(überarbeitete Fassung)
Isegrim schleicht durch den Wald. Er ist wieder einmal hungrig.
Seine letzte Mahlzeit ist schon eine ganze Weile her: Er hatte sich eine dumme Gans gerissen, die ihm gedankenlos und schnatternd zu nahe kam. Zack! Und happ!
Jetzt aber knurrt sein Magen so laut, dass er zusammenfährt und sich ängstlich umblickt. War da jemand? Misstrauisch stakt er durchs Unterholz und lugt hinter jeden Baum.
Im Laufe der Jahre ist er ein bisschen grau geworden und das Aufstehen fällt ihm schwer. Abends kriecht er zurück in seine Höhle und schläft oft noch vor dem Ruf der Eule ein.
Vergangene Nacht wälzte er sich wieder einmal unruhig hin und her. Mürrisch und zerknirscht ist er dann aufgestanden. Er ist nicht wählerisch: Was seinen Hunger stillt, das frisst er auch. Dennoch interessieren ihn heute die reifen Beeren an den Sträuchern links und rechts nicht. Ihm steht nach Jagen der Sinn, nicht nach Pflücken. So streunt der griesgrämige Isegrim weiter. Längst hat er sein vertrautes Revier verlassen. Unsicher schaut er sich um und fragt sich, ob er nicht doch zurückgehen soll.
Mit einem Mal erregt etwas seine Aufmerksamkeit. Er spitzt die Ohren und reckt seine Nase in die Luft. Ganz in der Nähe muss ein Feuer brennen. Geduckt schleicht er voran und endlich kann er von einer Anhöhe aus in einer langgezogenen Senke einen Bauernhof entdecken. Sein Magen beginnt, von Neuem zu knurren. Diesmal erschrickt er nicht. Er hat seinen Blick starr auf den kleinen Stall gerichtet. Dort vermutet er eine leckere Mahlzeit, ihm läuft das Wasser im Maul zusammen.
Vorsichtig klettert er aus seinem Versteck und sucht immer wieder Deckung hinter Büschen und Bäumen. Er hat sich bis auf etwa fünfzig Meter herangepirscht, als er auf der anderen Seite den Schweif von Reineke Fuchs erspäht. Er ist ebenso auf der Jagd wie er selbst.
Isegrim hält inne. Er weiß nicht, was er tun soll.
Soll er sich mit Reineke verbünden?
Würde das, was er im Stall erahnt, auch für ein Festmahl zu zweit reichen?
Soll er zurückgehen oder soll er sich auf einen Kampf mit dem jüngeren Widersacher einlassen?
Er kann keinen klaren Gedanken fassen, als er sieht, dass Reineke sich bereits an der Tür zu schaffen macht.
Will der ihm etwa zuvorkommen?
Und soll er wieder hungrig von dannen ziehen?
Nein! Isegrim ignoriert die Gefahr, vom Fenster des Bauernhauses aus gesehen zu werden und springt so laut knurrend und mit großen Sätzen auf Reineke zu, als wolle er den ganzen Schuppen mit Huhn und Hahn mit einem Happs verschlingen.
Reineke Fuchs gerät derart in Panik, dass er jaulend und ohne sich umzudrehen in den nahen Wald flüchtet.
Endlich ist der Weg frei! Heißhungrig öffnet Isegrim das knarrende Tor und schiebt sich hinein. Er merkt nicht, wie der Riegel hinter ihm ins Schloss kracht. Neugierig blickt er sich um.
An der Wand stehen ein paar Garten- und Hofgeräte und eine Schubkarre mit plattem Rad lehnt an einem Balken. In den Fässern sind kein Krümel und kein Korn mehr und von dem zarten Federvieh Henning und Kratzefuß weit und breit keine Spur. Nur im Sonnenlicht, das auf das Stroh fällt, liegen drei weiße Eier.
Isegrim lässt enttäuscht die Rute hängen, denkt an die reifen Beeren im Wald und wie lecker eine dumme Gans jetzt wär‘.
Plötzlich hört er Geräusche und erschrickt.
Es rumpelt an der Tür und jemand spricht: »Endlich habe ich dich!«
Er sitzt in der Falle. Was soll er tun? Bei nächster Gelegenheit würde der Bauer die Tür öffnen und ihn mit seiner Flinte erschießen! Gehetzt schaut er sich um, ob er sich irgendwo verstecken oder ihm ein kühner Sprung durch das Fenster das Leben retten kann, doch das ist vergittert.
Da ruft die Stimme: »Gib mir, was mein ist!«, und Isegrim erkennt, dass es nicht der Bauer ist, der da vor der Tür steht, sondern Reineke Fuchs, der zurückgekommen ist.
»Was meinst du?«, bemüht sich Isegrim mit tiefem Bass zu sagen.
Er muss Zeit gewinnen, er hat immer noch keine Ahnung, wie er aus diesem Stall und aus diesem Schlamassel wieder herauskommen soll.
»Du hältst dich wohl für besonders schlau? Was glaubst du, warum ich hier bin?«
»Vielleicht der fetten Hühner wegen?«, blufft Isegrim.
»Ja, genau! Wie viele sind es denn?«, fragt Reineke.
»Genug für uns beide!«
»Nun sag schon!«, bellt Reineke zurück.
»Komm rein und zähl sie!«, flötet Isegrim, der inzwischen die Schubkarre so vors Tor geschoben hat, dass sie den Fuchs mit ihrem Blechbauch verschlingen würde, sobald er den Stall betritt.
»Damit du mich einsperren kannst, so wie du jetzt selbst eingesperrt bist?«, argwöhnt Reineke, »niemals, mein Lieber! Gleichwohl können wir einen Pakt schließen: Du überlässt mir die Hühner und ich lasse dich frei!«
»Dich soll doch der Jäger holen«, wettert der Wolf.
»Wie du willst. Dann bleibst du eben da, wo du bist!«, antwortet Reineke.
Entsetzt erkennt Isegrim, wie der Fuchs sich anschickt zu gehen.
»Nein, halt!«, ruft er ihm geschwind hinterher, »so gönn mir wenigstens die Eier! Ich bin genauso hungrig wie du!«
Reineke scheint zufrieden: »Also gut. Aber danach verschwindest du!«
Das lässt sich Isegrim nicht zweimal sagen und schlürft hastig die Eier aus.
Als der Fuchs die Tür öffnet, springt Isegrim mit großen Sätzen hinaus und verschwindet in Richtung Wald. Er hat die Lichtung noch nicht erreicht, da hört er Reineke schon toben. Isegrim schaut sich um und sieht, wie der betrogene Fuchs wütend die Schubkarre umstößt, die Fässer zertrümmert und das Stroh in die Luft wirft.
Lange bevor Reineke den Schuss hört, erblickt er den Bauern mit der Flinte. »Jetzt habe ich dich endlich!«
Der Fuchs lässt versteinert den Schweif hängen, denkt an die frischen Eier im Nest und wie lecker ein zartes Huhn jetzt wär‘.
Dann ist es still.
(Orginalfassung als Audiodatei)
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