist das Leben unübersichtlich und verwirrend. Ich weiß dann weder ein noch aus. Was ich auch tue, es fühlt sich irgendwie falsch an. Besonders suspekt und unheimlich ist mir die Liebe, denn ich kann beim besten Willen kein Muster oder Rhythmus darin erkennen, wer sich wann, wieso, warum und in wen verliebt. Noch viel schlimmer ist es, wenn es mich selbst ereilt. Dann brechen alle Dämme. Meine mühsam geschmiedeten Routinen geraten durcheinander, alles steht Kopf und nichts mehr passt zusammen.
Dabei wäre es ganz einfach, denn, wann immer ich mich so durchgerührt fühle, kann und muss ich davon ausgehen, dass ich verliebt bin.
Eigentlich.
Doch eigentlich brennt es auch nicht beim Wasserlassen. Und trotzdem musste ich als kleiner Junge genau diese verstörende Erfahrung einmal machen, als ich an den Weidezaun gepinkelt habe. Und so stehe ich noch heute dem Wörtchen Eigentlich eher skeptisch gegenüber, denn merkwürdigerweise lösen auch Hunger oder Angst dieses Kribbeln in meinem Bauch aus.
Und genau das ist auch mein Dilemma: Immer, wenn ich einer Frau begegne, weiß ich nicht, ob ich sie küssen, aufessen oder doch lieber weglaufen soll. Ein ums andere Mal führte das bereits zu polizeilichen Ermittlungen, wüsten Beschimpfungen oder Bisswunden.
Ich frage mich anschließend oft, was ich denn diesmal wieder falsch gemacht habe. Wie gesagt: Das Leben ist unübersichtlich und verwirrend.

Am Ende der Wurst

Manchmal sitze ich da und frage mich, was wohl am Ende passiert. Geht dann einfach das Licht aus? Zappenduster sozusagen? Oder kommt da noch was?
Natürlich weiß ich, dass es müßig ist, diese Frage zu stellen, denn die Antwort darauf weiß keiner. Jedenfalls keiner, der Verstand hat. Ich will auch gar nicht wissen, was oder wer konkret auf mich wartet. Es könnte ja meine erste Englischlehrerin sein, Frau Kornfeld, die mich Vokabeln abfragt, hämisch dabei grinst wie ein altes Pferd und sich dann Notizen in ihr rotes Heftchen macht. Oder es könnte der Rotzer aus Haus Nummer 6 sein, der am Torbogen zum Himmelsreich, denn da werde ich wohl hinkommen, steht und lauert und jedem Neuankömmling auf den Kopf spuckt. Zwar hätten genau das manche oder besser gesagt: viele, die ich kenne, weiß Gott verdient, aber selbst der konnte mir nicht wirklich eine plausible Antwort geben. Und dabei hätte ich genau das, und eigentlich nur das, von ihm erwartet. Es ist ja schließlich eine ganz einfache Frage: Gibt es da noch was?
Ich hätte halt nur gerne Gewissheit, ob es lohnt, wach zu bleiben oder am Ende doch nur eine Wiederholung von Dinner for one läuft, ehe der ganze Schlamassel von vorne beginnt und ich Vokabeln lernen muss.

Hokus Pokus

Manchmal macht das Leben viel Wirbel um nichts.

Ein alter Mann pfurzt beim Gehen, Kasse 2 wird geöffnet oder ein Sack Reis fällt um. Wen interessiert es? Das alles ist es nicht wert, darüber zu reden.

Die wichtigen Dinge geschehen in meinem Kopf. Das ist die wirkliche Schaltzentrale der Macht. Alles, was Rang und Namen hat, wird von dort gesteuert. Die Merkel bekommt ebenso ihre Befehle wie der Löw. Und wenn die beiden nicht spuren, kann ich sie auch liquidieren lassen. Ein paar Mal war es schon fast so weit, aber sie haben irgendwie doch noch ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen können. Keiner weiß, wie.

Ehrlich gesagt, ich warte nur noch auf ihren nächsten Fehler, dann sind sie dran. Da kenne ich kein Pardon mehr. Sie haben schon viel zu viel vesiebt, der eine wie die andere und umgekehrt. Ich will und kann da auch keinen Unterschied mehr zwischen ihnen machen. Seit ihrer Affaire werden sie ja auch optisch immer ähnlicher. Ich glaube, sie könnten sich gegenseitig in ihrem Job vertreten und keinem würde das auffallen, noch nicht einmal ihnen selbst.

Und wenn ich mir das so genau überlege, reicht es mir auch jetzt schon. Am besten wird es sein, ich lasse sie gleich zur Fahndung ausschreiben. Dann ist endlich Ruh.

Peng Peng.

Aller Laster Anfang

Irgendwann hat es begonnen. Es war gar nicht so geplant, sondern es fiel mir eher in den Schoß, obwohl ich gar nicht saß. Keiner kann es bezeugen, weil keiner dabei war und ich selbst weiß ja auch nicht, wie und warum es geschah. Auf einmal war es halt da, als wäre es das schon immer gewesen. Und ich war glücklich und zufrieden damit, denn es fühlte sich gut an.

Doch eines Tages war es genauso plötzlich weg, wie es gekommen war. Ich suchte überall, in allen Schubladen, Skizzenbüchern und Schränken, sogar im Keller, in den ich eigentlich wegen der Spinnen nur höchst ungerne hinuntergehe. Ich war verzweifelt, gab Suchanzeigen in der überregionalen Zeitung auf und klebte Zettel an die Laternen in meiner Straße. Aber was ich auch anstellte, es blieb verschwunden.

Erst, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, klingelte es an meiner Tür und grinste mich an, als wollte es sagen: „Da bin ich wieder! Hast du mich vermisst?“ Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte. Wie angewurzelt stand ich einfach da und starrte es an. Es ahnte wohl, dass jetzt nicht die Zeit für belanglose Worte war und schwieg.

Minutenlang geschah nichts. Nur es und ich stumm auf dem Treppenabsatz.

„Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet“, sagte ich schließlich, „aber wenn der Hund tot ist, begräbt man ihn besser!“ Dann nahm ich es ein letztes Mal in den Arm, ging, ohne mich umzudrehen und auf eine Antwort zu warten, ins Haus zurück und schloss hinter mir die Tür.

Mausetot

Es rauscht hin und her, stetig schwappen Erinnerungen in mein Bewusstsein und verschwinden wieder, ohne dass ich sie packen kann. Sie sind flüchtig und staubig wie der Wind.

Manchmal stehen sie deutlich vor mir und ich möchte sie eigentlich gerne loslassen, doch meine Hände umklammern sie, als wollten sie sie erwürgen. Dann zappeln und zucken sie noch ein paar Mal und ringen verzweifelt nach Luft. Am Ende sind sie mausetot.

Manchmal aber ist es auch still in meinem Kopf und ich weiß nicht, was besser ist.

Augenblick

Wenn es um mich herum wieder einmal rundgeht, schließe ich die Augen und beginne in meiner Phantasie zu wandern.
An manchen Tagen auf so einer Reise bin ich 14 Jahre alt und fiebere dem ersten Mal entgegen, an anderen bin ich 52 und wäre gerne 14. Ich kann der Held am Vormittag sein, dann ein kurzes Schläfchen halten und am Abend von einer rothaarigen Fee gerettet werden. Ich laufe durch das endlose Watt, spüre die Sonne auf meiner Haut oder liege im grünen Gras und höre das Laub rauschen. Nichts stört, nichts zwickt oder drückt.

Meistens aber fehlt mir die Zeit zum Träumen. Von der weiten Welt und den kleinen Augenblicken. Von einem Karmann Ghia Cabriolet, einem eigenen Atelier, einem Haus am Meer mit Olivenbäumen im Garten oder von der großen Liebe, die mich noch einmal küsst.
Manchmal, wenn ich daran denke, habe ich Angst, es zu verpassen, weil ich die Augen zu habe. Dann wünsche ich mir, die Erde wäre eine Scheibe, mit einem Zaun am Horizont, damit ich nicht falle.

Grün ist auch nur eine Farbe

Als Klotz eines Morgens über den Gartenzaun guckte, war das Gras dort viel grüner als bei ihm.

»Wie kann das sein«, fragte er sich, wo doch immer die gleiche Sonne darauf schien.

Ihn wurmte das so sehr, dass er begann, auf seiner Seite große Schirme aufzuspannen, die den Rasen gegenüber beschatteten. Doch jede Stunde musste er dazu die schweren Ständer etwa einen Meter verschieben, damit sie ordnungsgemäß ihren Dienst verrichten konnten. Klotz hatte sich extra dafür frei genommen, denn, wenn er etwas tat, dann auch richtig. Bereits um Mittag taten ihm der Rücken und die Hände weh von der ganzen Zieherei und Schieberei und sein Rasen sah aus wie ein Rübenacker bei Borgholzhausen.

Klotz überlegte, ob er sich diesmal nicht doch vergaloppiert haben könnte, und schüttelte innerlich den Kopf, als plötzlich eine Stimme, zart wie ein Butterkeks sagte: »Ihr armer Rasen, er war immer viel grüner als meiner!«

Brennerpass

Österreich. Ein Land voller atemberaubender Berge, Almhütten und Kühen.

Das Schönste aber an Österreich ist, dass auf der südlichen Seite la dolce vita ihre Arme ausbreitet.

Dort, wo die unterrgehende Sonne die Zypressen am Horizont im Wunderkerzen verwandelt, es auf der kleinen Piazza nach Olivenöl und Bruscette duftet und schon die Luft nach Limoncello schmeckt. Dort möchte ich eines Tages auf einer kleinen Bank sitzen, Pfeife rauchen und einen wunderbaren Primitivo trinken.

Selbst, wenn ich dafür erst durch Österreich muss.

Auf der Zielgeraden

Die Katze ist erst dann endgültig im Sack, wenn der Beutel zugeknotet ist. Vorher ist noch gar nichts geschafft. Man kann sie an vier Läufen in die Luft halten und der schwarze Schlund steht sperrangel weit auf, aber dann beißt sie plötzlich und verschwindet aufs Dach, ehe man auch nur ahnt, was gerade geschehen ist.
Diese Erfahrung musste auch Arminia Bielefeld im vorletzten Spiel auswärts beim KSC machen. Nach 20 Minuten stand es 3:0 für den DSC, doch der KSC war eine Katze und entführte, keiner weiß wie und warum, einen nicht mehr geglaubten Punkt in den Tabellenkeller. Wenigstens hat sie nicht gebissen.

Kurz gedacht

Manchmal, wenn er an einem Sommerabend auf der Terrasse eine kleine Melodie summt und der Rotwein dazu tanzt, lauschend und schwindelnd zugleich, nimmt er einen knisternden Zug aus seiner Pfeife und pustet den Rauch in den Mückenschwarm.
»Das Leben ist ein Stohfeuer«, denkt er, »es wärmt dich nur kurz.«

Terrassenblues

Der Tag wird müde, zieht sich schon zum Schlafen zurück, der Himmel kräuselt sich im Wind. Es ist immer noch warm und doch kann er es nicht lassen. Er schlurft mit der schweren Gießkanne von Pflanze zu Pflanze, duscht den Staub ab, stillt ihren Durst. Der Kirschbaum wird es nicht überleben. Unter seinen Ästen im grünen Gras, im Schatten seiner Pracht geschahen ungeheure Dinge. Damals, als dort eine Rutsche stand. Als die Nacht noch wild war, irgendwo am anderen Ende der Welt.

Er setzt sich wieder, dreht das Radio lauter und stopft sich eine Pfeife. Er hat erst spät angefangen zu rauchen, als Tabak längst acht Euro kostete. Grübelnd pustet er den Qualm in das elende Vogelgezwitscher. Diese Biester, die kleinen, verstecken sich überall. Nur manchmal packt sich die Katze eines. Früher fiel ihm alles leichter, das Aufstehen, das Liegenbleiben und das Atmen. Heute muss er nachts zweimal raus aus seinem Bett und alleine in das kalte und dunkle Leben, das schon lange nicht mehr hält, was es ihm in jungen Jahren einmal versprochen hat.

Er nimmt noch einen tiefen Zug und streichelt die Katze.

Wenndann

Manchmal denke ich darüber nach, was ich tun würde, könnte ich in die Vergangenheit reisen.
Tausend Dummheiten würde ich begehen, saufen, Cha Cha Cha tanzen und Haschisch rauchen.
Andererseits, tausend Dummheiten, Tee trinken ohne abzuwarten, engstirnig sein und Nutten besuchen, all das und noch viel mehr, das kann ich jetzt auch schon.

Klotz und die Frauen

Nachts, wenn alles schläft

Manche mochten Klotz für einen schwierigen Menschen halten. Andere hätten ihn am liebsten in einer geschlossenen Anstalt gesehen. Dabei war er ein friedlicher Geselle, der noch nie eine Fliege totgeschlagen hat. Klotz war allenfalls etwas eigen: Er sammelte keine Treuepunkte, hörte deutsche Schlager, züchtete Unkraut in den Fugen des Bürgersteiges und hängte schon am Dreikönigstag ausgepustete Eier in das Apfelbäumchen im Vorgarten. Im Laufe der Zeit hatte er sich sogar angewöhnt, rückwärts zu sprechen und er beherrschte es inzwischen so gut, dass die Leute oft nicht wussten, ob es ein seltener, finnischer Dialekt war oder aber ein heidnischer Fluch. Doch genau das machte ihnen Angst.

Dabei versuchte Klotz nur, das Monster zu zähmen, das sich hinterlistig als Normalität tarnte und überall auf ihn lauerte.

Eines Nachts, als er sich wieder einmal unruhig hin- und herwälzte und im Schlaf Primzahlen murmelte, wachte er erschrocken auf. Erst ganz leise, dann immer lauter hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Panisch sprang er auf, riss seine Jacke vom Haken und strich, ohne zu wissen wohin, durch die Straßen des Viertels. Irgendetwas Unerklärliches und Sonderbares ging mit ihm vor. Er entschlüsselte die Tarifzonen an der Bushaltestelle, studierte die Angebote am LIDL und gaffte durch die Schaufenster beim Bäcker. Er zählte die Autos auf dem Parkplatz und stellte sich vor, wie er morgens auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen würde.

Wieder zu Hause schnitt er sieben Scheiben Fleischwurst ab, eine für jeden Wochentag, und schob sie in einem Napf vor die Tür. Dann legte er sich zurück ins Bett und wartete auf die Bestie. Er war klatschnass geschwitzt.

 

Alles hat ein Ende

Der Sonntagmorgen lag noch müde in den Federn, als es bei Klotz Sturm läutete. Er hatte überhaupt keine Lust aufzustehen, doch da draußen schien jemand zu sein, der genauso hartnäckig und atheistisch war wie er. Nach dem sechsten Klingeln hatte er sich endlich mühsam hochgerappelt und schlurfte in seinen Lammfellpuschen zur Haustür. Gerade, als er durch den Spion lugte, klapperte der Postschlitz und ein roter Umschlag plumpste direkt vor seine Füße. Klotz schauderte, denn der letzte Brief, den er bekommen hatte, war vom Anwalt seiner Frau, die ihm mitteilen ließ, sie wolle sich scheiden lassen, weil er so unemphatisch sei. Seitdem verirrte sich ab und zu bestenfalls eine Speisekarte vom Pizzalieferdienst zu ihm, die er sorgfältig abheftete, nachdem er die Preise in eine Excel-Tabelle eingegeben hatte.

Zögerlich hob er das Kuvert auf und öffnete es.

Mein lieber Herr Klotz, es tut mir leid, Sie in Ihrem gewohnten Tagesablauf zu stören, aber seitdem ich Sie das erste Mal gesehen habe, gehen Sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Noch nie bin ich einem Mann begegnet, wie Sie einer sind. Jedes Mal, wenn Sie an meinem Laden vorbeilaufen, packt mich der Wunsch, sie anzusprechen, doch mir fehlte bislang der Mut. Bitte nehmen Sie mir meinen unbeholfenen Versuch, Sie endlich kennen zu lernen, nicht übel!

 Klotz schluckte und kippte das Flurfenster. Offensichtlich stammten diese Zeilen von einer Frau, wie er aufgrund der geschwungenen, nach links geneigten Buchstaben schloss, die sich wie in einem Strickmuster eng umschlangen.

Verwundert las er weiter:

Darum möchte ich Sie bitten, morgen um 17 Uhr zum alten Marktplatz zu kommen. Und bringen Sie doch wieder etwas von dieser leckeren Fleischwurst mit!

Hochachtungsvoll, G.

  

Abendmahl

Als Klotz am nächsten Tag die Tür öffnete, schüttete es derart, dass er auf dem Absatz kehrt machte, in den Keller ging und seine Gummistiefel holte. Sorgfältig faltete er seinen Hosenaufschlag zusammen, schlüpfte hinein und verschnürte das Bändchen mit einer Doppelschleife. Nasse Füße wären jetzt das Letzte, was er gebrauchen könnte. Dann zog er seinen schweren Dufflecoat an, steckte den Brief in eine Tasche und stülpte sich, bevor er hinaustrat, die Kapuze bis über die Nase. Trotzdem lief ihm das Wasser bereits an der Gartenpforte den Nacken hinunter bis in die Unterhose. Aber er wäre nicht Klotz, wenn er noch einmal umdrehen würde, nur um einen Schirm zu holen oder sich die Anglerhose anzuziehen. Außerdem wollte er sich nicht verspäten, denn er war insgeheim schon ein bisschen neugierig, was die gestrigen, verwirrten Zeilen bedeuten sollten.

Also ging er ungeachtet aller Widrigkeiten zum Metzger und kaufte einen ganzen Kringel Fleischwurst.

Exakt auf die Sekunde um 17.00 Uhr stellte sich Klotz genau in die Mitte des Marktplatzes, das Wetter kotzte sich inzwischen richtig aus. Vom Regen gepeitscht und vom Wind durchgeschüttelt drehte er sich, den suchenden Blick umherschweifend, einmal im Kreis. Doch außer ihm war weit und breit niemand zu sehen. Jeder, der noch ein Fünkchen Verstand besaß, hatte längst die Flucht ergriffen oder irgendwo unter einer Brücke Deckung bezogen.

Nur Klotz stand dort wie gemeißelt eine viertel Stunde lang, den Brief in der einen, die Wurst in der anderen Hand.

Dann zog er die Pelle ab, biss hinein und ging wieder heim.

Das Leben ist eine Parkbank, dachte er, hart und beschissen.

 

 Prost Leben oder: Gesundheit!

Zu Hause angekommen quälte sich Klotz aus den gluckernden Stiefeln, wrang seine Socken aus und ließ sich ein Bad ein, als es an der Tür klingelte.

»Falsche Zeit, falscher Ort«, murmelte er, maß eineinhalb Kappen Schaumbad ab und schüttete sie in den Wasserstrahl. Sofort entstanden weiße, weiche Knisterberge, die sich schnell bis zum Wannenrand auftürmten. Dann legte er ein Handtuch über den Heizkörper, überprüfte gewissenhaft die Temperatur mit einem Thermometer, mischte noch ein wenig Heißes dazu und zog sich aus.

Es klingelte wieder.

Klotz schaltete ungerührt das Radio ein und stieg zunächst mit einem Zeh ganz vorsichtig in die Wanne.

Es klopfte.

Nun wurde Klotz doch nervös, schließlich erforderte diese Prozedur ein Höchstmaß an Konzentration. Kletterte er zu hastig hinein, könnte er sich leicht verbrühen. Dauerte sie hingegen zu lange, bestand die Gefahr, dass die Schaumdecke zusammenfiel und er von vorne beginnen müsste. Es stand also viel auf dem Spiel.

»Ich bin nicht da!«, rief er unwirsch, stellte auch den zweiten Fuß hinein und lauschte. Kaum dachte er, er hätte die bösen Geister tatsächlich mit diesem einfachen Bauerntrick verscheucht, als plötzlich ein milchig-verzerrtes Gesicht am Badezimmerfenster erschien und noch einmal klopfte.

Der nackte Klotz erschrak, taumelte, rutschte, spritzte, ruderte, wankte und schwankte, ächzte, stöhnte, schaukelte und packte im letzten Moment den rettenden Wannengriff.

Dann blickte er unter sich: Die schöne Schaumdecke war völlig zerrissen! Nur noch einzelne, lose Schollen trieben lustlos umher.

»Herr Klotz, ich hatte vor lauter Aufregung doch tatsächlich den Feigensenf vergessen und bin schnell zurückgegangen. Nur deshalb habe mich verspätet! Verzeihen Sie mir?«

Und da geschah es:

Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Klotz auf. Es kribbelte, es kitzelte, es berauschte ihn in einer Art und Weise, die er gar nicht kannte und vor der ihn seine Mutter immer gewarnt hatte.

Aber vielleicht hatte er sich auch bloß erkältet? Man hörte ja so viel!