Das letzte Einhorn

Manchmal kann ich mich einfach nicht entscheiden.

Ich möchte meine Ruhe, aber auch nichts verpassen.
Ich möchte gut essen, aber schlanker sein.
Ich wäre gerne jünger, aber nicht unreif.

Ich würde gerne mehr aus mir herauskommen, verlasse aber tagelang das Haus nicht.
Ich würde gerne etwas anders machen, hasse aber Veränderungen.
Ich möchte einfach nur, dass eins plus eins eins ist.

Ich möchte nachts nicht mehr raus müssen und morgens liegen bleiben.
Ich wünsche mir mehr Zeit, um am Meer zu sein.
Ich möchte raus aus meiner Haut.

Ich möchte mein Gegenüber finden. Jemanden, der mich aushält. Der mich trotz meiner Sorgen und Ängste liebt. Vor dem ich nichts erklären und rechtfertigen muss. Der mich versteht, auch wenn ich schweige. Der mir Antworten gibt, mich aber nicht in Frage stellt. Der im passenden Moment meine Hand nimmt und wieder loslässt. Jemanden, mit dem ich lachen kann, der aber den Ernst der Lage erkennt, wenn ich wieder einmal mit meinen Widersprüchen nicht zurechtkomme.

Strandgut

Nach ein paar stürmischen und kalten Tagen ist wieder Ruhe eingekehrt. Handschuhe versüßen mir den Moment. Das Meer liegt sanft da, während es zuvor drohte, die Seebrücke umzuschmeißen. Das Toben der See und das Fauchen des Windes haben nachgelassen. Endlich nur ein friedliches Wogenplätschern. Andere Lichtempfindungen, andere Gedanken. Die Bank am Tisch ist frei, dafür mehr im Schatten als meine. Ich zögere noch. Solange sie niemand haben will, solange bleibe ich auch hier. Missgünstig eine Fliege verscheucht, die sich vorlaut an meinem Rucksack zu schaffen gemacht hat.
Doch den Platz getauscht. Schreibe nun am Tisch, ist einfacher. Es könnte wärmer sein, aber ich wollte nicht länger auf dem Zimmer sein. Klappse liegt weit weg. Da liegt sie gut. Am liebsten würde ich sie da auch lassen. Ich will nicht zurück, will etwas Neues. Suche und brauche Ruhe und Entspannung. Will diese verrückten Geschichten nicht mehr hören, machen mich alle. Will raus aus dem Molloch. Vielleicht ein Haus am See? Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Wind kommt auf, Spaziergänger mit Hund. Schurrmurr. Miniaturen. Gedanken befreien, Stoffstückchen und Worte sammeln. Piratenflagge. Hau ab und lass mich in Frieden. Scheiß Töle. Auto fährt vorbei, Mülleimerdeckel schlägt zu, Vogel zwitschert. »Trinkpause, Keks essen.« Aber nicht hier an meinem Tisch, Gott sei dank! Pferd am Strand, reitet weg. Boot am Horizont. Gebell macht die Idylle kaputt. Menschen mit Hunden glauben, es sei normal und in Ordnung, wenn ihre Köter das tun. Der Kleinste ist der lauteste. Die Blonde war auch schon mal da, wählt aber eine andere Bank. Er kläfft weiter. »Ihr Hund freut sich auf das Meer«, wenigstens einer. Boah, ist das ein dämlicher Kläffer, hoffentlich ersäufst du.
»Ich habe Hunger«, schreit ein Blag. Ihr hättet auch gerne einen Tisch? Hahaha, leider bereits besetzt.
Mistdreck, da kommt noch einer. Man könnte fast meinen, ich bin am Hundestrand.
Nie bin ich alleine, irgendwas ist immer. Lasse die Gedanken fließen, zensiere sie nicht, sortiere sie nicht. Brauche Worte, Sätze, Ideen und Anregungen.

Klotz packt aus, Klotz räumt ein. Er sitzt da, starrt aufs Meer, will raus aus seinem Alltag, der ihn belastet, den er nicht mehr verarbeiten kann. Er sucht nach Auswegen und Lösungen, findet aber keine, dafür Krach und Hundescheiße. Es muss weitergehen, ohne Pause! Unsicheres Gegickere. Blond und blind. Wellen, Vögel.

Klotz kommt einen Moment zur Ruhe, lauscht den Geräuschen, fühlt sich wohl. Kalt zwar, aber er ist am Meer. Wo alles anders ist.

Der Kugelschreiber scheint bald aufgeben zu wollen. Einen Neuen zu kaufen scheidet aus, wo doch zu Hause die ganze Schublade damit voll ist. Die Füße auf den kleinen Absatz unter dem Tisch gestellt. Unter den geht aber auch. Da ist sie wieder, die Blonde. Bewegt sich, stellt sich in die Sonne, hinterlässt Fußspuren im Sand.

Klotz muss mittendrin sein, um schreiben zu können. Schreiben! Welch wunderbares Tun.

Sie schaut mich an, Ü40, wirkt dennoch verspielt, enge Jeans, debil? Nimmt ihr Rad, schiebt es an die Straße. Wieder fast alleine an meinem Schreibplatz. Eigentlich ist es zu kalt, Finger frieren trotz Handschuhen. Dehnungsübung am Geländer. Jetzt das andere Bein, ich könnte das nicht. Einen Kugelschreiber habe ich schon weggeworfen. Schade, dass ich mit die Anfangszeit des Schreibens nicht notiert habe, wäre gespannt. 45 Minuten noch bis zum Mittagessen. Hähnchenfilet Toskana oder so. Freue mich auf Wärme. Auto hält, Türen schlagen. Eindrücke aufnehmen, staccatoartig festhalten. Stoffmuster, Nähproben, einfädeln, sonst entsteht keine Geschichte. Was?! Geht weg, will nicht reden, will euch nicht zuhören. Brauche Flow, halte ihn aufrecht. Muss das tun. Muss es wegschreiben, damit Gedanken weg sind. Lila Mütze. Noch eine, dafür mit Puschel. Karopapier oder doch lieber Linie? Ich oder der Kugelschreiber? Wer von uns beiden gibt zuerst auf? Lange kann es nicht mehr dauern. Unzensiert sein dürfen. Das ist mir wichtig. Stehenlassen können. Weg ist die Aufwärmerin, gut so, Dummbatze. Hat mir nur den Blick aufs Meer verstellt. Vielleicht ist dem Kuli auch zu kalt. Sollte ich später mal googeln oder vorsorglich nach einem anderen die Augen offen halten. In der Sparkasse einen klauen, umlagern. Stehen da oben immer noch und quatschen. Haben die kein Zuhause? Schwarzer Van. Muss nun los, will nicht stoppen, friere aber durch. Rücken, Nase, zu kurze Socken. Fetter Arsch mit Rucksack. Laterne, schief, sieht sozialistisch aus.
»Warte, Papa will noch die Jacke zumachen!« Ja, dann mach doch und halt das Maul!
Paradoxerweise hätte ich nichts zu schreiben, oder weniger, wenn die Idioten nicht hier wären. Endlich verschwinden die Tratschtaschen. Das Kind weint.
Ich gehe meinen Weg zurück.

Am Ende der Wurst

Manchmal sitze ich da und frage mich, was wohl am Ende passiert. Geht dann einfach das Licht aus? Zappenduster sozusagen? Oder kommt da noch was?
Natürlich weiß ich, dass es müßig ist, diese Frage zu stellen, denn die Antwort darauf weiß keiner. Jedenfalls keiner, der Verstand hat. Ich will auch gar nicht wissen, was oder wer konkret auf mich wartet. Es könnte ja meine erste Englischlehrerin sein, Frau Kornfeld, die mich Vokabeln abfragt, hämisch dabei grinst wie ein altes Pferd und sich dann Notizen in ihr rotes Heftchen macht. Oder es könnte der Rotzer aus Haus Nummer 6 sein, der am Torbogen zum Himmelsreich, denn da werde ich wohl hinkommen, steht und lauert und jedem Neuankömmling auf den Kopf spuckt. Zwar hätten genau das manche oder besser gesagt: viele, die ich kenne, weiß Gott verdient, aber selbst der konnte mir nicht wirklich eine plausible Antwort geben. Und dabei hätte ich genau das, und eigentlich nur das, von ihm erwartet. Es ist ja schließlich eine ganz einfache Frage: Gibt es da noch was?
Ich hätte halt nur gerne Gewissheit, ob es lohnt, wach zu bleiben oder am Ende doch nur eine Wiederholung von Dinner for one läuft, ehe der ganze Schlamassel von vorne beginnt und ich Vokabeln lernen muss.

Aller Laster Anfang

Irgendwann hat es begonnen. Es war gar nicht so geplant, sondern es fiel mir eher in den Schoß, obwohl ich gar nicht saß. Keiner kann es bezeugen, weil keiner dabei war und ich selbst weiß ja auch nicht, wie und warum es geschah. Auf einmal war es halt da, als wäre es das schon immer gewesen. Und ich war glücklich und zufrieden damit, denn es fühlte sich gut an.

Doch eines Tages war es genauso plötzlich weg, wie es gekommen war. Ich suchte überall, in allen Schubladen, Skizzenbüchern und Schränken, sogar im Keller, in den ich eigentlich wegen der Spinnen nur höchst ungerne hinuntergehe. Ich war verzweifelt, gab Suchanzeigen in der überregionalen Zeitung auf und klebte Zettel an die Laternen in meiner Straße. Aber was ich auch anstellte, es blieb verschwunden.

Erst, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, klingelte es an meiner Tür und grinste mich an, als wollte es sagen: „Da bin ich wieder! Hast du mich vermisst?“ Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte. Wie angewurzelt stand ich einfach da und starrte es an. Es ahnte wohl, dass jetzt nicht die Zeit für belanglose Worte war und schwieg.

Minutenlang geschah nichts. Nur es und ich stumm auf dem Treppenabsatz.

„Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet“, sagte ich schließlich, „aber wenn der Hund tot ist, begräbt man ihn besser!“ Dann nahm ich es ein letztes Mal in den Arm, ging, ohne mich umzudrehen und auf eine Antwort zu warten, ins Haus zurück und schloss hinter mir die Tür.

Augenblick

Wenn es um mich herum wieder einmal rundgeht, schließe ich die Augen und beginne in meiner Phantasie zu wandern.
An manchen Tagen auf so einer Reise bin ich 14 Jahre alt und fiebere dem ersten Mal entgegen, an anderen bin ich 52 und wäre gerne 14. Ich kann der Held am Vormittag sein, dann ein kurzes Schläfchen halten und am Abend von einer rothaarigen Fee gerettet werden. Ich laufe durch das endlose Watt, spüre die Sonne auf meiner Haut oder liege im grünen Gras und höre das Laub rauschen. Nichts stört, nichts zwickt oder drückt.

Meistens aber fehlt mir die Zeit zum Träumen. Von der weiten Welt und den kleinen Augenblicken. Von einem Karmann Ghia Cabriolet, einem eigenen Atelier, einem Haus am Meer mit Olivenbäumen im Garten oder von der großen Liebe, die mich noch einmal küsst.
Manchmal, wenn ich daran denke, habe ich Angst, es zu verpassen, weil ich die Augen zu habe. Dann wünsche ich mir, die Erde wäre eine Scheibe, mit einem Zaun am Horizont, damit ich nicht falle.