Warum ich den Rattenfänger erschoss

Ich gebe es zu: Ich habe Angst vor Flöten. Der Psychologe nennt das Aulophobie.

Wenn ich nur an Flöten denke, stellen sich mir die Nackenhaare auf. Schon ein einziger Ton aus diesem löchrigen Langstock dringt mir bis ins Rückenmark und löst  einen optischen Tinnitus aus. Das fühlt sich an, als hätte man eine Flöte im Auge. Obendrein frieren temporäre Lähmungen meine Motorik ein, das ganze System fährt herunter. Da geht nix mehr mit meinen sonst so flüssigen und eleganten Bewegungskoordinationen, die sonst die Leute am Straßenrand in Staunen und Entzücken versetzt haben. Ich stake nur noch holzbeinig und hilflos wie der Bofrostmann im Tanzkurs herum.  Angst und Bange beschreiben die Reaktion der Umherstehenden jetzt besser und treffender.
Also meide ich alle Orte, an denen mir Flöten in irgendeiner auch nur erdenklichen Form begegnen könnten.

Ich mache einen großen Bogen um meine Küche, wo der Wasserkessel bedrohlich auf dem Herd darauf wartet, jeden Augenblick sein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert zu beginnen. Stattdessen hole ich mir lieber einen To- go- Kaffee an der lautesten Kreuzung der Stadt.

In die Kirche traue ich mich schon lange nicht mehr, seit in der Weihnachtszeit einmal eines dieser unsäglichen Flötenorchester aus völlig unmusikalischen Grundschulkindern im Zahnwechselalter die Empore fast zum Einsturz gebracht hätten. Ich kuschele mich stattdessen lieber wieder in meine Daunendecke und drehe mich noch einmal um.

Außerdem mache ich einen weiten Bogen um jede Musikalienhandlung und auch Einkaufsstraßen mit chilenischen Panflötisten kann ich nur mit aufgesetzten Kopfhören und Iron Maiden auf 110 dB passieren. Da bestelle ich doch alles lieber im Internet und lasse es mir dann nach Hause liefern. Und wehe die dumme Sau von Postbüttel klingelt.

Auch auf jeder Scheißlauffläche für Köter zucke ich sekündlich zusammmen, denn selbst die angeblich unhörbaren Hundepfeifen schrillen in meinen Ohren wie eine Schiffssirene. Ich sympatisiere daher eher mit Katzen, die kacken wenigstens in die Ecke.

Es gibt sogar ganze Orte, die kann ich nicht bereisen: Ferna zum Beispiel mit dem Flöte spielenden Stadtwappenengel oder die Windflöte bei Bielefeld. Nun, das ist sicher nicht weiter schade, aber ich kann auch keinem Spielmannszug in igendeiner anderen Stadt beiwohnen. Und selbst auf der Arbeit, sonst ein herrlich unmusikalischer Verein, sehe ich nur Blockflötengesichter.

Und so geschah es dann eines Tages, dass ich in Hameln den Rattenfänger während eines akuten Krankheitsschubes als mein Feindbild schlechthin auf offener Straße einfach erschoss. Es tut mir auch leid.

Was mir aber wirklich fehlt, das ist der Fußball. Ich kann nicht mehr ins Stadion gehen und schaue nur noch stumm die Sportschau. Das ist verdammt hart.
Wenn ich es mir so recht überlege, vielleicht sollte ich einfach drauf pfeifen.

Von Tag zu Tag

Manchmal dringen Gedanken in meinen Kopf, die meine Hirnplatine nicht verarbeiten kann. Die internen Lötstellen beginnen dann langsam zu kokeln und zu schmorgeln und schließlich platzen sie ab. In der enormen Stauungshitze schmilzt mein Mandelkern, es riecht nach koagulierten Besenreisern. Meine Sinne trüben schlagartig ein und alle Bewegungen fallen mir schwer wie dem Papst der Gangnam- Style. Meine Arme hängen nutzlos am Körper herab und meine Beine sind taub und wie von Ameisen zerfressen. Ich will mich nach vorne aufs Sofa kippen lassen, verfehle es aber mangels Steuerungsfähigkeit meilenweit, schlage wie ein Brett auf den Flokati und verschwinde in metertiefen Wollbüscheln. Dankbar stelle ich fest, dass ich nicht mit dem Gesicht in die Katzenbürste gedonnert bin, die mir schon während des Fallens bedrohlich ihre spitzen Stahlfäuste zeigte, ich jetzt aber unentwegt anstarren muss. In ihrem dichten Haarteppich klettern Flöhe wie Affen von Ast zu Ast oder spielen Packen. Sie scheinen so nahe zu sein, dass ich sie mit meiner Zunge vertreiben könnte. Bei dem Versuch, es zu tun, durchtränkt warmer Speichel den linken Pulloverärmel unter meinem Kinn. Es klebt und matscht bereits wie im Keller einer griechischen Kantine und das Wasser steigt immer höher. Mein inneres Auge schickt sofort elektrische Hilfssignale an die völlig zerstörte Kommandozentrale in meinem Inneren. Dort aber läuft nur noch ein alter mechanischer Zuse- Rechner, der den Code des digitalen SOS nicht aufschlüsseln kann und den rudimentären Not- Impuls „Nasale Inhalation“ zurücksendet. Die Primatenbande sucht noch verzweifelt Halt, ehe sie der Sog meines Rüssels in das dunkle Wurmloch saugt. Es zischt und brodelt kurz wie bei einem spuckeüberlaufenden Klammerkind, dann ist es vorbei. Der Flokati steckt halb in meiner Nase und ich frage mich, was ich wohl morgen machen werde.

Hölle auf Erden

Als wir endlich unsere Hütte erreicht hatten, dämmerte es schon. Mit einem Ruck stieß Opa die knarzende Tür auf, das Feuer war längst aufgebrannt und es war bitterkalt. Opa brach den letzten Stuhl entzwei und legte das Holz auf die blasse Glut, nach ein paar Minuten züngelten kleine Flammen empor. Dann nahm er einen Topf, füllte ihn draußen mit Schnee, stellte ihn auf den Küchentisch, schnappte sich den Hasen, drückte mir die hinteren Sprünge in die Hände und griff nach seinem Messer.

„Heb hoch!“, raunzte Opa. Zitternd hob ich den toten Meister Lampe mit ausgestreckten Armen in die Luft.

Dann setzte Opa die Klinge an. Ich kniff die Augen zusammen und hörte das Geschlinge in den Schnee platschen. Kaltes Blut spritzte auf mein Gesicht und etwas Warmes lief mir die Beine hinunter. Ich begann zu taumeln.

Scheppernd hing Opa den eisernen Bottich an einen Haken über das Feuer, „wisch das weg“, sagte er und warf mir einen Lappen vor die Füße, „und dann geh schlafen. Wir müssen früh raus!“

Am nächsten Morgen war Opa Slavko schon wieder auf den Beinen, als ich erwachte. Mein banger Blick fiel auf die Feuerstelle, wo der Topf gestern noch lange bedrohlich baumelte und quietschte. Jetzt stand er leer auf dem Sims. Erleichtert atmete ich aus. Draußen vorm Haus hörte ich eine Axt Holz spalten, dann schlug sie ein letztes Mal in den Stamm und Opa kam mit einem Korb voller Scheite wieder herein.

„Hast du schon gefrühstückt?“, fragte er barsch.

Ich schüttelte ängstlich den Kopf. Opa griff in seine Manteltasche, holte ein Stück trockenes Brot heraus und reichte es mir. „Pack alles zusammen, was du brauchst. Ich bringe dich ins Dorf zum Pfarrer. Hier kannst du nicht bleiben!“

Mir blieb der Bissen im Halse stecken und ich starrte ihn erschrocken an. „Nicht zum Pfarrer!“, flehte ich, „die Leute erzählen, er stecke mit dem Teufel unter einer Decke!“

„Unsinn! Er ist ein alter Säufer und Schwätzer, aber ein gerechter Mann. Nach dem Winter hole ich dich wieder ab, und gnade ihm Gott, wenn er dir ein Haar krümmt! Dann reiße ich ihm persönlich den Kopf ab!“

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier , hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Der Müller und die undankbaren Esel

Es war einmal ein rechtschaffender Müller, der hatte drei Esel, einen Faulen, einen Frustrierten und einen Fetten. Der faule Esel blieb schon morgens einfach liegen, der Frustrierte zählte immer wieder seine grauen Haare und der Fette fraß von früh bis spät. Dennoch kümmerte sich der Müller um sie, so gut er konnte, und obwohl sie ihm nicht von Nutzen waren, verlor er nie ein böses Wort über sie.

An einem Abend aber ging der Müller noch einmal zum Stall, um den Eseln frisches Stroh und Wasser zu bringen, weil er es am Tag vor lauter Arbeit versäumt hatte. Als er vor der Türe stand, da hörte er, wie sie ihr schlechtes Leben beklagten. Ihm sei so langweilig, stöhnte der Erste. Der Zweite schimpfte, sogar die Zebras hätten Streifen und der Dritte schmatzte, das Futter mache dick. Da fasste der Müller einen Entschluss und schlich sich wieder ins Haus.

Gleich am nächsten Tag führte er die drei Graurücken ins Dorf auf den Markt. Den faulen Esel verschenkte er an einen Wanderzirkus, den frustrierten Esel tauschte er bei einem Schrankenwärter gegen ein altes Kursbuch der Deutschen Bahn und den Fetten verkaufte er dem Koch des Königs.
Zufrieden kehrte der Müller in seine Mühle zurück, mahlte ein Dutzend Säcke Korn, schaute noch einmal in den leeren Stall, lächelte und ging zu Bett.

In dieser Nacht stand der Mond schon hoch am Firmament, als die Zirkuswagen endlich stoppten und der faule Esel angeleint wurde. Seine Hufe schmerzten ihm von dem weiten Weg und er war müde. Er wollte sich schlafen legen, aber der Boden war hart und kalt, und der wilde Wind wirbelte Stock und Stein hin und her, dass es nur so krachte.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Auch der frustrierte Esel konnte nicht schlafen. Jede Stunde schnaubte ein tonnenschwerer Dampfzug an dem kleinen Bahnhäuschen vorbei. Der Kessel qualmte, die Räder ratterten, schaurige Schatten tanzten über die wackelnden Wände und dicker, dunkler Rauch fraß gierig alle Farben auf. Der Esel hustete, kniff die Augen zu und zitterte am ganzen Leib.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Dem fetten Esel erging es auch nicht besser als seinen beiden Verwandten. Der Koch hatte ihn eigentlich sofort schlachten wollen, aber der Narr des Königs band eine Möhre an einen Faden, knotete das andere Ende an seinen Schellenstab und lockte das Giermaul in den Thronsaal. Dort saß der König mit seinem Hofstaat bei einem Festmahl. Als der Esel das frische Obst und die vielen Leckereien auf den langen Tischen sah, lief ihm das Wasser im Maul zusammen und er glaubte, er sei eingeladen mitzuessen und wollte sich setzen. Aber die feine Gesellschaft verhöhnte und verspottete ihn und jagte ihn zum Tor hinaus.
Hungrig lag er nun am Teichufer, sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Das Jahr wechselte die Farben und auch der nächste Sommer kam und ging. Die große Ernte war eingefahren und der Müller hatte viel zu tun. Als endlich alles Korn gemahlen war, lud er die schweren Säcke auf seinen Karren, schnürte sich ein kleines Proviantpaket und machte sich auf die lange Reise zum Markt.

Auf halbem Wege kam er an einer Wiese vorbei. Ein Zirkus brach grade seine Zelte ab, tannengroße Männer stemmten riesige Stoffrollen auf einen Wagen, ein klitzekleiner Kerl brüllte Kommandos und bunte Vogelfrauen führten Pferde in ihre Boxen. Der Müller blinzelte gegen die Sonne und schaute dem munteren Treiben eine ganze Weile zu, als er schließlich den faulen Esel erblickte. Er lag im schmutzigen Staub und starrte in den Himmel.
Da ging der Müller zu ihm, streichelte sein Fell und sagte: “Steh auf, du alter Esel und hilf mir, ich habe viel zu tragen!”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Zirkusdirektor den Preis, den er verlangte, spannte den faulen Esel vor den Karren, teilte seinen Proviant mit ihm und so marschierten sie los.

Es war längst Nachmittag geworden, als sie an ein kleines, verrußtes Bahnhäuschen kamen. Sie hielten an und lauschten den seltsamen Klängen aus der Ferne, als sich plötzlich scheppernd die Schranken senkten. Der Boden begann, laut zu grollen und zu grummeln und dichter Qualm hüllte sie ein. Der Müller und der faule Esel klammerten einander fest und wagten kaum zu atmen, als mit einem Mal ein Eisenross mit glühenden Augen fauchend an ihnen vorbeidonnerte. Erst nach langen, bangen Minuten war der Spuk beendet und es wurde wieder hell um sie herum. Sie schauten auf und da stand vor ihnen auf dem Weg der frustrierte Esel mit gesenktem Kopf.
Als der Müller ihn erkannte, ging er zu ihm, klopfte sein Fell sauber und sagte: “Sieh nicht alles so schwarz, du alter Esel und hilf uns, das Mehl zum Markt zu bringen.”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Schrankenwärter den Preis, den er verlangte, stieg auf des frustrierten Esels Rücken, teilte seinen Proviant mit ihm und so trotteten sie zu dritt weiter.

Schließlich gelangten sie zum Schloss des Königs. Ihre Reise war anstrengend, der Durst plagte sie und so beschlossen sie, im Park ein wenig zu rasten und sich am Teich zu erfrischen. Als sie nun auf dem Steg saßen und verschnauften, kam mit einem Mal der fette Esel aus dem Dickicht gradewegs auf sie zugestoffelt. Er schmatzte und kaute auf einer Rübe herum. Der hölzerne Anleger bog sich bedrohlich in der Mitte durch, er knackte und knarzte, er schwankte und schaukelte, ehe er vollends entzweibrach. Der Müller und die beiden Esel konnten sich noch mit einem beherzten Sprung ans Ufer retten, der fette Esel aber platschte wie ein Komet ins Nass. Entsetzt schrie und strampelte er um sein Leben. Mit vereinten Kräften gelang es den drei Wanderern, ihn an Land zu ziehen. Japsend rang der fette Esel nach Luft und das Wasser triefte nur so aus seiner grauen Mähne. Erst jetzt erkannte er, wer ihn soeben vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
“Guter Müller”, flehte er, “nehmt mich mit. Ich kann in diesem Schlosse nicht länger sein. Der Koch will mich schlachten und zu Salami verarbeiten, sobald ich fett genug bin!”
“Alles, was recht ist, lieber Esel”, antwortete der Müller, “der Weg ins Dorf ist nicht mehr weit. Wenn du unseren restlichen Proviant trägst, dann will ich wohl mit dem Koch reden.”
Der fette Esel jedoch schüttelte nur mit dem Kopf, “das ist mir zu schwer, das schaffe ich nicht!”
Da ging der Müller zu ihm, streichelte ihm über das Fell und sagte: “Wenn du bleibst, wie du bist, wirst du nicht werden, wie du möchtest, du sturer Esel!”

Sodann gab der Müller seinen beiden Gefährten ein Zeichen, jeder schulterte sein Gepäck und sie zogen weiter ihres Weges.

Der faule und der frustrierte Esel aber halfen dem Müller fortan, wo sie nur konnten und verloren nie wieder ein schlechtes Wort.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Dreckstage

Manchmal geht es mir richtig gut. Dann läuft die Welt rund und nichts wirft mich aus der Bahn. Der Tag ist hell und warm, die Menschen, denen ich begegne, grüßen mich freundlich. Das Radio spielt Herrenmagazin und ich bin mit der rechten Spur auf der Autobahn zufrieden. Ich pfeife La Paloma an der gelben Ampel, der Basilikum blüht und die Waschküche steht still. Der Papst macht Mittagsschlaf und die deutsche Bank zahlt eine Rekorddividende aus.

Doch manchmal schlingert mein Gemütsglobus wie Bischöfin Käßmann durch Hannover. Dann schmeißt mir das Leben Zitronen ans Fenster und zieht mich an den Haaren. Der Rasen wächst in einer Nacht bis unter die Achseln, das Sommergewitter schwimmt im Cabriolet und das Klopapier ist alle. Das ist sicher kein literarischer Moment, das ist scheiße.

Übergangsbinde

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6) und Gesichtsyoga (Kapitel 7)

Es dämmert schon, als wir schweigend zurück fahren. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Längst glaubte ich, Ayse vergessen zu haben. Zumindest wollte ich das so, seit ich sie im letzten Herbst einmal an der Kasse im dm- Markt getroffen habe. Wir haben lange süß geplaudert, bis ich bemerkte, dass sie eine große Packung Kondome mit Fruchtgeschmack und ein Döschen Kieselsäuretabletten auf das Band legte. Ab da war es mit der Träumerei aus und vorbei, vergessen und verloren. Nie wieder. Ich brachte keinen Ton mehr heraus und knallte stumm den Trennstab hinter ihre Lustartikel. Verzweifelt griff ich nach einem Karton Slipeinlagen aus dem Sonderangebot und legte es zu meinen Nasenhaarschneider, der Zahnseide und der Anti- Grau- Tönung. Ohne auf mein Wechselgeld zu warten, verließ ich den Ort der trügerischen Eitelkeiten. Aber jetzt merke ich, dass Ayse mir doch wieder durch den Sinn huscht. Tausend kleine schillernde Momente fallen mir ein. Wie ihre dunklen Augen funkeln, ihr Lachen strahlt oder sie ihre langen Haare zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand zwirbelt. Ich denke an die kleinen Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lacht. Die Luft flimmert zart und ihre Nasenflügeln vibrieren ganz sanft, wenn sie spricht. Ich blicke zu Murat und muss husten. Er raucht schon die dritte steuerfreie Tabakfackel, die er Stangenweise von Renzo kauft. Das Zeug qualmt wie ein isländischer Vulkan, die Sicht ist schlecht. Plötzlich taucht dicht vor uns eine riesige Gemüsepfanne in dem Nebel auf. Murat stampft mit beiden Galoschen auf das Bremspedal, reißt hupend das Lenkrad herum und flucht wie ein betrogener, arabischer Kamelhändler. Dann prügelt er ohne zu kuppeln knatschend den zweiten Gang rein und treibt unsere Droschke auf der linken Spur Zentimeter für Zentimeter an den Tiefkühlwagen heran. Aug in Aug mit dem Bofrostmann rauscht er an unserer Ausfahrt vorbei. Ich wische die Scheibe frei.

Über eine schier endlose Landstraße fahren wir nun durch dichten Nebel. Ich suche nach Lichtpunkten in der Dunkelheit, doch selbst die Scheinwerferkegel unseres Rapids werden nach etwa zwei Metern unbarmherzig wie von einem riesigen, schwarzen Maul verschluckt. Die Tankanzeige ist schon lange im zweiten Untergeschoss angekommen und blinkt hektisch. Die Chance, lebend gefunden zu werden, wenn uns jetzt der Sprit ausginge, gleicht einer homöopathischen Hochpotenz. Ich taste nach dem Reservekanister hinter meinem Sitz, um festzustellen, dass ich ihn im Heizungskeller vergessen habe. Nervös hält Murat auf einer kleinen Anhöhe an. Ich drehe das Radio stumm, gehe nach hinten, setze mich auf die Laderaumkante und lausche Minuten lang mit spitzen Ohren der Finsternis. Hier und da glaube ich, etwas zu hören, aber es ist zu weit entfernt um herauszufinden, was es ist. Mit einem Mal werden die Geräusche lauter. Es ist, als habe jemand eine Tür geöffnet. Schweres, dumpfes Grollen wabert zu uns herüber. Dann erkenne ich den Rhythmus: Es ist Smoke on the water von Deep Purple! Ich peile den Kurs der Musik an, aber das ist hoffnungslos unter diesen Bedingungen. Vorsichtig lässt Murat den Wagen den Hügel hinunter rollen, es gibt eh nur zwei Richtungen: Die, aus der wir gekommen sind und die, in die wir fahren. Wie beim Blinde Kuh- Spiel tapsen wir voran, der lauter werdenden Musik entgegen. Nach endlosen Minuten, die langsam wie Adventssonntage im Nieselregen verrinnen, biegen wir auf einen Schotterparkplatz ein und stellen den Wagen ab. An einem Gebäude flackert im staubigen Fenster blass- grau ein Open– Schild, Fetzen von Child of vision wehen uns entgegen. Wir gehen hinüber, öffnen die Tür und betreten einen zum Bersten gefüllten Wirtsraum. Dichte Rauchschwaden schlagen uns entgegen. Wir schieben uns durch das Menschengetümmel, quetschen uns nahe der Theke zwischen tump dreinblickende Treckerköpfe und blicken uns stumm um. Tropfkerzen verhüllen Flaschen mit grotesken Mänteln, Kunstblumen blühen wie frisch verliebt und Häkeldeckchen auf den verharzten Tischen erstrahlen in Persilweiß. Graue Greise gehen hüftsteif die steilen Stufen zu den moosgrün gefliesten Toiletten hinab und kommen als windelnasse Jungspunde wieder herauf. Es wirkt, als seien die, die noch Frittenfett im Tank ihres Strich- 8er hatten, heute Abend in die Stadt gefahren. Alle anderen sind noch hier: der Horn bebrillte Bürgermeister in Cordhose, der blasse Vorsitzende der Taubenzüchter, der pralle Schatzmeister vom Kaninchenzuchtverein „Deutsche Riesen“, die gesamte örtliche Bewegungssportgruppe -Abteilung Ausdruckstanz- und die aktive Frauengemeinschaft von den Weight Watchers. Erinnerungen an den wild gewordenen Mob auf der Messe werden in mir wach. Auf einer kleinen Bühne spielt eine Band guten, alten Rock. Und wir mittendrin.

„Was trinkt ihr?“, fragt uns eine blondierte Zapfhenne hinter dem Tresen, die nach Tosca riecht. „Ein Guinness“, schreie ich durch den Bassdschungel. „Was ist das denn? Das kenne ich nicht!“ „Dann bring mir ein Pils. Habt ihr das?“ Ich warte nur noch darauf, ein Wicküler zu bekommen und in DM bezahlen zu können. Kurze Zeit später stellt sie mir einen großen Glashumpen auf den Tisch und für Murat ein Wasser, er muss ja noch fahren. Sie macht ein X und ein U auf den Deckel. „Habt ihr auch was zu essen?“, frage ich sie. „Da musst du hinten raus, da wird gegrillt!“ Draußen ist nicht viel los, eine Frau in weißer Kittelschürze hinter einer Biergartengarnitur dreht grade Würstchen und riesige Fleischlaken um. Ich bestelle eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. „Hausgemacht“, wie sie extra betont. Bei der  Portion, die ich bekomme, hätten selbst alle Hunde aus dem Tierasyl noch mitessen können und wären satt geworden. Mit einem Wagenrad großen Teller gehe ich wieder hinein. Murat ist eingeschlafen, die Band spielt Dr. House is dead und ich frage mich, ob er an der Portion gestorben ist oder ob er hier vor Ort erschossen wurde, weil er nicht aufaß? Ich nehme grade den letzten Schluck von meiner obergärigen Kaltschale, als mir Tosca schon das nächste Einmachglas vor die Nase setzt.

Am nächsten Mittag bricht die Sonne grell durch die Ritzen der Jalousien und zeichnet Streifenmuster auf die vergilbte Blumentapete der Wirtsschänke. Ich schäle mein schmerzendes Knautschgesicht von der klebrigen Tischplatte und blicke auf. Anscheinend hat die Party gestern noch lange getobt. Überall liegen umgeworfene Stühle herum und leere Flaschen rollen über den Boden. Im Humpen vor meiner Nase ist eine Pferdebremse ertrunken, auf meinem Deckel stehen jetzt fünf X und ein U. Durch die offene Tür sehe ich die Metzgersgattin auf der Terrasse den Grill schruppen. Ich stoße Murat an, der mit einem Ohr im Kartoffelsalat auf meinem Teller liegt. „He“, rufe ich entrüstet, „wer soll das denn noch essen?“ Die Fleischersfrau schaut misstrauisch herüber, schnappt sich einen Reisigbesen und marschiert entschlossen auf uns zu. Schnell schiebe ich Murat den Deckel unter die Nase, „zahl du schon mal, ich warte am Auto auf dich!“ Grade als ich mich draußen an einer Konifere vorm Eingang erleichtere, stürmt Murat heraus. Die eine Hand umklammert eine verstaubte Flasche Chivas Regal, die ich eben noch hinter der Theke glaubte gesehen zu haben, und die andere einen original Atika- Aschenbecher, mit dem er den ganzen Abend geliebäugelt hat. Meine Augen leuchten. Schweren Schrittes trommelt die geprellte Kittelschürze hinter ihm her, ihr Atem rasselt wie Hui Buh in Ketten. „Schnell“, ruft er, „der letzte Bus fährt!“ Mühsam verstaue ich mein Gemächt, wische mir die Hände an der öligen Hose ab und springe auf den Beifahrersitz, als auch schon der Feudel gegen die Hecktür donnert.
Der Motor heult auf, der Donnerbesen faucht, wirbelnde Kiesel prasseln gegen die hölzerne Fassade des Saloons, dann schwänzelt der Rapid vom Hof. „Gib mir fünf“, sagt Murat. Und die kriegt er, als nach 100 Metern auch der letzte Tropfen Diesel aufgebraucht ist.

Was geschieht dann? Werden wir entkommen? Lest hier weiter!

Gesichtsyoga

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5) und Gleicheitrige (Kapitel 6)

Noch am gleichen Abend stelle ich Murat meine neue Geschäftsidee vor und zeige ihm meine Notizen in der Chinakladde. Er ist sofort hellauf begeistert, meint aber, wir müssten diesmal „solider“ an die Sache herangehen. Großzügig lade ihn zu der Unternehmermesse ein, unter der Bedingung, dass er meinen Deckel bei Renzo bezahlt und den Laden auf Vordermann bringt. Schließlich hat er ja auch seine Kehrwoche nicht eingehalten. Er zieht eine Augenbraue hoch, schielt mich an wie Angela Merkel bei der Damenwahl, stimmt dann aber zu. Ein schlauer Kopf, mein Murat.
Am Samstag schließen wir das Geschäft schon mittags. An der Tankstelle kaufe ich noch ein Duftbäumchen und zwei Dosen Haake- Beck, während Murat volltankt und nach dem Öl schaut. Ich setze mich schon mal und suche im Radio die Vorberichtserstattung der Fußball- Bundesliga. Mit einer Packung Knistertabak und zwei Dosen Efes kommt Murat aus der Kassensauna zurück. Wir stoßen euphorisch auf unseren neuen Coup an und dieseln Richtung Autobahn los. Es ist stickig und die Fensterkurbeln drehen an beiden Türen einfach durch. Murat schwitzt hinterm Steuer, als sei Biblis A kurz vor der Endabschaltung doch noch geschmolzen. Ich biege den Ventilator ein Stück weiter zu mir. Den letzten Kilometer geht es nur noch Meterweise vorwärts, frustrierte Coffee to go- Becher säumen die Straße. Endlich rücken wir auf Platz Eins der Karawane der Parkwilligen vor, als Murat plötzlich seine Mokassins hart auf die Bremse haut. Der Wagen nickt tief vor einem Männchen in Warnweste und Sicherheitsschuhen ein, das Arm wedelnd vor unserem schnaubenden Kühlergrill steht. Ich pralle mit dem Kopf an die rotierende Windmaschine, die mir eine tiefe Blitznarbe in die Stirn schneidet und stoße einen unverzeihlichen Fluch aus. Grüne Lichtblitze sirren umher, prallen aber an der massiven Karosserie unseres Rapids ab. Der selbstständige Parkplatzeinweiser taumelt, tritt dann bleich an die Seitenscheibe und will schon einmal 5€ kassieren. Ich klopfe mein Testsieger- Shirt ab, zucke mit den Schultern und schaue Murat an. Er pflückt einen klammen Schein aus seiner Hosentasche, öffnet die Tür einen Spalt weit und reicht ihn hinaus. Ein kühler Windstoß schwappt herein. Das Parkticket könnten wir von der Steuer absetzen, ruft der Wegelagerer uns fröhlich zu. Ehe ich ihn mit dem Imperius- Fluch gefügig machen kann, gibt Murat auch schon wieder Gas und rauscht den Weg an den langen Messeblechhallen vorbei. Direkt vor dem Haupteingang quetscht er sich auf einen Frauenparkplatz zwischen zwei Twingos. Durch die großzügige Kofferraumtür stolzieren wir nach draußen. Die Sonne lacht uns zu, wir lachen uns an, umarmen uns und gehen unter bewunderten Blicken auf dem roten Teppich zum Portal. Auf einmal huscht Ayse an uns vorbei und verschwindet ebenso plötzlich im Getümmel. Mir stockt der Atem, zittrig nestele ich nach dem Einlassticket, reiche Murat seines und sprinte hinterher. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf falschen Wegen wandele und im Fluss der zeitgleichen Eventausstellung „Einfach Frau sein“ schwimme. Panisch versuche ich noch umzudrehen, doch ich werde vom immer dichter werdenden Strom mitgerissen in den Dschungel der pastell- farbenen Begehrlichkeiten von Schmuck, Parfüm, Dessous, Wellness und Fitness, Haartrends, Dekorieren, Urlaub, Essen und Trinken und Trennungsberatung. Die letzte Welle spuckt mich direkt in einen Pulk blondierter Perückenschafe und Beratungsopfer, die am Stand der Weight Watchers Flyer, Ernährungstipps und Punktetabellen studieren. Mitgeschleifte Ehemänner in Fußball- Trikots starren abseits an einem Bierstand auf einen winzigen Fernseher, auf dem das Livespiel um den Spitzenplatz grade angepfiffen wird. Ich erkenne Renzo und will ausscheren, kann aber keinen Halt finden und werde weiter ins Innere des Plüschtempels geschoben und auf einen mintblauen Stapelstuhl gedrückt. Die Vorsitzende des Anorexie- Verbandes „Rund war die Frau“, die einer Brausestange Konkurrenz machen könnte, hält einen Multimedia- Vortrag zum Thema „Ich esse meine Suppe nicht“ und projiziert ein verzerrtes, dünnes Kerlchen auf Wand und Decke. Diät-Assistentinnen mit der eingefrorenen Mimik eines Tauschbildes reichen grüne Tees und stille Wasser zu gedünstetem Rohkostschnitzel auf einem ungeschälten Wildreismantel. Ayse ist eh verschwunden, denke ich mir und mache ich mit den Händen ein tolles Schattenbild (ein Murmeltier!), bis ich mit Süßstoffwürfeln beworfen werde. Fluchend flüchte ich hinter einen Vorhang, als ein schriller Schrei das Gebet zerreißt und von den kalten Metallwänden jäh zurückgeworfen wird. Entsetzt drehe ich mich um und blicke in Ulla Popkens nackte Augen. Noch ehe ich sie zu ihrer Figur beglückwünschen kann, bekomme ich einen Seegraskorb um die Ohren geschlagen. Pröbchen, Rabattgutscheine, Traubenzucker, bedruckte Einkaufswagenchips, Feuerzeuge und Kugelschreiber purzeln wild umher. Es sieht aus wie in Wacken am dritten Tag des Open Air- Festivals. Der übergewichtige Modeirrtum jagt mich trampelnd aus dem Zelt. Erst am Ha-Ra- Stand kann ich sie abschütteln, indem ich mich durch ein Nest damenbärtiger doppelter X- Chromosomenträger in die erste Reihe drängele. Eine gefühlte Halbzeit später schleiche ich mit einem revolutionären neuen Putzsystem mehr und einem gefühlten Monatsverdienst weniger von dannen. Erschöpft lasse ich mich in einen Massage- Sessel fallen. Das schwarze Leder klebt schwer auf meinem durchschwitzten Shirt. Geschickt streife ich mit der Hacke meine Schuhe ab, werfe 5 Euro in den Automatenschlitz und massiere meinen geschundenen Kiefer. Ich schaue auf meine Uhr und will grade die Zwischenergebnisse auf meinem Handy abrufen, als mich vier stählerne Hände von hinten packen. Zwei stiernackige PEZ- Gesichter nicken mit offenen Mündern und schiefen Nasen zur Tür. Eine Traube geifernder Weiber umkreist mich schnell, klatscht in die Hände und skandiert synchron „Ausziehen!“ Ich denke an meine Popeye- Unterwäsche und lasse mich ohne Widerstand hinausbegleiten.
Draußen steht die Sonne schon tief, ein verführerischer Bratwurstduft liegt in der warmen Abendluft. Bargeldlos, barfuß und blinzelnd folge ich ihm über den Parkplatz, bis ich in der Ferne Murat erkenne, der quatschend mit Ayse auf der Ladekante von unserem Wagen sitzt. Ich schleiche mich geduckt an und versuche, mir mein Geld aus dem Handschuhfach zu angeln. Im Radio laufen die letzten Minuten des heutigen Spieltages, es geht in allen Stadien hin und her. Als die Bayern in der Nachspielzeit einen ungerechtfertigten Elfmeter geschenkt bekommen, schlage ich fluchend aufs Blech. Plötzlich tauchen neben mir irgendeine Drahtbürste von den Gewichtsguckern und die Hand geflochtene Picknicktasche aus der Umkleidekabine auf. Die beiden Tuppertanten steigen in ihren Twingo und brausen mit meiner Deckung davon. Im letzten Moment kann ich mich mit einem kühnen Sprung unter unseren Renault retten. Durch den Unterboden muss ich dumpf den Torjubel der sprachdefizitären Südstaatentruppe mit Migrationshintergrund hinnehmen und stoße mir fast den Kopf vor lauter Zorn. Dann stellt Murat, der Banause, noch vor dem Schlusspfiff auf einen türkischen Sender um und trällert verliebt mit Ayse Tarkan´s einzigen Hit. Jetzt stoße ich mir den Kopf. Auf ein Mal steht Murat wie ein Strauß da, schaut kopfüber durch seine Beine hindurch und sieht meine Füße unter der Stoßstange heraus ragen. Ich schäle mich unter dem Wagen hervor, „alles klar“, sage ich, wische mir die öligen Hände an der neuen Jeans ab, „der Zylinder ist wieder dicht! Wir können weiter! Pass aber diesmal besser auf!“ Murat schaut mich an wie ein Playmobil- Sultan und ein winziges Lächeln huscht über Ayse´s Gesicht.
Nächste Woche ist wieder Messe, diesmal „Mann sein“. Da gehe ich sicher hin, Gina Wild gibt Autogramme!

Doch vorher führt uns unser Weg noch hierhin

Gleicheitrige

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4) und Kassensturz (Kapitel 5)

Am nächsten Mittag will ich grade zum Imbiss rüber frühstücken, als das Telefon klingelt. Irgend so ein Muttibügler von meiner Bank bietet mir gleich am nächsten Morgen beim Filialleiter ein Gespräch „zur Überbrückung meines Finanzengpasses“ an. Als wenn ich nicht arbeiten müsste! Doch dafür hat der Kopfgeldjäger kein Verständnis und verweist mich spröde auf meinen Kontostand im vierstelligen Soll.

Tags drauf betrete ich in aller Herrgottsfrühe um 9.30 Uhr den Marmorpalast in der Innenstadt. Die Schlipsfressen und Kostümmäuse eilen emsig hin und her, holen Formulare aus Apothekerschränken, kopieren doppelseitige Diagramme, tippen Zahlenkarawanen in den Computer, schütteln mit dem Kopf und kritzeln Formeln auf einen Notizklotz. Weit und breit kein einziger Kunde zu sehen, da hätte ich auch im Laden bleiben können. Trotzdem dauert es geschlagene 15 Minuten, bis einer dieser Blattwender auf mich aufmerksam wird. Nach einem Umweg am Wasserspender vorbei steht er jetzt grinsend vor mir. Die Sakkoschwuchtel tackert zweimal mit dem Kugelschreiber und lässt ihn dann in der Brusttasche seines Nadelstreifenkittels verschwinden. Ich könnte ihm gleich eine reinhauen für so viel Arroganz. Mit einem lauten Knall lege ich ihm einen abgewetzten Jutebeutel auf den Mahagonitresen. „Vollmachen“, sage ich, „sonst fliegt dein GTI in die Luft!“ Mein Daumen spielt dabei nervös mit der Schlüssel- Fernbedienung von unserem Geschäftswagen. Der hobbylose Geldazubi glotzt mich mit großen Augen an, sein Fluchtkinn zittert dabei. Westerwelle dicke Pickel bilden sich auf seiner Stirn, platzen auf und drücken zähen Eiter aus zerfurchten Kratern. Ich grinse ihn an und zeige darauf, „das sollten Sie mal behandeln lassen! Das sieht scheiße aus!“ Mit schweiß nassen Pfoten betatscht er seine schüttere Haarlichtung. „Ich habe einen Termin mit eurem Herrn Ackermann, seine Zeit ist sicher auch Geld!“, setze ich meiner Forderung jetzt Nachdruck und scheuche ihn mit einer wischenden Handbewegung zu der Schuss sicheren Glastür im hinteren Teil des Tempels. Seine schwarzen Lackschühchen bewegen sich nur mühsam rückwärts, bis ich auf die Fernbedienung drücke und fröhlich „Peng!“ rufe. Dann drehen sie sich um und rennen. Keine zwei Minuten später sitze ich entspannt bei einem Kaffee an der Front. Der graue Finanzminister referiert etwas von nötigen Investitionen, Sicherheiten, aktuellem Zinsniveau, Renditen und Riestern. Seine goldene Uhr spiegelt das einfallende Sonnenlicht dabei wild durch den Raum, ich schaue neugierig hinterher. Als ich grade in meinen Muckefuck puste, bleibt mein verschwommener Blick an einem Bild an der Wand hängen. Oma Eusebia drischt grade mit ihrem Nudelholz auf den armen Lupo ein. Mir schießt mein alter Spitzname wieder durch den Sinn. Murat hat ihn mir gegeben, weil ich wie sie keiner Bank traute und mein Geld lieber in einem Sparstrumpf unter der Matratze aufbewahrte. Stattdessen war ich so doof, die Knete beim Hütchenspiel in Amsterdam zu verzocken. Ich könnte heute noch schwören, beschissen worden zu sein. „Depotumschichtung“ und „Hedgefonds“ brabbelt der Dukatenscheißer mit der gewichtigen Rolex durch den Park von Fuxholzen.

“Leihen?”, schreit Eusebia, “Dir? Nein, mein Lieber! Wenn du Geld haben willst, musst du es verdienen!” “Aber Oma, es ist doch nur, weil … Lupinchen hat Geburtstag!”, stammelt Lupo. Aber Oma Cholerika kennt kein Erbarmen und jagt ihren nixnutzen Enkel zum Haus heraus. Der arme Kerl will nur noch zurück in seinen Mäuseturm, springt in sein Auto und braust davon. Nichts wie weg!

Der Dukatenesel im Ledersessel mir gegenüber holt währenddessen zum alles entscheidenden Schlag aus, jetzt müssten wir das Griechenlandpaket fest schnüren. Als ich dem Währungskommissar unseren Renault Rapid als Sicherheit in Aussicht stelle, quasi als Schuldenbremse, schwillt ihm der Krawattenhals. Rot wie die erste Periode einer Novizin nestelt er an dem engen Knoten herum und röchelt nach Luft. Ich schnappe mir einen Flyer mit Freikarten für die Existenzgründermesse von seinem Glastisch, lege ihm meine Visitenkarte als Ersatz hin, gehe zur Tür und rufe die Drückerkolonne herbei.

Draußen am Imbiss wartet schon ein hellenisches Fleischfrühstück auf mich. Der Bofrostmann ist auch da und bestellt sich ein Wasser. Ich lade ihn ein, er hat mir mal das Leben gerettet.  Renzo schreibt alles auf meinen Deckel. Gut gelaunt fahre ich nach Hause. Das Radio spielt „Einfach sein“.

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Wortgeflecht

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2) und Strebergarten (Kapitel 3)

„Nun komm schon, du alter Schisser“, rufe ich Murat zu, „wovor hast du Angst? Da springt keiner raus und packt dich!“ Vorsichtig wie ein Fahranfänger tritt er Schritt für Schritt neben mich. „Buh!“, mache ich, noch ehe er einen Blick in das Fass werfen kann. Murat springt drei Meter rückwärts. Kreidebleich steht er im Türrahmen, sein verwaschenes „I love N Y“ – Shirt klebt klamm auf seiner Haut. Er starrt mich mit Melonen großen Augen an, als wäre ich ein 3 – Zentner- Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg. „Na, dann muss ich eben alleine ….“, lache ich auf, halte dann aber inne. „Murat! Sche-Herz!“, rufe ich und halte harmlos meine Hände nach oben. Zögerlich tapst nach er vorne und lugt misstrauisch über den Beckenrand. Dumpf klappt sein Kinn nach unten, als er die bunten Plastikbausteine erblickt, kleine ekstatische Stromimpulse durchzucken seinen Körper. Begeistert greift er bis zu den Ellenbogen hinein, wühlt drin herum und schaufelt schließlich einen achter Leuchtstein nach oben. Sofort rennt er nach hinten und kramt laut in einer Klappkiste nach einer 4,5 Volt – Flachbatterie. Stolz, als habe das Osmanische Heer Wien doch noch eingenommen, kehrt er im Schein der mattgelben Soffitte zurück. „Sie brennt sogar noch“, sagt er mit breiter Brust, „weißt du noch, was wir damit alles gebaut haben?!“ „Na klar“, rufe ich glückselig zurück, „du hast den Stein als Scheinwerfer in mein Polizeiauto gebaut!“ Murat umschließt den Noppenquader sanft in der hohlen Faust und linst hinein, „willst du auch mal?“, fragt er. Vorsichtig blinzele ich durch den Spalt zwischen seinen Fingern, sie riechen nach Marlboro und Hammelfleisch. „Dann war er eines Tages weg, Mama hatte gesaugt“, sage ich mit erdrückter Stimme. Murat versteift, schaut verlegen zu Boden und lässt die Hand sinken. „Was ist?“, will ich wissen. „Weißt du, das war …“, stammelt er, „das war … nicht der Staubsauger. Ich habe ihn versteckt, weil ich auch einen haben wollte!“ Dann hält er mir den Lichtwürfel hin, „hier, er gehört dir!“ Ich blicke ihn an und muss ihn einfach umarmen, „komm, wir schauen, ob wir noch einen finden!“ Gemeinsam stoßen wir hinab bis zum Grund der hölzernen Trommel, rühren und rieseln winzige Einer, blaue Vierer und breite Achter, zerbrochene Fenster und Räder ohne Reifen und sogar einen noch selteneren fluoreszierenden Sechser empor. Schließlich schütten wir die ganze Litfasssäule aus und kramen fieberhaft herum. Dann materialisiert sich der Glimmblock überraschend wie von selbst aus den unendlichen Weiten der Legogalaxien. Ganz unerwartet liegt er da, als sei er nie weg gewesen. Ich jubele glucksend in mich hinein und Murat strahlt wie ein kleiner Junge am Weltspartag, dem ein greiser Filialleiter für seine gesammelten 47 Kupferstücke einen schielenden Plüschhasen überreicht. Vergnügt bauen wir unsere große Feuerwache mit Hubschrauberlandeplatz und Garage für den Notarztwagen nach den originalen Aufbauanleitungen von 1982 wieder auf. Beschwingt geht Murat zum Radio und schaltet es ein, Udo Jürgens steht im Neon hellen Treppenhaus. Keiner von beiden war schon einmal in New York. Dann, wie auf ein verabredetes Kommando, singen wir beide mit: „Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n!“ Schlagartig vermisse ich meinen Keinohrhasen und verstumme. Murat dreht das Radio leiser, zündet sich eine Zigarette an und bläst den teerhaltigen Fall- Out zur Decke, von wo sich der giftige Niederschlag langsam über uns senkt. Draußen dämmert es inzwischen, Nieselregen rinnt mäandernd die Schaufensterscheibe hinunter. Unten bildet er dicke Pfützen, die sich dann wie Lemminge vom Marmorsims stürzen. Jeder Tropfen reißt ein blutiges Stück aus meiner Leber. Unwillkürlich taste ich nach der Narbe auf meinem rechten Oberbauch. Mit dem Fingernagel spiele ich an der Borke und schaue schmerzverzerrt aus dem Fenster. Passanten huschen mit Schirmen von Dach zu Dach, in der Mitte des kleinen Platzes tritt der Brunnen über die Ufer. Ein altes Kaugummi taumelt in den Wogen. Der Regen nimmt zu, peitscht es wild umher und drückt es immer wieder komplett in die schlammige Brühe, bis die Springflut es mitreißt und in den Strom schleudert. Prustend und schnaubend taucht es nach bangen Sekunden wieder auf. Haltlos saust der Beißbrocken jetzt in einem wahnsinnigen Tempo dahin, überholt einen Kronkorken und einen durchweichten Aldi-Prospekt. Plötzlich ragt ein umgeknickter Ast gefährlich ins tosende Wasser, ein rechtsdrehender Strudel öffnet gierig seinen Schlund, Wellen türmen sich Zentimeter hoch auf. Mit der Verzweiflung eines zum Tode verurteilten Gefangenen gelingt es ihm in allerletzter Sekunde, sich an einer mitströmenden Pommesschale festzuklammern und an Bord zu klettern. Mit rasselndem Atem schaut das Schmatzstück in den schwarzen Himmel, Wolken huschen vorbei wie der Berufsverkehr auf der Hauptstraße. Erschöpft rutscht es an der bunten Kunststoffgabel herunter und landet in einem ranzigen Mayonnaiserest. Es hört das leise Gurgeln des herannahenden Gullys nicht.
Unerwartet schwillt das Gluckern zu einer donnernden Toilettenspülung an. Ein Wind bläst mir steif ins Gesicht, ich blicke mit dem Schrecken eines überraschten Liebhabers auf. Meine Gedanken zerplatzen wie Seifenblasen im Kinderzimmer, als ich Ayse in der offenen Tür stehen sehe. Sie hält eine völlig durchnässte Kuchenpappe in ihren Händen. Dicke Fäden tropfen ihr von ihrer Nase und aus den Haaren. Dann hält sie uns das Gebäckpaket entgegen, „alles Gute zur Eröffnung“, sagt sie, lächelt süß wie Paris Hilton in Gummistiefeln und ich kann gar nichts dagegen tun.

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Strebergarten

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1) und Abstelltraum (Kapitel 2)

Ich stehe auf und gehe am versteinerten Murat vorbei. Entschlossen schnappe ich mir die herum liegenden Bierflaschen, sammle sie in den Kasten zurück und stelle ihn dem kleinen Muck genau vor die Füße. „Musste das sein?“, frage ich ihn, „du weißt genau, dass heute Eröffnung ist!“ Murat starrt weiter in den hohlen Raum, ein bisschen Sand rieselt ihm aus den Haaren und lässt mich vermuten, dass er noch nicht ganz mumifiziert ist. „Wie siehst du überhaupt aus?“ „Also, ich, äh …, du hast …“, stammelt er sich in den Schnauz. „Ach, red jetzt keine Opern, hilf mir mal, ich krieg das Fass hier nicht auf. Bin mal gespannt, was ich da günstig ersteigert habe!“ Wortlos überreicht mir Murat die Spitzhacke. Mit einem einzigen gezielten Hieb schlage ich den Deckel ab. „O’zapft is!“, verkünde ich stolz, klettere über das Splitterholz und linse in den Container. „Ich glaub’s nicht“, rufe ich, „Murat, komm her, das musst du dir unbedingt anschauen!“ Unsicher stolpert er zu mir, den Kopf dreht er dabei nach hinten, als könne jeden Augenblick ein Flaschengeist erscheinen und ihn zur ewigen Knechtschaft zwingen.
Plötzlich steigt süßlicher Rauch empor und wirbelt immer schneller durch unser Lager. Zitternd stehen wir da, helle Lichtpunkte sausen wie Schneeflocken im Sturm auf uns zu. Murat weicht erschrocken zurück, ich greife nach dem Klappspaten und halte ihn abwehrend vor das Gesicht. Die Wucht des Tornados reißt ihn mir aus den Händen, scheppernd fliegt er durch den Laden und schlägt das große Schaufenster ein. Dumpf höre ich Murat hinter mir kreischen und drehe mich erschrocken um. Er schwebt in der offenen Tür und strampelt verzweifelt, die Füße etwa 50 cm über dem Boden. Ich will ihm zu Hilfe eilen, als mich mit einem Ruck der rasende Nebel packt, in die Höhe reißt, im Kreis herum schleudert und mit einem Drei- Punkte- Wurf gekonnt in das enge Fass einnetzt. Mit einem lauten Rums schlägt der Deckel über mir zu und verdunkelt die Welt. Minuten lang geschieht nichts, ich höre nur meinen eigenen Atmen von den Holzwänden widerhallen, die Luft ist schwül und stickig. Schließlich schiebt sich Totenstille zwischen die Ritzen.

„Schneller, die Oase ist nicht mehr weit“, schreit er mir ins Ohr. Ich blicke stumm auf. Die Wüste flimmert wie die A2 im Gegenlicht vor den Kühltürmen des Kohlekraftwerks. Müde und schwer setze ich einen Fuß vor den nächsten. Dann endlich keimen die ersten Palmenblätter am Horizont. Vor Aufregung stolpere ich eine Senke hinunter. Die kühle Hoffnung rollt sich zusammen wie eine Leinwand am Ende des Dia-Abends. „Nein“, stammele ich und sinke auf die Knie. Mit beiden Händen greife ich in den glühenden Sand und schmeiße ihn in die Luft. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Schultern hoch, als er wie ein Meteoritenschauer auf mich herunter prasselt. Zornig schüttele ich mir den Kies aus den Haaren. Mein kleiner Mann ruft wieder: „Los, raff dich auf! Du schaffst es!“ Ich will ihn ignorieren. Zu oft hat er mich schon falsch beraten. Wie damals, als er meinte, ich solle mich zu diesem Kurs anmelden „Männer kochen anders“ und ich mich in einem Anti- Aggressionstraining für Akademiker wiederfand. Nur verhärmte Sozialarbeiter und Geschichtslehrer in Cordhosen. Das war vielleicht ein Reinfall. Ein anderes Mal drängte er mich zu einem Niederländisch- Sprachkurs und dann war ich im Urlaub doch wieder im Harz. Aber diesmal hat er wahrscheinlich Recht. Hier Burgen zu bauen, rettet mich nicht. Matt rappele ich mich wieder hoch. Ich blinzele in die Sonne, die erbarmungslos meinen Liquor zum Kochen bringt. Jeder Schritt gleicht dem stechenden Schmerz einer Spinalanästhesie. Mühsam schleppe ich mich durch die Senke und schon auf halben Weg höre ich das muntere Feilschen der Kamelhändler. Dann endlich tauchen Zelte aus dem Gekrümel auf und es riecht nach Bratapfel mit Zimt. „Vorsicht“, tönt es hohl in meinem Kopf. „Ruhe!“, murmele ich, „ich entscheide!“ Mit letzter Kraft krieche ich an toten Schädeln im Wüstensand vorbei bis zum ersehnten Wasserloch. Gierig stecke ich meinen Schlund hinein, in großen Schlucken saufe ich das trübe Nass. Trunken falle ich auf den Rücken, schließe die Augen und denke an die kühlen Tannen im Harz. An den trüben Sommer und die verregneten Tage in der muffigen Pension. Die alten Holzstufen knatschten und führten zu meinem kleinen und dunklen Zimmer im ersten Stock, unten wohnte die Vermieterin. Das Bad war auf dem Flur, kalt und moosgrün, wie das Wasser dieses Tümpels. Das Metallrost des Bettes quietschte bei jeder Bewegung. Der Hirsch röhrte im Dickicht und unterhielt sich mit seinem gemalten Kollegen über dem winzigen Tisch mit der Häkeldecke und den Trockenblumen im bröseligen Steckgrün. Morgens stellte die alte Hexe das Frühstück schon um 6.30 Uhr vor die Tür. Auf dem Weg zur Toilette trat ich in der ersten Nacht in die Teewurst auf dem Goldrandteller. Fluchend und humpelnd hüpfte ich über den roten Sisalläufer zum Ende des Ganges, um dann festzustellen, dass Mütterlein Gicht das Bad verschlossen hatte. Ich griff erleichternd zu der Teekanne des Herrn von Zimmer 7, als mich ein Teppichklopfer streifte.
In diesem Augenblick tritt mir ein Beduine in die Seite und zeigt grinsend seine schwarze Zahnpracht. Ich zucke zusammen, schlage die Augen wieder auf und setze mich. „Ich habe dich gewarnt“, ruft da mein kleiner Begleiter wieder, „das hast du jetzt davon.“ „Ach, halt’s Maul“, sage ich zu ihm, „Du hast mir die Suppe mit dieser Karawane doch überhaupt erst eingebrockt! Bleib doch hier, wenn du willst.“ Dann stehe ich auf und gehe auf das größte Zelt zu. Ich schiebe den schweren Baumwollstoff zur Seite und trete ein. Das Einkaufsparadies von Teppich Kibek eröffnet sich mir in seiner ganzen Pracht. Der Garten Eden des Vorwerkmannes, die Welttournee seines Kobolds, das Eldorado der Milbenallergiker. Und ich mittendrin. Der Beduine von Loch Ness betritt das Zelt. „Willst du kaufen schöne Kelim?“, fragt er. „Wie alt ist sie denn?“, frage ich zurück. „Was wie alt?“ „Die Kelim!“ „Kelim ist ganz neu! Guckst du hier“, sagt er und geht zu einem Haufen Vorleger, blättert darin herum und zupft von unten eine Katzendecke hervor. Kritisch reibe ich den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. „Die kratzt ja“, sage ich, „hast du nicht etwas anderes?“ und gehe auf einen Stapel zu, den er mir bewusst nicht gezeigt hat. „Was ist denn mit dem da?“, will ich wissen und zeige auf einen alten Fetzen, der aussieht, als habe Ali Baba darauf an einem Stück die Sahara und alle arabischen Wüsten durchritten. Entgeistert guckt er mich an. „Das ist ganz besondere Teppich“, stammelt er. „Ich weiß“, entgegne ich, „aber genau den will ich! Den und keinen anderen! Was kostet er?“ „Du willst wirklich habe fliegende Teppich?“, fragt er noch einmal. „Ja.“ „Dann du musst mir gebe kleine Mann von deine Schulter!“ „Meinen Dschinn? Niemals!“, entrüste ich mich. Er geht einen Schritt auf mich zu, „gib!“ zischt er. Zögerlich fasse ich meinen kleinen Begleiter am Rockzipfel, er tanzt und tobt wie Daniel Küblböck in der ersten Staffel von DSDS. Ich greife fester zu und halte ihn am ausgestreckten Arm dem Zeltgesicht entgegen. Er will eben zupacken, da schnellt meine Hand mit dem Superstar zurück. „Und noch genügend Wasser für zwei, nein, für drei Tage dazu!“, pokere ich. Finster gucke ich in seine gierigen Augen. „Du bist schlimmer als wie meine Brüder“, knurrt er, schlägt dann aber doch ein. Schnell ruft er zwei Schergen hinein, die draußen den Teppich und den Kaktussaft bereit stellen sollen. Er selbst stopft den Dschinn in ein altes Holzfass und nagelt den Deckel zu. Dann schlägt er seinen Kaftan über den Arm und weist mir den Weg mit einer eleganten, fast Hesterschen Geste hinaus. Dort liegt mein Teppich plan im Streugut, mitten drauf glänzen drei pralle Bocksbeutel ledern in der Sonne. Die vermummten Gebrauchtwagenverkäufer stehen feixend und johlend drum herum, Schwielensohler schieben spöttisch ihre Kiefer vor und zurück. Ich bahne mir einen Weg hindurch, setze mich auf den zerschlissenen Fußabtreter und durchkämme mit beiden Händen akribisch den dünnen Flor. Hohn prasselt auf mich nieder wie Reis auf das vermeintlich glückliche Brautpaar. Nach endlosen Minuten ertasten meine Finger das, wonach ich suchte. Ich richte mich auf und mit einem Ruck ziehe ich einen goldenen Faden heraus. Unter den bass erstaunten Gesichtern der Campinggemeinde im luftigen Tuch hebe ich flatternd ab. Ein unfassbarer Jubel, wie ihn nur ein deutscher Außenminister auf dem Balkon der Prager Botschaft kennt, weht zu mir empor. Hoch oben über ihrem Outlet-Store blicke ein letztes Mal zurück und sage meinem alten Dschinn Lebewohl. Ich kann bis hier hören, wie er wütend an die Wände seines Gefängnisses pocht.

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Hitzeschwelle

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4), Schnurlos (Kapitel 5), Murmeltier und Sehnsucht (Kapitel 6), Holzklasse (Kapitel 7), Zurück in die Zukunft (Kapitel 8), Sucht und Ordnung (Kapitel 9), Hättichmal (Kapitel 10), Nie wieder zweite Liga! (Kapitel 11) und Traumfahrer (Kapitel 12)

Weit nach Mitternacht flackerten vereinzelt Lichter wieder auf, wahrscheinlich wurden erst die öffentlichen Gebäude mit Bruzzelmasse aus Notstromaggregaten versorgt. Der Großteil der Stadt blieb jedoch schwarz wie eine Neumondnacht in Wanne- Eickel. Ich schaute auf das Wetter-App meines Handys: Immer noch 24 Grad. Die 5- Tages- Prognose versprach steigende Temperaturen, Abkühlung erst am Samstag auf etwas unterhalb des Siedepunktes. Mit zittrigen Fingern überflog ich die Schlagzeilen der Nachrichten: Ganz Mailand war durch den Stromausfall von der Außenwelt abgeschnitten, der öffentliche Nahverkehr komplett zusammen gebrochen. Korrupte Beamte plünderten ein Freibad im Schutze der Dunkelheit und ein Video zeigte einen Kanaltaucher, wie er von einer achtlos weggeworfenen Eisenstange eines Touristen in kurzer Hose erschlagen wurde. Die Welt ist schlimm, dachte ich. Die Stadtverwaltung riet den Einwohnern daher dringend, ihre Häuser nicht zu verlassen und tagsüber die Kellerräume aufzusuchen. Das Militär hat eine Luftbrücke zur Sicherstellung der Trinkwasserversorgung eingerichtet. Aus Mitteln des europäischen Katastrophenfonds können alle Betroffenen dafür ab Montag in der örtlichen Präfektur einen Berechtigungsschein beantragen. Ohne Meldebescheinigung werde ich sicher leer ausgehen, überlegte ich, ging ins Bad und drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf. Er würgte und erbrach sauren Schleim in die Schüssel. Auch die Dusche rotzte nur braune Brühe ins Moosgrün. Mit dem Zahnputzbecher schöpfte ich einen Schluck Hoffnung aus dem Spülkasten und stillte meinen Durst.
Aus dem Zimmer nebenan rief mich das Handy zurück, es spielte Message in a bottle von Police. Ich blätterte zu meinem Postfach,  jubelte, als ich Carlottas Nummer erkannte und klickte auf die Absenderkennung. Doch so sehr ich auch darauf herumdrückte, nichts geschah. Ich flitze noch einmal ins Bad, kramte im Kulturbeutel nach einem alten Zahnstocher und tackerte damit wild auf dem Display herum. Mit war, als forderte der Tod ausgerechnet in diesem Moment eine alte Schuld ein, die ich ihm vor langer Zeit versprochen hatte, als ich in der Kinderkur den Wurstebrei nicht essen wollte. „Hol’s der Teufel“, hatte ich damals geschimpft, ohne mir im Klaren darüber zu sein, was das denn wirklich bedeutete und wann. Verzweifelt versuchte ich nun, mit ihm zu verhandeln und bot im Tausch für diese eine SMS meine gute, alte Dampfmaschine oder meine UFO- Sammlung von 1975 an. Doch es half alles nichts, der greise Alte zeigte mir sein zahnloses Antlitz, nahm das Funknetz und die Server. Mein Kredit war abgelöst, die Publikumswette verloren. Thomas Gottschalk setzte sich zu mir auf die Couch und tröstete mich, ich sei ja noch so klein gewesen und Michelle müsste jetzt halt die kalte Stippgrütze essen. Mit einem lauten „Fuck the devil“ warf ich mein Handy in Richtung Kanal. Lautlos verschwand es in der dunklen Nacht. Dort, wo es hätte landen müssen, stieg bleicher, kalter Nebel empor. Ich schloss schnell mein Fenster, zog die Vorhänge zu, setzte mich auf die Bettkante und starrte vor mich hin. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, ich hatte keinen Plan B. Hitze, Durst und Hunger belagerten die Stadt und vor meiner Tür trachtete mir der Tod nach dem Leben. Plötzlich krachte und knisterte, donnerte und dröhnte es draußen. Alle Angst und Zweifel vergessen, riss ich das Fenster wieder auf. Dort, wo eben noch eine kleine Rauchsäule waberte, züngelten bereits erste Flammen in den Himmel. Ohne nachzudenken stemmte ich im Bad mit brachialer Gewalt den Wasserkasten von der Wand, polterte damit die Treppen hinunter und rannte über die Straße. Heiße Schwefel- und Ammoniakdämpfe schlugen mir entgegen, versengten mir die Haare, bissen mich in Lunge und Augen. Mit letzter Kraft warf ich mich hindurch und schaffte es schließlich, das Höllenfeuer zu ertränken. Zischend erlosch es. „Fuck the devil“, sagte ich noch einmal, drehte mich um und ging zurück in meine Pension. Flackernde Lichter begleiteten mich auf meinem Weg.


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Space Invaders

Fortsetzung von Hautnah

Am nächsten Morgen rumpelte es laut in meinem Kopf. Draußen vorm Fenster wurden Stämme abgeladen und schlugen dumpf an einander. Eine schwere Kiste mit Eisenbeschlägen kippte vom Laster, zerbrach und verteilte klöternd ihren Inhalt auf dem ganzen Hof. Haarige Männerstimmen fluchten und zischten altlateinische Vulgärvokabeln.

Ich riss die Augen auf. Fliegende Fäden attackierten mich wie die Space Invaders. Sie wurden immer schneller und kamen näher. Ich lag starr im Bett, konnte mich nicht regen. Zuerst eroberten sie meine Zunge, dann meine Zähne und schließlich verfilzten sie meinen gesamten Mundraum. Instinktiv hielt ich die Luft an, um den Verwesungsgestank der Gefallenen nicht einatmen zu müssen. Mordor war eine Parfümerie dagegen. Schnappatmend rannte ich nach einer Viertelminute zum Fenster, schwallartig erbrach ich mich eine Viertelstunde lang davor. Ein rotes Ufo traf mich und ich sackte zusammen. Blut lief mir aus den Augen, mein rechter Arm hing baumelnd über dem Fensterbrett. Dann fiel ich in den Schlaf zurück.

Als ich aufwachte, blinzelte bereits der Abend im Auenland. Mein Schädel brummte wie der von Mario Basler nach der Nacht der legendären 1:2 Niederlage im Champions League-Finale 1999 gegen Manchester United. Ächzend schüttelte ich mir den Staub aus den Haaren und ging zur Tür. Die Luft war klar und rein, wie nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut. Ich drehte mir eine Zigarette und pumpte die Teergase mit hohem Druck bis in die Alveolen, wo sie zu einem Gerinnsel verklumpten, das mich plötzlich und unerwartet mit 103 Jahren jäh aus dem Leben reißen wird. Ich war 46 und ließ es mir schmecken. Eben, als ich mich umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, entdeckte ich auf der Bank neben der Tür einen Korb. Rotkäppchen hatte ihn schön abgedeckt mit einem rotkariertem Geschirrtuch. Ich nahm es hoch, wischte mir damit die Tabakkrümel vom Mund und schaute in das Weidengeflecht. Mein Hunger starrte auf Oliven, Schafskäse, eine luftgetrocknete Salami und eine Flasche Chianti. Mein Herz stolperte über eine Hand geschriebene Karte: Danke für den wunderschönen Abend. C

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Hautnah

Die Sonne stand schief am Himmel, die Stadt versank in rosarot. Die Luft war warm und zart, Gewittertierchen tanzten im Abendlicht. Ich fuhr mit dem Auto in die Einfahrt, stellte den Motor ab, drehte das Radio lauter und schloss die Augen. Vorsichtig zitterten sanfte Klänge in meinen Ohren, dann brüllte der Bass aus den Boxen, dass die Blumen auf der Wiese mit den Köpfen nickten. Frau Amsel setzte einen Notruf ab. Bunte Lichtwellen durchzogen meine Welt und entführten mich auf eine Reise.

Ich stand in der offenen Haustür und lauschte der Stille, hinten im Garten konnte ich die Ameisen schmatzen hören. Die Zypressen am Horizont hatten noch ihre Schlafanzüge an, das Dorf erwachte erst langsam. Ich liebte diese jungfräuliche Morgenluft, die mir ein Abenteuer versprach und nach Olivenöl, Chianti und getrockneten Tomaten schmeckte. Ich ging zum Schuppen, schob die Vespa nach vorne, setzte meinen Rucksack auf den Rücken und fuhr knatternd und knirschend den Kiesweg entlang. Unten am Tor zog ich die Corriere della sera aus dem Kasten, steckte sie in meine Manteltasche und fuhr weiter. Ich wohnte etwas abseits des Dorfes in einer kleinen alten Sägemühle. Hierhin hatte ich mich meine Expedition mit meinem Wohnmobil geführt. Hier hielt ich an und blieb. Hier packte ich meinen Koffer aus und stellte meine Staffelei auf. Wie schon einmal, als ich in jungen Jahren in Mailand Kunst studieren wollte. Dann starb mein Vater und ich kehrte zurück nach Deutschland. Ich wischte mir mit dem Handrücken eine Mücke aus dem Auge. Das Dorf lag vor mir, die letzte Kurve genoss ich wie in Zeitlupe. Marktfrauen trugen frisches Obst und Gemüse aus dreirädigen Rollermobilen zu ihren Ständen. Alte Männer saßen vor ihren Häusern und spielten. Junge Ragazzi standen zusammen und zählten einen Batzen Geldscheine. Als ich um die Ecke brummte, hob Don Pascale die Hand und winkte mich zu ihm herüber. Er hatte sich in all den Jahren als echter Freund erwiesen. Die Dorfgemeinschaft hatte mich anfänglich misstrauisch beäugt, aber er hatte es durchgesetzt, dass ich als Tedesco die Mühle kaufen konnte. „Ciao, caro amico“, begrüßte er mich. Ich umarmte ihn, nickte den Anderen zu und setzte mich. Ich erzählte ihm von dem neuen Wasserrad, das mir ein Holzbaumeister aus Torino nach alten Plänen, die ich hinter einem Küchenschrank gefunden hatte, angefertigt hat. Bald würde die Mühle wieder in altem Glanz erstrahlen. Seine Augen leuchteten. Er war dort geboren und so war es mir um so mehr Ehre, seine alte Erinnerung wieder aufzubauen und mir gleichzeitig einen Traum zu verwirklichen. Er kam jede Woche mindestens einmal vorbei, immer verbunden mit einer Einladung zum Essen. Heute mache seine Frau Elena die berüchtigten Trippa alla fiorentina. Nach ihrem fantastischen Saltimbocca alla romana beim letzten Mal zögerte ich keine Sekunde und sagte zu. Wir verabredeten uns zum Mittagessen und ich schlenderte noch ein Weilchen über den Markt. Ich kaufte mir eine Schale Oliven und ein Stück Schafskäse bei Franco. Er war eigentlich Schlosser und half mir bei der Restaurierung. Die alte marode stählerne Antriebswelle hatte er wieder zum Laufen bekommen. Wir beratschlagten uns noch ein wenig, naschten Bruschette und feixten gestikulierend.
Als ich mich zum Gehen umdrehte, stand sie plötzlich hautnah vor mir, lächelte mich an und ich wusste sofort, dass dieser Tag völlig aus den Fugen gerät. Ihre Haare glänzten kupfern in der Sonne wie frische Maroni und umspielten zart ihre Wangen wie Wellen eine Muschel. Ihre grünen Augen ließen Zucchinis in den Auslagen erblassen. Es donnerte in meinem Kopf. Nervös nestelte ich an meiner Brille, die auf einmal auf den Nasenflügeln und hinter den Ohren drückte. Plötzlich stand Don Pascale neben ihr, legte seine Arme um diesen Engel und stellte mir seine Nichte Carlotta vor, sie studiere in Milano. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fehlten deutsche und italienische Wörter für diesen Moment. Kurzatmig stellte ich mich vor. Sie lächelte mich an und reichte mir ihre Hand. Adriano Celentano brüllte in meinem Hinterkopf Dinge, die ich hier jetzt nicht wirklich wiedergeben möchte. Als ich sie hölzern berührte, durchschlug mich der Blitz wie 1771 den jungen Werther, als er sagte: Ich habe so viel und die Empfindung an ihr verschlingt alles. Ich habe so viel und ohne sie wird mir alles zu Nichts. Im Original, nicht in irgendeiner lausigen Plenzdorf– Interpretation. Der Himmel verdunkelte sich schlagartig, als ich sie wieder los ließ. „Wir müssen gehen“, sagte Don Pascale, „la mamma ist bestimmt schon so weit.“ Ich schaute auf und nickte. Carlotta hakte sich bei uns unter. Mamma Elena war eine Herzens gute Frau. Sie liebte das Leben, gutes Essen und guten Wein. Keinen Abend, den ich bei ihr und Don Pascale verbrachte, kam ich nüchtern nach Hause. So sollte es auch diesmal wieder sein. Der Rotwein gelierte süß in meinem Rachen und als ich mich weit nach Mitternacht verabschiedete, ratterte die Mühle in meinem Kopf schon. Erinnerungen und Hoffnungen gerieten zwischen die steinernen Mahlräder, ich hatte Kastanien braune Haare auf der Zunge. Irritiert sank ich in mein Bett. Der Mond rief unablässlich Carlottas Namen, in der schwülen Stille summte eine Mücke.

Die Musik im Auto verstummte. Ich schlug die Augen auf, zertrümmerte den Blut gierigen Zweiflügler auf meinem Arm und ging ins Haus. Es roch nach Leberkäse und Bratkartoffeln.

PS: Diese Geschichte setzt sich hier fort

Der Zahn der Zeit

Manchmal weiß ich einfach nicht, was ich zu Hause den lieben langen Tag so gemacht habe. Morgens laufe ich nach dem Aufstehen am Wäscheberg auf dem Esszimmertisch vorbei und sage ihm am Abend wieder „Gute Nacht“, ohne dass er kleiner geworden wäre, ganz im Gegenteil! Auf dem Weg ins Bad wirbele ich Wochen alte Staubmäuse auf, quetsche wieder einmal den letzten Rest aus der Zahnpastatube und ärgere mich über die leere Shampooflasche in der Dusche. Ein Haarbüschel verstopft den Abfluss. In der Kaffeemaschine, die ich vergessen habe auszuschalten, pappt noch der Filter mit Prütt von gestern und ein verkochter Sirup. Das leer gegessene Ei wurzelt schon in der Untertasse. Der Spüllappen klebt und riecht wie eine alte Windel, das Geschirrbecken ist stumpf vor Kalk wie die Scheinwerfer eines Citroens. Der Adventskalender ist auf 23 stehen geblieben. Auf der Spülmaschine türmen sich Teller und Töpfe wie nach der Vereidigung von Bundeswehrkadetten. Ich schaffe es einfach nicht, dem Chaos Herr zu werden. Wenn ich den Müllwagen beim Nachbarn klabastern höre, springe ich auf, rolle meinen Trolli nach vorne und ärgere mich bis zum Abend über die voll gebliebenen Papierkörbe im Haus, die ich dann noch finde. Ich schaue durch blinde Fenster auf die Straße und stelle fest, dass der Rasen höher ist als meine Hecke. Aber der Schlüssel zum Schuppen hängt nicht an seinem angestammten Platz und im Grasfangkorb vom Rasenmäher züchten die Kinder Nacktschnecken. Abgesehen davon ist eh das Benzin im Kanister alle. Dafür finde ich mein seit Wochen verschollenes Handy wieder. Die letzte gewählte Rufnummer stammt vom chinesischen Konsulat in Tibet. Ich versuche noch zu erklären, dass ich mich verwählt habe. Vergebens. Als der Wind meine Haustür zuschmeißt, der Sturzregen über die Rinne vom Dach schwappt und die Packungen vom Bofrostmann auf dem Treppenabsatz durchweicht, da tanze ich einen wilden Tanz. Wie die blaue Elise, die wieder einmal versucht, die Ameise Charlie zu fangen und sich dabei selber in die Luft sprengt.

Ich tue, was ich machen kann

Manchmal weiß ich nicht, was ich noch machen soll. Ich tue schon mein bestes, aber das reicht bisweilen einfach nicht. Ach, wie soll ich das erklären?! Also, es gibt Arbeit und es gibt Freizeit. Beide unterscheiden sich in vielen Punkten von einander. Arbeit hält mich von meiner Freizeit ab. Arbeit ist ein ewig gleicher Trott, ein Murmeltiertag, eine Zeitschleife, in der nichts anderes passiert, als die vergangenen Jahre auch. Hochgerechnet schon tausendsechshundert Mal bin ich den selben verschissenen Weg zum Büro schon gefahren. Baustellen im frühen Planfeststellungsverfahren bremsen mich auf die Geschwindigkeit einer Wanderdüne herab. Seit der Mondlandung soll dieser Teil der Autobahn ausgebaut werden. Eine greise Fledermaus und zwei Grottenolme haben hier bisher erfolgreich verhindert, was in Stuttgart nicht gelingt. Auf der Einfädelspur zieht feixend ein Gurkenlaster an mir vorbei und drängelt sich vor mich. Ich schlage aufs Lenkrad, hupe gestikulierend und quetsche mich ohne zu blinken auf den verengten Fahrstreifen zwischen schwarze Limousinen mit LED- Tagfahrlicht und silbernen Buchstaben-Nummern-Koordinaten auf dem Heck. Im zähen Stop and Go geht es voran, Küblböck hat mir immer ein paar Meter voraus. Dann muss ich abfahren. Auf der Abbiegespur gebe ich Gas, versuche noch gleichzuziehen und dem Bazi den längsten Finger zu zeigen, als ich abrupt abbremsen muss, weil ein Bofrostlaster ausschert. Nur Idioten auf der Straße und bei der Arbeit geht es mit Idioten weiter. Lauter Verrückte, ohne Lust und Motivation. Dummheit hat mehr Doppelkonsonanten als sie IQ besitzen und Diät mehr Vokale als ihr BMI beträgt! Aber Schuld haben immer die anderen! Wie mir das Gejammer aus den Ohren heraus hängt!

In meiner Freizeit denke ich so etwas nicht. Da möchte ich den warmen Wind hauchen spüren, das Meer rauschen hören und die salzige Luft schmecken. Ich möchte in das Backfischbrötchen beißen und mir das T-Shirt mit Remoulade bekleckern. Da möchte ich in Weidenkörben nach Muscheln kramen, mir einen Kescher kaufen und schwarze Möwen vor der Sonne zählen. Ich ziehe mir die Schuhe aus und laufe barfuß am Strand entlang und springe über Wellen. Und erst, wenn die Nacht von unten durch den Horizont bricht, falle ich mit Sand in den Haaren und schmutzigen Füßen ins Bett.

So weit das Auge reist

(überarbeitete Fassung)

»Schneller, die Oase ist nicht mehr weit«, schreit er mir ins Ohr.
Ich blicke stumm auf. Die Wüste flimmert wie die A2 im Gegenlicht vor den Kühltürmen des Kohlekraftwerks. Müde und schwer setze ich einen Fuß vor den nächsten. Dann endlich keimen die ersten Palmenblätter am Horizont. Vor Aufregung stolpere ich eine Senke hinunter. Doch die kühle Hoffnung rollt sich auf wie eine Leinwand am Ende des Dia-Abends.
»Nein«, stammele ich und sinke auf die Knie.
Mit beiden Händen greife ich in den glühenden Sand und schmeiße ihn in die Luft. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Schultern hoch, als er wie ein Meteoritenschauer auf mich herunterprasselt. Zornig schüttele ich mir den Kies aus den Haaren.
Mein kleiner Mann ruft wieder: »Los, raff dich auf! Du schaffst es!«
Ich will ihn ignorieren. Zu oft hat er mich schon falsch beraten. Wie damals, als er meinte, ich solle mich zu dem Kurs anmelden »Männer kochen anders« und ich mich in einem Anti-Aggressionstraining für Akademiker wiederfand. Nur verhärmte Sozialarbeiter und Referendare in Latzhosen. Das war vielleicht ein Reinfall.
Das nächste Mal drängte er mich zu einem Niederländisch-Sprachkurs und dann war ich im Urlaub doch im Harz.
Aber diesmal hat er wahrscheinlich Recht. Hier Burgen zu bauen, rettet mich nicht. Matt rappele ich mich hoch und blinzele in die Sonne, die erbarmungslos meinen Liquor zum Sieden bringt. Jeder Schritt gleicht dem stechenden Schmerz einer Spinalanästhesie.
Mühsam schleppe ich mich durch die Senke und bereits auf halben Weg höre ich das muntere Feilschen der Kamelhändler. Endlich tauchen Zelte aus dem Gekrümel auf und es riecht nach Bratapfel mit Zimt.
»Vorsicht«, tönt es hohl aus meiner Gedankenlaube.
»Ruhe!«, murmele ich, »ich weiß schon, was ich tue!«
Mit letzter Kraft krieche ich an toten Schädeln im Wüstensand vorbei bis zum ersehnten Wasserloch. Durstig stecke ich meinen Schlund hinein und saufe in großen Schlucken das trübe Nass.
In diesem Moment tritt mir ein Beduine in die Rippen und zeigt grinsend seine schwarze Zahnpracht. Ich zucke zusammen und setze mich auf.
»Ich habe dich gewarnt«, ruft da mein kleiner Begleiter wieder, »das hast du jetzt davon.«
»Ach, halt‘s Maul«, sage ich zu ihm, »du hast mir die Suppe mit dieser Karawane überhaupt erst eingebrockt! Bleib doch hier, wenn du bange bist.«
Dann stehe ich auf und gehe auf das größte Tipi zu. Ich schiebe den schweren Baumwollstoff zur Seite und trete ein. Das Einkaufsparadies von Teppich Kibek eröffnet sich mir in all seiner Pracht. Der Garten Eden des Vorwerkmannes, die Welttournee seines Kobolds, das Eldorado der Milbenallergiker. Und ich mittendrin. Der Beduine von Loch Ness betritt das Zelt.
»Willst du kaufen schöne Kelim?«, fragt er.
»Wie alt ist sie denn?«, frage ich zurück.
»Was wie alt?«
»Die Kelim!«
»Kelim ist ganz neu! Guckst du hier«, sagt er und geht zu einem Haufen Vorleger, blättert darin herum und zupft von unten eine Katzendecke hervor.
Kritisch reibe ich den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Die kratzt ja«, sage ich, »hast du nichts Besseres?« und gehe auf einen Stapel zu, den er mir bewusst nicht gezeigt hat.
»Was ist mit dem da?«, will ich wissen und zeige auf einen alten Fetzen, der aussieht, als habe Ali Baba darauf an einem Stück die Sahara und alle arabischen Wüsten durchritten.
Entgeistert guckt er mich an, »das ist ganz besondere Teppich«, stammelt er.
»Ich weiß«, entgegne ich, »aber genau den will ich! Den und keinen anderen! Was kostet er?«
»Du willst wirklich habe fliegende Teppich?«, fragt er noch einmal.
»Ja.«
»Dann du musst mir gebe kleine Mann von deine Schulter!«
»Meinen Dschinn? Niemals!«, entrüste ich mich
Er geht einen Schritt auf mich zu, »gib!« zischt er.
Zögerlich fasse ich meinen Begleiter am Rockzipfel, er tanzt und tobt wie Daniel Küblböck in der ersten Staffel von DSDS. Ich greife fester zu und halte ihn am ausgestreckten Arm dem Zeltgesicht entgegen. Er will eben zupacken, da schnellt meine Hand mit dem Superstar zurück.
»Und genügend Wasser für drei, nein, für vier Tage dazu!«, pokere ich und gucke finster in seine gierigen Augen.
»Du bist schlimmer als wie meine Brüder«, knurrt er, willigt aber doch ein.
Schnell ruft er zwei Schergen hinein, die draußen den Filzvorleger und den Kaktussaft bereitstellen sollen. Er selbst stopft den Dschinn in ein altes Holzfass und nagelt den Deckel zu. Dann schlägt er seinen Kaftan über den Arm und weist mir den Weg mit einer eleganten, fast hesterschen Geste hinaus. Dort liegt mein Teppich plan im Streugut, mitten drauf glänzen vier pralle Bocksbeutel ledern in der Sonne.
Die vermummten Gebrauchtwagenverkäufer stehen feixend und johlend drum herum, Schwielensohler schieben spöttisch ihre Kiefer vor und zurück. Ich bahne mir einen Weg hindurch, setze mich auf den zerschlissenen Fußabtreter und durchkämme mit beiden Händen akribisch den dünnen Flor. Hohn prasselt auf mich nieder wie Reis auf das vermeintlich glückliche Brautpaar. Nach scheinbaren Ewigkeiten ertasten meine Finger das, wonach sie suchten. Ich richte mich auf und ziehe ruckartig einen goldenen Faden heraus. Unter den bass erstaunten Gesichtern der Campinggemeinde im luftigen Tuch hebe ich flatternd ab. Ein unfassbarer Jubel, wie ihn sonst nur die nackten Jungs von Tokio Hotel beim Girls Day kennen, weht zu mir empor. Hoch oben über ihrem Outletstore blicke ein letztes Mal zurück und sage meinem alten Dschinn Lebewohl.
Ich kann bis hier hören, wie er verzweifelt an die Wände seines Gefängnisses pocht.


(Originalfassung als Audiodatei)

Potpourri

Das wollte ich schon länger mal machen: Eine Geschichte schreiben, in der alle meine Schlagwörter („Tag-Links“, siehe am rechten Rand) mindestens einmal vorkommen. Ich probiere es mal alphabetisch!

Es ist Heiligabend. Soeben öffne ich das letzte Törchen vom Adventskalender. Was ist das denn? Ich traue meinen Augen nicht: Ein kleines Schokoladenauto. Und wer steigt grade aus? Der Bofrostmann! Wo will der denn so spät hin? Will der etwa noch Tiefkühl- Brötchen ausliefern? Wo denn? Hier in dieser unwirtlichen Gegend, mitten am Deich? Hier gehen die Eier zu Ende, die Frauen spielen Fußball und Haare wachsen am Horizont! Was in aller Welt hat der hier verloren? Leise schleiche ich ihm nach. Das gespenstische Licht des Mondes verzerrt die Schatten der Hühner im Garten von Kapitän Ahab zu einer Karawane Fleisch fressender Saurier. Plötzlich bleibt der Bofrostmann stehen und blickt sich misstrauisch um. Ich zucke zusammen. Hat er mich gesehen? Dämonisch sieht er aus, als würde er Kinder fressen. Ich fürchte um mein Leben, als er einige Schritte auf mein Versteck zugeht. Sein eisiger Atem stirbt in der klirrenden Kälte, kaum dass er sein Maul verlässt. „Ich bin ein Mann“ , denke ich, „zum Sterben ist jetzt keine Zeit!“ und laufe weg. Meine Schritte hallen in der Dunkelheit wie die Schläge des Belzebubs zum Altweiberfasching auf dem glühenden Amboss. Atemlos renne ich zum Meer. „Heiliges Murmeltier, steh mir bei“, schreie ich. Der graue Riese schmeißt unbarmherzig seine kalten Arme nach mir und spült Muscheln um meine Füße. Unsichtbare Möwen schreien durch die Nacht. Meine Nase saugt den salzigen Odem des Todes ein, in den Ohren knistert es nach zertretenem Playmobil. Das Radio in meinem Kopf spielt Julis „Woanders zu Hause“. Dann ist plötzlich Ruhe. Kognitiver Stromausfall. Unendliche Stille. Das Meer schweigt, als habe Neptun Mittagsschlaf verordnet und drohe jedem, der dieses Gesetz missachtet, mit einer Einzelstunde Eurythmie. Mit meinen Zehen presse ich den Sand in meinen Schuhen immer wieder zusammen, bis sich ein kleiner Damm darin bildet. Die Welt um mich herum ist stumm, wie in der Schule beim Englisch- Unterricht, mucksmäuschen still. Selbst die Segel eines trüben, vorüberziehenden Seelenverkäufers halten sich an das unausgesprochene Redeverbot. Ich fröstle.
Mit lautem Getöse poltert die Brandung Ruptus artig wieder los, glitschig wie Seife prescht sie mir ihre klamme Gischt ins Antlitz. Ich muss spucken und kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, brennt die Sonne, obwohl es eben noch stockfinster war. Bis zu den Knien eingegraben stehe ich am Strand, es ist heller Tag. Hinter mir entdecke ich eine schimmernde Tür. Das Wasser frisst gierig ihren Rahmen und drückt an die Buhnen.

Das Leben ist wie die Flut an Weihnachten“ , denke ich, „was die Welle nicht reißt, das reißt der Wichtel!“
In der Tür drehe ich mich noch einmal um und blicke ein letztes Mal zum Ende der Welt. Der Wind bläst mir ins Gesicht, das hält die Windschutzscheibe nicht.

Die Businessfrau – Gesichter einer Reise

(Liebe Leser, auf einer Fahrt mit vielen Hindernissen und Unwägbarkeiten zu einer Fortbildung in das vom Bundesligaabstieg bedrohte Köln entstand im Zug ein erster Entwurf „Gesichter einer Reise“. Aus Zeitvertreib beobachtete ich fremde Menschen und lauschte fremden Gesprächen und stellte mir vor, was die wohl beruflich machen oder wie sie leben. So trug ich Indizien über Menschen zusammen, mit denen ich selbst vielleicht keins oder nur drei Worte gesprochen habe. Sie dennoch mit Worten zu beschreiben und dabei mit verschiedenen Erzählstilen zu spielen, empfinde ich als reizvoll.

Die Businessfrau traf ich im ICE von Dortmund nach Bielefeld. Den Grobtext/ die Notizen habe ich jetzt mit einer Mittelohrentzündung und einer Tasse Salbeitee überarbeitet und verwoben. Ich hoffe, es gefällt euch.

@ Isabelle: Ich liebe Dich und das ist mit Worten nicht zu beschreiben!)

„Ist hier noch frei?“, fragt sie höflich und zeigt auf den Platz mir gegenüber. Ich schrecke aus meinem MURP oder die hohe Kunst der Unvollkommenheit hoch und schaue in ein zartes Gesicht mit hochgesteckten Haaren. Kleine Locken fallen ihr in die Stirn. „Ja“, sage ich knapp, ohne meinen Blick abzuwenden. Es ist eng und stickig im Zug. Sie setzt sich und nimmt ihren Mantel und ihr Gepäck auf den Schoß. Ich klappe meinen Uschmann zusammen und schaue hinaus. Schneeflocken trommeln ans dunkle feuchte Fenster. Im nebeligen Spiegelbild der Scheibe erkenne ich, wie sie einen Laptop aus ihrer Aktentasche zieht und ihn aufklappt. Ich wende den Kopf wieder ihr direkt zu. An ihrem Hals schmiegt sich eine feine Kette mit einer dezenten Perle, die passenden Ohrstecker glitzern matt. Der taillierte dunkelblaue Nadelstreifenblazer skizziert eine attraktive Frau. Sie weiß es. Darunter trägt sie eine schnörkellose helle Bluse, die über ihrer Weiblichkeit spannt. Durch einen Spalt zwischen den Knöpfen lockt ein weißes Trikotunterhemd, ich grüße freundlich zurück. Versunken streift sie sich eine Strähne von der Nase, öffnet den obersten Knopf ihrer Bluse, greift mit der rechten Hand hinein zur Schulter und zupft den Träger zurück. Schade. Dann blickt sie mich an und lächelt. Hinter der randlosen Brille erblühen ihre Augen. „Steigen Sie hier aus?“, fragt sie mich. „Nein“, sage ich, „ich habe noch ein Stück.“ Sie fasst sich ans Ohr, ihre Finger tauchen in ihre Haare und lösen kleine Wellenbewegungen aus.
Irgendwann kündigt das Nordlicht am Horizont meinen Bahnhof an. „Ich muss die nächste Abfahrt raus“, sage ich. „Na dann, gute Heimreise“, antwortet sie. Ich schaue in das kalte Neonlicht und nicke.

Love is in the hair

Ein Gang zum Friseur ist für mich wie ein Gang zum Proktologen: Ich will da nicht hin! Und das Schlimmste ist: Selbst für den Kopfgärtner brauche ich einen Termin! Wie mich das aufregt! Ich will mir ja schließlich nicht die Prostata entfernen lassen. Dass ich dafür einen Termin brauche, das leuchtet mir ein. Das ist ja keine Tür- und- Angel- OP. Da muss der Anästhesist ausgeschlafen sein und der Chirurg benötigt eine ruhige Hand. Sonst ist im Nu das ganze Gemächt mit ab. Der Operationssaal muss frei sein, die Notstromaggregate überprüft. Aber beim Friseur?! Da spielt es doch überhaupt keine Rolle, ob streunende Wichtel durch den Salon laufen und Oma Elli sich neue Locken in die Badekappe ziehen lässt oder Opa Gerd Läuse auf seiner Fleischmütze hat. Das geht alles gleichzeitig und sogar bei Kerzenschein! Also wozu in aller Welt brauche ich einen Termin bei den Perückenschafen? Die Haare wachsen doch auch ohne Vorankündigung. Ich kann heute doch noch nicht wissen, wie mir in der nächsten Woche der Kopf steht! Und dann wollen die mir immer noch irgendwelche Pflegeprodukte und Gespräche aufdrängen. Ich habe keine Schuppen, das sind Gedankenspuren und Intelligenzablagerungen! Und wenn meine Arme lang genug sind, um im Stehen zu pinkeln, werden sie auch noch bis zum Schädel reichen. Haare waschen kann ich selber! Mann oh Mann! Ich könnt mich vielleicht aufregen!
Ob das an meinem Eisprung liegt?

Rund um die Frau

Das habe ich so in einer kleinen ostwestfälischen Stadt gelesen. Da, wo ich nicht tot überm Zaun hängen möchte. Aber das ist hier jetzt nicht von Belang. Die Messe könnte unter diesem Titel überall in Deutschland stattfinden.
Auf ausgetretenen Pfaden strömt die Zielgruppe hinein in den Dschungel der pastell- farbenen Begehrlichkeiten von Schmuck, Parfüm, Dessous, Wellness und Fitness, Haartrends, Dekorieren, Urlaub, Essen und Trinken und Trennungsberatung. Ihre andersgeschlechtlichen Tragehilfen trotten mürrisch hinterher, es ist Samstag, Bundesligazeit.
Direkt am Eingang präsentiert der Ortsverein von den Weight Watchers unter dem Slogan „Rund war die Frau“ Ernährungstipps und Punktetabellen. Diät-Assistentinnen reichen ungesüßten Tee und stilles Wasser zu gedünstetem Rohkostschnitzel auf einem ungeschälten Wildreismantel. Im Inneren der Halle hält die Vorsitzende des Anorexie- Verbandes, die einer Brausestange Konkurrenz machen könnte, einen Multimedia- Vortrag zum Thema „Ich esse meine Suppe nicht“ und projiziert ein verzerrtes, dünnes Kerlchen auf Wand und Decke. Ich mache mit beiden Händen ein tolles Schattenbild (ein Murmeltier!) und werde prompt mit Süßstoffwürfeln beworfen. Fluchend flüchte ich hinter einen Vorhang, als ein schriller Schrei das Gemurmel zerreißt, der von den kalten Metallwänden zurückgeworfen wird. Entsetzt drehe ich mich um und bekomme im gleichen Augenblick einen Seegraskorb um die Ohren geschlagen. Pröbchen, Rabattgutscheine, Traubenzucker, bedruckte Einkaufswagenchips, Feuerzeuge und Kugelschreiber purzeln wild umher. Erst am Hara- Stand kann ich meine Verfolgerinnen abschütteln, indem ich mich durch den Pulk interessierter doppelter X- Chromosomenträger in die erste Reihe drängele. Mit einem revolutionären neuen Putzsystem mehr und einem gefühlten Monatsverdienst weniger schleiche ich von dannen und lasse mich erschöpft in einem Massage- Sessel nieder. Das schwarze Leder klebt schwer auf meinem durchschwitzten Trikot. Ich schaue auf die Uhr, Halbzeit. Ich werfe 5 Euro in den Automatenschlitz und will grade die Zwischenergebnisse auf meinem Handy abrufen, als mich vier stählerne Hände von hinten packen. Ich blicke in zwei stiernackige PEZ- Gesichter, die mit offenen Mündern und schiefen Nasen zur Tür nicken. Ohne Widerstand schnappe ich mir meinen Eimer und vor der Türe ein wenig frische Luft. Die Sonne sticht mir in den Augen. Die Sportschau um 18 Uhr verpasse ich, weil ich erst die Schlüssel und dann das Auto nicht finde.
Nächste Woche ist wieder Messe, diesmal „Rund um den Mann“. Da gehe ich sicher hin, Gina Wild gibt Autogramme!