Im Visier

Manchmal träume ich einfach vor mich hin. Wie das Leben sein könnte. Wie es sein könnte, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte. Müßig sind diese Gedanken, dass weiß ich auch, aber nichtsdestotrotz spannend. Doch das tut hier nicht zur Sache.

Zufrieden und entspannt sitze ich auf einer Bank am Meer, futtere Krabbenchips und beobachte eine Möwe. Sie steht schon seit einer viertel Stunde auf einem Strandkorb und tut unauffällig so, als betrachte sie die Badebucht, die tollenden Hunde, die bunten Drachen am Himmel, die flanierenden Menschen. In Wahrheit aber glaube ich, sie stalkt mich und hat meine Position mit ihren Adleraugen bereits ganz nah herangezoomt, um mich auszuspionieren. Bestimmt arbeitet sie bei Möwy CIS und soll meine Ess- und Schlafgewohnheiten, meinen Porno-, Alkohol- und Nikotinkonsum erfassen und dem unterirdischen Hauptquartier melden, wo schließlich alle Informationen über mich zusammengetragen werden. Vielleicht hockt sie auch nicht erst seit heute dort, sondern weiß sogar, was ich letzten Sommer gemacht habe. Oder sie trägt eine winzig kleine Atombombe am Fuß und soll mich um dreiviertel zwölf liquidieren, wann immer das auch sein mag.
Plötzlich tauchen zwei grau gekleidete Tauben-Kollegen von ihr auf, setzen sich genau vor mir auf das Mäuerchen und glotzen mich unverfroren an. Offenbar hat sie Unterstützung eingefordert, weil sie allein mit mir nicht mehr fertig wird. Das ist ja wieder typisch, als würde ich das nicht merken! Ich bin doch nicht blöd, die sind schließlich alle miteinander vernetzt. Man hat ja schon oft gehört, dass sie einem durch die Augen in den Kopf gucken können, sich dann die fremden Gedanken aufschreiben und als Brief direkt zum
Geheimnisministerium bringen, ehe man auch nur annähernd weiß, was gerade geschehen ist. Nein, nicht mit mir, darauf bin ich gut vorbereitet. Geschickt verdecke ich mir mit der Hand das Gesicht und verscheuche sie mit einem kleinen Tritt. Maulend stieben sie davon, erstatten dem Boss auf dem Strandkorb Bericht. Sollen sie doch!
Ich nehme mir einen großen Schluck Bier, spüle damit meine Tabletten herunter und fühle meinen Puls. Puh, noch einmal gut gegangen. Ich dachte schon, ich drehe durch.

Sturm in der Brandung

Der Jever- Mann
Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall und schaue hinein. Aber Klopf ist nirgends zu sehen. Vorsichtig hebe ich das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig zur Seite. Glück gehabt, er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack, er tut so, als merke er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa hupt schon und fächert mit den Armen. „Wo warst du denn noch?“, will er prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Schon brausen wir los.
Nach zähen und unendlichen Stunden auf der Autobahn, einem Dutzend Fünf Freunde- CDs und ebenso vielen Nutellabrötchen kommen wir endlich am Fähranleger in Rømø an. Seit vor ein paar Jahren ein Sturm einen Laster vom Sylt- Shuttle gepustet hat, fahren wir immer über Dänemark auf unsere Urlaubsinsel. Papa ist da abergläubisch, „wer einen Laster umschmeißt“, sagt er immer, „der macht auch vor einer E- Klasse nicht halt.“
Wir sind spät dran diesmal und der Kapitän trötet bereits dreimal, als Papa endlich die Tickets in der Hand hat und wir auf den Autokutter fahren können. Im Internet zu buchen ist auch nicht so seine Sache. Auf dem völlig überfüllten Deck quetschen wir uns zwischen Fahrräder und Kinderwagen auf eine hölzerne Backskiste. Der Wind pfeift uns um die Ohren und die Abendsonne lächelt müde. Dann brummen die schweren Dieselmotoren los. Das Schiff vibriert wie eine alte Waschmaschine, dunkler Rauch steigt empor, die Möwen stieben von den schiefen Birken im Fahrwasser auf und hoffen auf einen Bissen.
Ich schaue meinen Bruder an, er nickt und schon wuseln wir durch Wolfstatzen- Jacken, Fleece- Pullovern, Softshell- Westen zum Bug. Doch ausgerechnet dort feiern die Kicker vom Team Sylt lautstark das Erreichen des Achtelfinales beim Dana- Cup in Nord- Jütland mit Koffein haltigen Kaltgetränken, Fassbrause und Eistee. Kurzerhand machen wir kehrt und schlängeln uns zum Heck mit den riesigen Propellern. Wir packen unsere Toggo- Lutscher aus und spucken ins aufgeschäumte Wasser. Papa ist sitzengeblieben und muss auf unsere Sachen aufpassen.
Am Inselhafen List fallen mir die Augen zu. Ich träume von Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Erst als Papa mich zudeckt und mir einen Gute- Nacht- Kuss gibt, blinzele ich ihn schlaftrunken an. „Wo sind wir?“, will ich wissen. „Da, wo der Klabautermann auf Kaperfahrt geht“, sagt er lieb. Dann schlafe ich wieder ein. Papa geht zurück ins Wohnzimmer und fällt um wie der Jever- Mann.

Faltiger Autist
Am nächsten Morgen wache ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Endlich kann ich mich um Klopf kümmern. Vorsichtig hole ich ihn aus meinem Rucksack und schaue ihn an. Er scheint noch zu schlafen. Manchmal denke ich, er könnte mich verstehen, wenn er mich anschaut und seinen faltigen Hals reckt. Dann erzähle ich ihm, wie ich einmal das Feuerwehrauto von meinem Bruder im Sand verbuddelt habe, weil ich so eins auch gerne hätte. Oder wie ich Lauf, seinem Hamster, die Füßchen mit Tesafilm umwickelt habe, weil er schneller war als Klopf. Oder dass ich mir kurz vorm Einschlafen heimlich die Bettdecke in den Schlafanzug stopfe, damit ich morgens nicht nass bin. Sonst dürfte ich Klopf nicht behalten, hat Papa gesagt. Dann nickt Klopf immer und gibt mir Recht. Er ist auch der einzige, der weiß, dass ich gerne Leuchtturmwärter werden möchte. So wie Herr Tur Tur auf Lummerland. Das muss schön sein, abends einmal die Wendeltreppe raufsteigen, die Petroleumlampe anzünden und morgens wieder löschen. Keine Nacht darf es ausbleiben, meinen fünften Geburtstag nicht, nicht Weihnachten, und nicht freitags, wenn die Schmutzfrau kommt. Ich muss immer da hoch. Mit Einbruch der Dunkelheit muss das Licht brennen. Es ist eine wichtige Aufgabe. Klopf versteht mich. Papa nennt ihn manchmal faltiger Autist. Ich weiß nicht, was das ist.
Nach dem Frühstück geht Papa mit uns in einen kleinen Laden in der Friedrichstraße. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Spielzeug zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er wieder, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller! Boah, ich habe echt keine Lust mehr und zeige auf mein T- Shirt. I’m the boss steht da. Das zählt nicht, erklärt Papa mir, Papa sei mehr als Chef. Dann will ich doch lieber Leuchtturmwärter werden. Oder faltiger Autist.

Wir lieben die Stürme
Der Wind kurvt mit uns im Slalom um jeden Poller, jeden Anker und jede Boje herum. Er taumelt über rot geklinkerte Wege, braust an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, saust mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und mit uns an Papas Hand wieder hinauf. Auf dem Sandgipfel bleiben wir stehen und staunen: Groß, weit und dunkel erstreckt sich der graue Riese bis zum Horizont. Grollend wirft er seine kalten Arme ans Ufer, als sei er nie weg gewesen. Sein eisiger Atem fegt feuchte Gischt wie eine Horde aufgescheuchter Krabben beim Schulausflug vor sich her, schmeißt Standkörbe um und drückt dicke Kinder die Rutsche wieder hoch. Volleyballnetze stehen steif in der eisigen Brise wie schwer gefüllte Reusen, Klaffmuscheln graben sich tiefer in den Sand. Mein Käppi reißt sich los wie ein wild gewordenes Seeungeheuer, scheucht Thalasso- Wanderer vor sich her und sprengt eine Gruppe Qigong- Tänzer im Dünengras auseinander.
Benommen stolpern wir in die Villa Kunterbunt zum Piratentag. Laut brüllend entern wir die Welt, lotsen unser Boot durch gefährliche Untiefen und an Monster- Riffen vorbei. Wir schießen mit Korken- Kanonen auf Kokosnüsse, schruppen das Deck und pumpen Wasser aus den Kajüten. Wir überstehen die Pest und Skorbut, verlieren dabei alle Zähne und ein Bein. Wir jagen Ratten von Bord, Wale im tiefen Meer und heben auf einer einsamen Insel einen großen Schatz.
Erst bei Sonnenuntergang laufen wir wieder in unseren Hafen ein. In der Kombüse gibt es salziges Pökelfleisch und faules Wasser. Der leuchtende Zyklop blinzelt uns aufmunternd zu. Der Sturm hat sich gelegt.

Du bist nicht mehr mein Freund!
“Matschpatsch” macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Mit dem Plattmacher klopfe ich die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Aber der Stinkstiefel will meinen Kescher dafür haben. „Ich bin nicht mehr dein Freund“, brülle ich, trampele meine Burg selbst kaputt und marschiere los. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. In meinen Eimer sammle ich Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen, er ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Wasser und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel! Mein Bruder wird staunen.

PS: Es handelt es sich hierbei um ältere, überarbeitete Beiträge, sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen.

Holzklasse

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4), Schnurlos (Kapitel 5) und Murmeltier und Sehnsucht (Kapitel 6)

Mit Carlottas Anschrift in der Tasche stand ich in aller Herrgotts Frühe und Mutterseelen alleine auf dem einzigen Gleis unseres kleinen verschlafenen Provinzbahnhofes. Zweimal in der Woche hielt hier quietschend ein völlig überfüllter Schienenschlitten, es war die einzige Verbindung ins drei Stunden entfernte Mailand. Ich blinzelte gegen die aufgehende Sonne. Aus der Ferne konnte ich den Tross schon seit 10 Minuten schnaufen hören, jetzt endlich bog er mühsam gegen die Erdrotation um die letzte langgezogene Kurve. Als er zum Stehen kam, geriet die Welt für einen Moment in eine instabile Lage. Sensoren in Castrop-Rauxel verzeichneten ein Beben von 2,6 auf der nach oben offenen Richter- Skala, ein Kartenhaus stürzte zusammen und Oma Elli plürrte in der Zechensiedlung mit der Steckrübensuppe auf das gestärkte, leinene Tischtuch. Träge tropfte die Brühe auf den Boden, zischend und dampfend erschlug sie dabei eine Mücke, die sich über eine herunter gefallene Scheibe Blutwurst hermachte. Dat Elli wischte sich die Hände in der Kittelschürze ab und fluchte, die verklebten Gesichter an den Scheiben tauten auf. Ich balancierte mit meinen Rucksack über morsche Bretter und fand im verkokten Waggon direkt hinter der Tenderlokomotive einen Platz. Im Gepäcknetz flatterten schon ein paar Hühner, und so stopfte ich mein Hab und Gut unter die Holzbank. Langsam wie eine Wanderdüne ruckte unser schwarzer Koloss wieder an. Nach gut 20 Minuten hatte der letzte Pritschenanhänger die Bahnhofsgleise verlassen, die Pest hat sich im Mittelalter schneller verbreitet. Die Landschaft wechselte sich ab wie ostwestfälisches Wetter: Mal humpelten wir vorbei an sanft aufgewühlten Hügeln. Da Vinci wäre aus Wellen förmigen Malbewegungen gar nicht mehr herausgekommen und hätte dabei gleichzeitig die kleine Nachtmusik dirigieren können, wenn es sie schon gegeben hätte. Dann wieder balancierten wir schmale Kletterpfade empor, schroffe und zugleich abenteuerliche Felswände beugten sich zu uns herab. Einmal preschten wir über eine selbst tragende Holzbrückenkonstruktion. Mutig wie ein Bungeespringer und unbeirrbar wie Lothar Matthäus, der immer glaubte, irgendwann einmal ein deutsches Traineramt übernehmen zu können, schoben wir uns auf das fragile Mikadogerüst. Es ächzte wie ein alter Truhendeckel und bog sich in der Mitte durch, aber es hielt. Leonardo schaute stolz aus dem Fenster. Über mir gackerte es erleichtert und Federn stoben hektisch durch die Luft, als schüttele Frau Holle die Betten auf. Und schließlich durchquerten wir den letzten Finstertunnel vor der weiten Ebene Norditaliens. Die bleichen Köpfe meiner Mitreisenden begannen wieder zu schnattern. Ich hörte ihnen nur mit einem Ohr zu, mit dem anderen lauschte ich Carlottas Stimme in meinem Kopf. Ihr Lachen hatte schon beim ersten Mal ein zartes Crescendo in mir ausgelöst, begleitet von André Rieu auf seiner Quietschfiedel. Ich schloss die Augen. Mein Kopf wippte im Takt, als mich eine sonore Bassstimme ansprach und nach meinem Biglietto verlangte. Subito verstummte die Stadivari, es war Mucksmäuschen still im Konzertsaal. Übermüdete und verschwitzte Statisten drehten sich zu mir um, als er die Aufforderung wiederholte. Ich schreckte hoch, schaute in das Antlitz des Dunklen Lord und kramte hektisch in den Untiefen meines Rucksackes nach meiner Fahrkarte. Wie ein Murmeltier grub ich mich tiefer und tiefer hinein, vorbei an Tramezzini in aufgeweichten Brottüten, Ciabatta mit Marmelade, hart gekochten Eiern und einer undichten Thermoskanne. Endlich pflückte ich erleichtert eine aufgeweichte grüne Pappe hervor und reichte sie ihm Axel zuckend. Er nickte stumm und ratschte eine dicke Ecke davon ab. Ich wollte sie eben wieder in die Tasche packen, als ich feststellte, dass er Carlottas halbe Anschrift, die ich mir auf der Karte notiert hatte, abgerissen hatte! Außer Via Dora und einer fragmentarischen Telefonnummer war nichts mehr zu lesen! Entgeistert schaute ich ihm hinterher, meine Augen scannten hektisch den ganzen Subraum um mich herum ab. Ich spulte die Szene zurück, die Stimmen klangen dabei wie der Singsang verliebter Buckelwale. Dann hatte ich den Moment gefunden, stoppte und spielte ihn wieder ab: Ich gab ihm das Ticket in die Hand, er riss davon einen Batzen ab und … ließ das Stückchen einfach fallen. „Grazie“, hörte ich mich sagen. Wie Herbstlaub sah ich es noch zu Boden tänzeln. Ich starrte auf das löchrige Holzpaneel unter meinen Füßen. Pechschwarz eilten alte Bahnschwellen darunter zurück. Endlich entdeckte ich das goldene Los, den Bundesschatzbrief, das letzte fehlende Sammelbild, die Schatzkarte, den Lottoschein mit dem höchsten Jackpot seit Jack Sparrow. Ich bückte mich und behutsam streckte ich meine Hand hervor, als Oma Elli eine saubere Tischdecke auflegte und ein kräftiger Zug durch den Zug wehte. Mein Leben rutschte durch einen finsteren Spalt und flatterte davon wie eine aufgescheuchte Möwe.

Hier geht es dann weiter.

Ich tue, was ich machen kann

Manchmal weiß ich nicht, was ich noch machen soll. Ich tue schon mein bestes, aber das reicht bisweilen einfach nicht. Ach, wie soll ich das erklären?! Also, es gibt Arbeit und es gibt Freizeit. Beide unterscheiden sich in vielen Punkten von einander. Arbeit hält mich von meiner Freizeit ab. Arbeit ist ein ewig gleicher Trott, ein Murmeltiertag, eine Zeitschleife, in der nichts anderes passiert, als die vergangenen Jahre auch. Hochgerechnet schon tausendsechshundert Mal bin ich den selben verschissenen Weg zum Büro schon gefahren. Baustellen im frühen Planfeststellungsverfahren bremsen mich auf die Geschwindigkeit einer Wanderdüne herab. Seit der Mondlandung soll dieser Teil der Autobahn ausgebaut werden. Eine greise Fledermaus und zwei Grottenolme haben hier bisher erfolgreich verhindert, was in Stuttgart nicht gelingt. Auf der Einfädelspur zieht feixend ein Gurkenlaster an mir vorbei und drängelt sich vor mich. Ich schlage aufs Lenkrad, hupe gestikulierend und quetsche mich ohne zu blinken auf den verengten Fahrstreifen zwischen schwarze Limousinen mit LED- Tagfahrlicht und silbernen Buchstaben-Nummern-Koordinaten auf dem Heck. Im zähen Stop and Go geht es voran, Küblböck hat mir immer ein paar Meter voraus. Dann muss ich abfahren. Auf der Abbiegespur gebe ich Gas, versuche noch gleichzuziehen und dem Bazi den längsten Finger zu zeigen, als ich abrupt abbremsen muss, weil ein Bofrostlaster ausschert. Nur Idioten auf der Straße und bei der Arbeit geht es mit Idioten weiter. Lauter Verrückte, ohne Lust und Motivation. Dummheit hat mehr Doppelkonsonanten als sie IQ besitzen und Diät mehr Vokale als ihr BMI beträgt! Aber Schuld haben immer die anderen! Wie mir das Gejammer aus den Ohren heraus hängt!

In meiner Freizeit denke ich so etwas nicht. Da möchte ich den warmen Wind hauchen spüren, das Meer rauschen hören und die salzige Luft schmecken. Ich möchte in das Backfischbrötchen beißen und mir das T-Shirt mit Remoulade bekleckern. Da möchte ich in Weidenkörben nach Muscheln kramen, mir einen Kescher kaufen und schwarze Möwen vor der Sonne zählen. Ich ziehe mir die Schuhe aus und laufe barfuß am Strand entlang und springe über Wellen. Und erst, wenn die Nacht von unten durch den Horizont bricht, falle ich mit Sand in den Haaren und schmutzigen Füßen ins Bett.

Potpourri

Das wollte ich schon länger mal machen: Eine Geschichte schreiben, in der alle meine Schlagwörter („Tag-Links“, siehe am rechten Rand) mindestens einmal vorkommen. Ich probiere es mal alphabetisch!

Es ist Heiligabend. Soeben öffne ich das letzte Törchen vom Adventskalender. Was ist das denn? Ich traue meinen Augen nicht: Ein kleines Schokoladenauto. Und wer steigt grade aus? Der Bofrostmann! Wo will der denn so spät hin? Will der etwa noch Tiefkühl- Brötchen ausliefern? Wo denn? Hier in dieser unwirtlichen Gegend, mitten am Deich? Hier gehen die Eier zu Ende, die Frauen spielen Fußball und Haare wachsen am Horizont! Was in aller Welt hat der hier verloren? Leise schleiche ich ihm nach. Das gespenstische Licht des Mondes verzerrt die Schatten der Hühner im Garten von Kapitän Ahab zu einer Karawane Fleisch fressender Saurier. Plötzlich bleibt der Bofrostmann stehen und blickt sich misstrauisch um. Ich zucke zusammen. Hat er mich gesehen? Dämonisch sieht er aus, als würde er Kinder fressen. Ich fürchte um mein Leben, als er einige Schritte auf mein Versteck zugeht. Sein eisiger Atem stirbt in der klirrenden Kälte, kaum dass er sein Maul verlässt. „Ich bin ein Mann“ , denke ich, „zum Sterben ist jetzt keine Zeit!“ und laufe weg. Meine Schritte hallen in der Dunkelheit wie die Schläge des Belzebubs zum Altweiberfasching auf dem glühenden Amboss. Atemlos renne ich zum Meer. „Heiliges Murmeltier, steh mir bei“, schreie ich. Der graue Riese schmeißt unbarmherzig seine kalten Arme nach mir und spült Muscheln um meine Füße. Unsichtbare Möwen schreien durch die Nacht. Meine Nase saugt den salzigen Odem des Todes ein, in den Ohren knistert es nach zertretenem Playmobil. Das Radio in meinem Kopf spielt Julis „Woanders zu Hause“. Dann ist plötzlich Ruhe. Kognitiver Stromausfall. Unendliche Stille. Das Meer schweigt, als habe Neptun Mittagsschlaf verordnet und drohe jedem, der dieses Gesetz missachtet, mit einer Einzelstunde Eurythmie. Mit meinen Zehen presse ich den Sand in meinen Schuhen immer wieder zusammen, bis sich ein kleiner Damm darin bildet. Die Welt um mich herum ist stumm, wie in der Schule beim Englisch- Unterricht, mucksmäuschen still. Selbst die Segel eines trüben, vorüberziehenden Seelenverkäufers halten sich an das unausgesprochene Redeverbot. Ich fröstle.
Mit lautem Getöse poltert die Brandung Ruptus artig wieder los, glitschig wie Seife prescht sie mir ihre klamme Gischt ins Antlitz. Ich muss spucken und kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, brennt die Sonne, obwohl es eben noch stockfinster war. Bis zu den Knien eingegraben stehe ich am Strand, es ist heller Tag. Hinter mir entdecke ich eine schimmernde Tür. Das Wasser frisst gierig ihren Rahmen und drückt an die Buhnen.

Das Leben ist wie die Flut an Weihnachten“ , denke ich, „was die Welle nicht reißt, das reißt der Wichtel!“
In der Tür drehe ich mich noch einmal um und blicke ein letztes Mal zum Ende der Welt. Der Wind bläst mir ins Gesicht, das hält die Windschutzscheibe nicht.

Meine Perle und ich

Da liegt sie nun. Ich stehe einen Moment nackt vor dem Bett und schaue sie an. Dann gehe ich leise ins Bad. Unter der Dusche lasse ich mir das Wasser auf den zerschundenen Rücken prasseln. Ich schließe die Augen und sehe die Szenen von gestern Nacht wieder vor mir: Als ich nach der Arbeit nach Hause kam, wartete sie schon. Ich hatte Blumen mitgebracht und stellte sie auf den Küchentisch. Im ganzen Haus roch es nach frischer Farbe, die Maler konnten noch nicht lange weg sein. Es war schön, die Wohnung jetzt nach Wochen langer Renovierungsphase so zu sehen. Für alle hat das Einschränkungen bedeutet. Tagsüber waren die Handwerker da und abends waren wir einfach zu erschöpft und zu erschlagen, um noch einen Spaziergang am Meer zu machen und den Sand auf der Haut zu spüren. Ich war früher zurück als sonst. Die Sonne stand glühend am Horizont. Durch das offene Fenster konnte ich hören, wie die Wellen an den Strand schlugen und die Möwen riefen. Die Luft war noch warm und Himmel blau. Es war perfekt.
Ich nahm mir die Eis kalte Flasche Krombacher vom Kopfkissen, schmiss die Schmutzwäsche von meiner auf die andere Seite, schaltete den Fernseher ein und legte mich in voller Montur aufs Bett: Bundesliga- Rückrundenstart. Mit meiner Perle der Natur.

Einfach zu haben

Haha, falsch gedacht! So einfach ist das nicht. Es ist manchmal viel komplizierter, als es aussieht. Zum Beispiel steckt im Mond eine kleine Lampe, die nur nachts angeht, manchmal aber auch durchbrennt. Bei der Sonne ist es fast genau anders herum, aber nur fast. Es ist schwer, das zu verstehen. Es ist leichter, das zu akzeptieren. Ich vermute mal, der Glühfaden in der Sonne ist einfach viel dicker und weniger Belastungsspitzen ausgesetzt, wie sie durchs An- und Ausschalten entstehen. Sie leuchtet ja bekanntermaßen immer, wenn nicht hier, dann genau auf der anderen Seite der Welt. Wenn man genau durch die Mitte der Erde ein langes Loch bohren könnte, könnte man sie jetzt scheinen sehen, obwohl es grade Nacht bist. Ist das nicht fantastisch? Noch einfacher wäre es, wenn die Erde transparent wäre. Die Solaranlagen auf den Dächern in meiner Reihenhaussiedlung könnten Tag und Nacht Strom und heißes Wasser produzieren und sogar noch etwas davon in die öffentlichen Versorgungsnetze speisen. Von der Vergütung dafür könnte ich mir dann Verdunkelungsrollos kaufen und mein Haus klimatisieren lassen. Ich ginge morgens im Hellen zur Arbeit und käme am Abend im Hellen zurück. Die Murmeltiere müssten Sonnenbrillen tragen, das käme der lähmenden Konjunktur zu Gute und die Grünen würden stärkste Partei in Bayern. Ich würde am Strand auch unter den Füßen braun und es gäbe bald Schuhe mit UV- Schutz. Wenn die Sonne hinter dem Horizont abtaucht, fächert sie ihr Licht wie durch ein Prisma gebrochen auf und so lange, bis sie auf der anderen Seite wieder aufgeht, überspannt ein Regenbogen den Okzident bis zum Orient. Weihnachten könnten wir die Geschenke draußen im Garten bei angenehmen 20 Grad verstecken. Das, was wir nicht wieder finden, kann bis Ostern liegen bleiben. Wir würden wieder Palmen statt Koniferen mit Christbaumkugeln und Lichterketten schmücken, ein bethlehemsches Gefühl. Darunter streuten wir künstlichen Schnee. Hühner legten nur noch braune Eier, die haben weniger Cholesterin. Zugvögel könnten sich die lange und beschwerliche Reise sparen und teilten sich fortan mit den Möwen die Sandbänke. Hase und Igel könnten schon vor dem Frühstück um die Wette laufen und der Fuchs bräuchte nicht mehr „Gute Nacht“ zu sagen. Väter oder Mütter bräuchten ihren Kindern keine Geschichte mehr zum Abend vorlesen. Der Sandmann könnte sich getrost noch einmal umdrehen. Frauen wären doppelt so oft fruchtbar und Männer hätten doppelt so oft Sex. Sie dürften schon vor 20 Uhr auf dem Sofa sitzen und „Hallo Robby“ gucken. Ein Ende der vielen Vorteile ist gar nicht abzusehen. Das ist doch ganz einfach zu haben!

Freu dich nicht zu spät!

Unerwartet blickt Murat in ein Lächeln, weich wie der erste Kuss und zart wie die ersten Sonnenstrahlen im Frühling.
Er bleibt wie angewurzelt stehen und starrt sie mit offenem Mund aus etwa einem Meter Entfernung an. Sie hält seinem Kuckucksblick unerschrocken stand. „Wer ist das?“, flüstert er mir zu. Ich will grade antworten, als mein Handy klingelt. „Ja?“, nuschele ich hinter vorgehaltener Hand. Eine Stimme krächzt mir ins Ohr wie die letzten Worte eines verschütteten Bergmannes: „Warmmacha kaputt!“ „Wir kommen“, sage ich und klappe das Handy wieder zu. „Murat, dein Bruder hat angerufen. Ich glaube, die Heizung ist kaputt. Nimm die Eimer und los! Wir müssen zurück!“ Murat nölt, immer müsse er die schweren Malereimer schleppen. Ich fasse mir instinktiv ins Kreuz, halte ihm aber die Tür auf.

Wir müssen etwa 10 Minuten laufen bis zu unserem Rapid. Er steht mit dem rechten Hinterrad auf dem Bürgersteig in einer viel zu engen Lücke. Während Murat durch die Beifahrertür die Eimer nach hinten hievt, begutachte ich den Möwenschiss auf der Windschutzscheibe, lese mir das Knöllchen durch und klemme es beim Vordermann unter den Wischer. Das Auto ist unser ganzer Stolz. Murat nennt es gerne „Lebensabschnittsgefährt“.  Ich glaube, das hat er irgendwo aufgeschnappt. Wir haben es erst vor einer Woche bei einem Schwager des Arbeitskollegen seines Bruders gegen meine alte Taucheruhr getauscht. Seine Pizzeria lief nicht mehr gut, die Uhr auch nicht und so war es ein lohnendes Geschäft. Jetzt prangen unsere Namen in dicken Lettern auf beiden Seiten, darunter „Haushaltswarensonderposten“ und die Anschrift. Ich musste Tage lang mit Murat diskutieren, damit er alle Buchstaben von „Renzo’s Pizzeria“ vom Wagen abknibbelt. Er wollte RENZO stehen lassen und HaushaltswaRENZOnderposten davonmachen. Auf der Heckklappe grinst aber immer noch der dicke Schwager mit einem Pizzaschieber in der Hand. Der muss auch noch ab!
„Diese Frau“, beginnt Murat noch einmal, „kennst du sie?“
„Oh ja, schon viele Jahre!“
„Ich muss sie wieder sehen! Sie ist so wunderschön!“
„Murat, das war doch nur ….“, weiter komme ich nicht, denn Murat dreht das Radio auf und singt lauthals mit. Für mich klingt es wie das Vorspiel paarungsbereiter Murmeltiere.

Murat findet wieder keinen Parkplatz vor unserem Geschäft. Ich steige schon mal aus und unterhalte mich mit seinem Bruder, ob „Haushaltswarensonderposten“ nicht vielleicht doch ein zu langes Wort ist. Wir könnten es auch einfach „Renzo’s Lädchen“ nennen?! Er nickt und zeigt mir die angeschmorte Zuleitung vom Wasserkocher. Endlich kommt Murat mit den beiden Eimern angeeiert. Er stellt sie ab und wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Murat, wir sind spät dran“, sage ich und gucke demonstrativ auf mein linkes Handgelenk, wo mich ein Stückchen helle Haut begrüßt, „wo bleibst du? Fang doch schon mal an, die Wände zu streichen. Ich muss noch ein neues Kabel besorgen und dann lade ich die anderen Kaufleute zu unserer Eröffnung nächste Woche ein!“

Mein erster Weg führt mich direkt zum Kabelbaron. Ich wühle mich durch Klappkisten voller Kabel, Schalter, Stecker und Sicherungen. Ich finde einen gut erhaltenen Raclettegrill, nehme noch ein Sortiment Knopfzellen, eine Stange günstige Zigaretten und für Murat eine breite Farbrolle mit. In den Regalen verstecke ich ein paar kopierte NEUERÖFFNUNG!- Zettel. Ich habe Glück, bekomme einen Tee und 10 % Rabatt auf meinen gesamten Einkauf und zahle 50 Cent extra für die Plastiktüte. Diese Marketingstrategie beschließe ich, mir zu merken.

Mit dem Einkauf unter dem Arm schlendere ich weiter. Ich komme an einem Haushaltswarenfachgeschäft vorbei. „Oh“, denke ich, „da muss ich doch mal gucken.“ Das Schaufenster ist hübsch dekoriert mit Hutschenreuther- Figürchen, die in der Preisklasse unseres Rapids liegen. Schmuckes Geschirr von Rosenthal und Dibbern verspricht, jeden Abendbrottisch zum perfekten Dinner zu machen. Mir fällt ein, dass bei meinem Raclettegrill noch etwas fehlt. Ich ziehe die Tür auf, ein Klingeling signalisiert mein Eintreten. Ein ergrauter Chefverkäufer tritt aus einem Nebenraum durch einen schweren Brokat- Vorhang auf mich zu, „womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?“
„Ja“, sage ich, „ich suche Holzspatel, damit ich mir die Raclette- Pfännchen hier nicht mit der Metallgabel verkratze“ und halte den verschlissenen Karton hoch, „haben Sie so etwas?“
Das Korkgesicht wird puterrot. Er hat wohl an diesem Tag noch keinen erfreulichen und einträglichen Verkaufsabschluss verzeichnet oder ich störe ihn grade hinter seinem Vorhang bei einer Bio- Orange zum Abendbrot. Seine Schwiegermutter ist ein Drachen und die eigentliche Herrin im Geschäft. Seine Frau hat einen deutlich jüngeren Liebhaber, den sie aushält und die Kinder heißen Kevin und Chantalle, was alleine schon ausreicht für ihre psychiatrische Einweisung. Die Putzfrau hat sich krankgemeldet, beim SLK rutscht die Kupplung und der TÜV ist abgelaufen. Sein Handicap hat sich verschlechtert, die Aktienkurse fallen und die Moral verkommt.
„Wo haben Sie den denn gekauft?!“, blufft er mich an.
„Och“, sage ich, „ich mache mit meinem Knastkumpel Murat drüben einen Haushaltswarensonderpostenladen auf.“ Ich zeige in die Richtung. „Die Spatel fehlen uns noch im Sortiment.“  Ich nicke ihm höflich zu, drehe mich in der Tür noch einmal um, „auf gute Geschäftsbeziehungen!“
Klingeling!

Als ich zurück komme, deckt Murat grade den Fußboden mit Zeitungspapier ab. Auf der Fensterbank steht ein durchweichter Pizzakarton. Eine Melange aus Lösungsmitteln, Knoblauch und Bier steigt mir in die Nase. Ich entdecke eine Werbebeilage vom Baumarkt ohne Tiernahrung und Pflanzen und nehme sie hoch. „Guck mal“, sage ich zu ihm, „hier gibt es Farbe, die nicht riecht, nicht kleckert und schnell trocknet! Was hältst du davon?“ Ich lehne mich an den Türrahmen, ehe er antworten kann. Er rollt mit den Augen. Meine schwarze Lederjacke pappt am Rahmen wie eine Fliege am Klebestreifen. Mit einem Ruck und einem Geräusch wie Leukoplast am haarigen Unterarm reiße ich mich los.
Motzend gehe ich in den Nebenraum und mache ich mich daran, das versengte Kabel vom Wasserkocher auszutauschen. Die Zigaretten schmecken nach getragenen Schuhen. Ich überlege, sie später Murat anzudrehen, dem ich noch Geld schulde.
„Weißt du, wen ich getroffen habe?“, rufe ich ihm durch den Vorhang zu. Murat klettert von der Leiter und steht mit der alten Pernod- Kappe, dem blauen Overall und seinem Dalmatiner- Gesicht in der Tür. „Renzo?“
„Nein, du weißt schon! Die Frau!“
Murat wird ganz hektisch, geht zum Waschbecken und schrubbt sich die Farbe aus dem Gesicht.
„So willst du ja wohl nicht los“, sage ich und zeige auf seine Kappe, „außerdem: Meinst du nicht, sie ist ein bisschen zu alt für dich?“
„Nun erzähl schon!“
Ich biete ihm eine Zigarette an, er stochert aufgeregt mit seinen Farbfingern in der Schachtel umher. „Also“, beginne ich, „du weißt doch noch, wo …“
„PFUMP!“, macht es, als ich den Stecker in die Dose drücke und alles ist dunkel.
„Oh“, mache ich, „Warmmacha kaputt!“

Am nächsten Tag will ich Sicherungen und einen Wasserkocher kaufen. Murat besteht darauf mitzukommen, vielleicht träfen wir sie ja?! Ich überlege, ob wir noch mal in dieses nette Geschäft gehen, entscheide mich dann aber für Bijou Praktiker. Da können wir dann auch die andere Farbe kaufen, die Türrahmen müssen dringend gestrichen werden.
Im Eingang laufen wir Renzo in die Arme. Er hat da einen kleinen Stand mit mediterranen Spezialitäten. Heute gibt es bei ihm auf Alles 20 %, verkündet er stolz. Sein neues Geschäft liefe gut, die Leute seien verrückt nach seinem eingelegten Gemüse. Murat probiert neugierig eine Piri- Piri- Salsa. Hummerrot hustet er sich in die Faust. „Hast du dich erkältet?“, frage ich. Murat nickt mit dem Kopf. Renzo wiegt ihm darauf hin eine große Portion in einem klaren Becher ab, tippt eine zweistellige Zahl ein, wickelt alles in schweinefarbenes Papier und packt es in eine Tüte. Er nimmt sein Handy von der Waage und stellt die Salsa auf die Glastheke. „Und ein Fladenbrot umsonst, weil ihr es seid! Das macht dann genau zwanzig Euro“, sagt er. Murat stutzt. „Minus zwanzig Prozent, sind, äh, achtzehn“, schiebt Renzo schnell hinterher. Murat nestelt einen großen Schein aus der Hosentasche und überreicht ihn Renzo. Er flüstert mir zu: „So ein alter Gauner, der wollte mich glatt bescheißen!“ Ich gehe schon mal  zu den Sonderposten, während Murat auf sein Wechselgeld wartet und schaue mir einen Laubbläser an. Der hat ein schönes Grün und 3000 Watt. „Boah“, denke ich, „ganz schön laut!“
Murat taucht wieder auf. Wir beschließen uns zu trennen. Er fährt mit dem Karren ins Untergeschoss zu den Farben, ich schlendere mit zwei weißen Plastiktüten durch die Werkzeugabteilung. Bei den Spannungsprüfern mache ich Halt. Ich will einen Verkäufer fragen, ob der auch für Niederspannung geht, aber zwischen den Hochregalen spricht nur der Preis. Ich nehme ihn trotzdem, er ist reduziert. Beim Autozubehör treffen wir uns wieder. Kritisch begutachte ich seinen Wagen mit Farbe, einem Edelstahl- Wasserkocher, einem Knopfzellensortiment und einer breiten Farbrolle.
„Was willst du denn mit den Batterien?“, frage ich ihn.
„Oh“, meint Murat, „Renzo hatte kein Wechselgeld. Da hat er mir noch günstig diese Taucheruhr verkauft“ und hält sie mir triumphierend unter die Nase. „Ich glaube, da ist nur die Batterie alle!“
Die Kasse ist wieder die Hölle. Die Aushilfskassiererin kann Styropor nicht von Porenbeton unterscheiden und tippt beim Spannungsprüfer doch den Original-Preis ein. Bis endlich die Kassenaufsicht kommt, ist Arminia Bielefeld einmal auf- und einmal abgestiegen. Am Imbiss draußen kaufen wir zwei halbe Hähne und rauchen getragene Schuhe.

Noch drei Tage bis zur Eröffnung. Murat ist echt fleißig. Er ackert und schuftet von früh bis spät, tapeziert, streicht und lackiert die Türen. Ich lade die anderen Ladenbesitzer ein, auch die Bio- Orange von gegenüber, und verteile Zettel an die Passanten. Beim Kabelbaron finde ich tatsächlich Holzspatel. Ich tausche die verschmorte Zuleitung um und bekomme noch einen putzigen Krümelsauger in Form eines kleinen Marienkäfers zur Entschädigung. Die Taucheruhr schwatze ich Murat gegen die Zigaretten wieder ab. Ich schraube den Boden auf und will die alte Batterie mit dem Spannungsprüfer testen, weiß aber nicht, wie das geht. Zum Glück hat Murat ja noch neue. Er braucht die ja nicht mehr. Um Mitternacht ist er endlich fertig mit den Fußleisten, die Uhr piept. Klasse! Ich schnorre mir noch eine von seinen Zigaretten und schicke ihn nach Hause. Erschöpft ziehe ich das Buschfeuer in meine Lungen. Ich sitze da und probiere den Marienkäfer aus. Er schafft sogar ganze Maiskörner. An einer Olive verschluckt er sich röchelnd. Ich muss ihn wohl zurückbringen. Mir fällt ein, dass ich Murat noch versprochen habe, sauber zu machen, weil morgen unsere erste Lieferung ankommen soll. Ich hole den Laubbläser aus dem Auto und fange an.

Zufrieden über mein gestriges Tagewerk lade ich Murat am nächsten Morgen auf einen Kaffee beim SB- Bäcker ein.
Und da passiert es:
Unerwartet blicke ich in ein Lächeln, weich wie der erste Kuss und zart wie die ersten Sonnenstrahlen im Frühling.
Irritiert schaue ich mich um. Doch da ist niemand außer mir und Murat und der stöbert in einer Ecke in Heimwerker- Zeitschriften. Dieses Lächeln gilt also mir?! Umso schlimmer! Was mache ich denn jetzt? Wie sehe ich überhaupt aus? Seit Tagen nicht rasiert, die Haare zottelig wie ein Fraggle. Und jetzt so was! Ausgerechnet! Es gibt sieben andere Tage in der Woche, da fühle ich mich attraktiver!
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und starre sie mit offenem Mund aus etwa einem Meter Entfernung an. Sie hält meinem Kuckucksblick unerschrocken stand.
PFUMP! Es knistert und knallt in meinem Kopf. Gefühle explodieren in bunten Farben.
PFUMP! Du wirbelst Erinnerungen auf. Für einen Moment dachte ich, ich kenne Deine Stimme oder bin dir als Ameise schon mal begegnet.
PFUMP! Deine Augen blicken direkt in mein Epizentrum der Begierde und der Neugier.
PFUMP! Ich bin Feuer und Flamme, gründe in Gedanken eine Familie, habe den besten Sex meines Lebens.
Ich höre nicht, wie hinter mir die automatische Tür aufgeht, alle Geräusche verschwinden hinter einem vergessenen Geruch von Nähe. Plötzlich stößt mich der grauhaarige Holzspatel mit der Kraft der zwei Herzen von hinten an, „junger Mann, das ist hier kein Stehimbiss! Wollen Sie jetzt bestellen?“
Ich schrecke hoch. Murat steht auf einmal neben mir, legt mit einem kühlen Lächeln eine Ausgabe von „Selbst gemacht  leicht gemacht“ auf die Theke und sagt: „Hallo Ayse, zwei Kaffee bitte!“  Meine Taucheruhr piept und zeigt die Fehlfunktion meines Sprachzentrums an, „Warmmacha kaputt!“ stammele ich mit rotem Kopf wie nach einem Esslöffel von Murats Salsa. Ayse blinzelt kurz, als habe sie einen Regentropfen abbekommen. Dann huscht wieder die warme Sonne des Frühlings über ihr Gesicht und ich kann gar nichts dagegen tun.

Hier geht es endlich weiter.

Wir lieben die Stürme

Fortsetzung von Der Jever- Mann (Kapitel 1), Faltiger Autist (Kapitel 2), Du bist nicht mehr mein Freund! (Kapitel 3), Zauberpuste (Kapitel 4) und Die Augen gucken mit (Kapitel 5)

Kapitel 6 (ursprünglicher Beitrag vom 16.02.2010. Ich war so frei, ihn zu verschieben!)

„Matschpatsch“ macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Die Schippe habe ich gegen den Plattmacher getauscht, klopfe damit die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. Ich marschiere los, sammle Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen. Mein Eimer ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Meer und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel!

ENDE

Zauberpuste

Fortsetzung von Der Jever- Mann (Kapitel 1), Faltiger Autist (Kapitel 2) und Du bist nicht mehr mein Freund! (Kapitel 3)

Kapitel 4

Am nächsten Morgen werde ich davon geweckt, dass Papa verzweifelt seine Reisetasche sucht. Durch die Schlitze der Jalousie sehe ich, wie er auf dem Balkon fündig wird. Er entdeckt den zerfetzten Kicker, flucht dreimal laut und gibt mir und meinem Bruder in Abwesenheit die rote Karte. Das heißt: Kein Eis heute und kein Fernsehen vor dem Schlafen gehen mehr. Ich husche schnell zurück in mein Bett und kneife die Augen zusammen. Was ist, wenn er Klopf entdeckt? Das würde bestimmt rote Karte bedeuten bis ich zehn bin, oder hundert. Und nie wieder Delfino- Eis und Wickie gucken. Ich stupse meinen Bruder an, der zieht sich die Decke über den Kopf. Ich trete die Flucht nach vorn an, kneife mir den Schnippel zu und renne zum Klo, um zu sehen, was Papa vorhat. Kurz vor dem Bad bleibe ich wie angewurzelt stehen: Er greift tief in die Tasche und zieht ein angefressenes Salatblatt heraus. Ich stoße mir plötzlich das Knie und fange an zu weinen. Papa legt die Tasche zur Seite und tröstet mich. Dabei linse ich über seine Schulter und sehe, wie Klopf sich unter dem Kleiderschrank verkrümelt. Mit Zauberpuste tut das Knie auch schon nicht mehr weh.
Schlaftrunken kommt mein Bruder aus unserem Zimmer. „Was ist denn hier los?“, will er wissen. „Ich habe mich gestoßen“, sage ich, ehe sich Papa an die verschwundene Reisetasche und den Kicker erinnern kann.

“Was wollt ihr heute machen?“, fragt er nach dem Frühstück. „Shoppen“, antworten wir aus einem Mund und klatschen uns ab. Widerstand ist zwecklos, das weiß auch Papa, weil wir uns sonst ständig streiten oder über Langeweile klagen. Trotzdem packt er die Strandmuschel, die Liegedecke und das Beachball- Spiel zusammen und verstaut alles in unsere Salewa- Rucksäcke. Die geschmierten Brötchen und den aufgebrühten Tee trägt er in einem Stoffbeutel mit Delial- Aufdruck.
Im einzigen Laden hat das ehemals samtweiße Holzpaneel bereits einen bahama- beigen Ton angenommen. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Playmobil zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller!
Boah, ich habe echt keine Lust mehr und kaufe mir einen Zungenmalerlutscher und saure Colabonbons und gehe mit ihm an den Strand.

Und es hört nicht auf, sondern geht noch weiter!

Der Jever- Mann

Kapitel 1

Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall. Klopf ist nirgends zu sehen. Ich hebe das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig an die Seite. Er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack. Er tut so, als merkt er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa und seine neue Freundin warten schon. Sie hupt und fächert mit den Armen, ich solle mich beeilen. Eigentlich ist es ja Papa, der es so eilig hat, wir hätten noch über eine halbe Stunde Zeit, hat Isabelle gesagt. Und zum Bahnhof seien es nur zehn Minuten. „Wo warst du denn noch?“, will Papa prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Dann geht es los. Wie Bolle freue ich mich auf diesen Urlaub. Es ist der erste, seit Mami weg ist. Papa hat uns eine Schnitzeljagd versprochen, mit Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Ich bin mal gespannt, ob er diesmal hält, was er verspricht. Isabelle kommt schnell voran und zwanzig Minuten zu früh stehen wir vor dem Hauptbahnhof. Zusammen heben sie die Koffer aus dem Auto, weil Papa noch dolle Rückenschmerzen hat. Die beiden knutschen noch eine Weile, weil Isabelle erst in ein paar Tagen hinterher kommt. Dann wird die Zeit doch wieder knapp. Wie immer streite ich mich mit meinem Bruder darüber, wer jetzt den Trolli holen darf. Wer den Chip einwerfen darf. Wer ihn zuerst schieben darf. Wer zuerst im Fahrstuhl auf hoch oder runter drückt. Wer den Trolli zurück bringt. Es steht 3:2 für mich. Mein Bruder schimpft, dann könne er ja gleich zu Hause bleiben. Dann hätte ich Papa für mich. Aber er steigt doch ein. Schwer bepackt laufen wir durch den Zug bis zu unseren Plätzen. Er sitzt neben Papa, Mist, unentschieden. Dafür mache ich als erster die Tasche mit dem Proviant auf und schnappe mir eine Bifi- Roll. Der Zug ist schön leer, wir hätten gar keine reservierten Plätze gebraucht. Nach knapp einer Stunde müssen wir das erste Mal umsteigen. Papa schimpft, was wir denn alles eingepackt hätten. Am Bahnsteig auf der anderen Seite fährt unser nächster Zug grade ein. Papa wird hektisch, ich denke das erste Mal an Klopf. Freundliche Menschen um uns herum helfen uns und irgendwie schaffen wir es doch. Elende sieben Waggons schieben und stoßen wir unsere Koffer durch die erste Klasse und das Bordbistro bis bis zu unseren neuen Sitzen. Auch hier schön leer. Wie steht es denn jetzt eigentlich? Na ja, egal. Wir schnicken halt, Bombe und Rakete gibt es nicht, das habe ich dem Doofmann schon einhundert Mal gesagt. Eine olle Schachtel beschwert sich, wir seien zu laut, hier im Zug säßen noch andere Leute und wollten arbeiten oder sich erholen. Papa stellt sich taub, wir machen weiter. Wir müssen wieder umsteigen, diesmal ist der Zug rappel voll, Füße ragen in den Gang, Koffer versperren den Weg. Warum hat Papa nicht reserviert? Weil er es trotzdem hinkriegt! Die nächsten beide Male müssen wir nur auf das Gleis gegenüber. Das schaffen wir locker. Es ist auch wieder deutlich leerer. Wir spielen mit der Bordtoilette, die eine lustige automatische Tür hat. Papa ist eingeschlafen. Ich füttere Klopf mit Papas mitgebrachtem Tomaten- Mozzarella- Brötchen. Als der Zug nicht weiterfährt, wecken wir ihn. Soeben huschen wir noch in den letzten Bus. Den Koffer auf den Knien rumpeln wir über Kopfsteinpflaster bis zum Fähranleger. Ein gewagtes Spiel mit der Zeit. Als der Kapitän dreimal trötet, hat Papa auch endlich die Tickets in der Hand und die Koffer abgegeben. Zusammen mit den Ratten erklimmen wir das überfüllte Deck. Der Wind pfeift um unsere Ohren und um kleine Birken, die das Fahrwasser markieren. Erschöpft kuschele ich mich an Papa. Die Sonne blendet mich. Die Sportvereinskameraden Wittmund auf Auswärtsspiel wärmen sich mit obergärigen Getränken auf, die Jugendreisegruppe aus Schieder blockiert Minuten lang für ein Foto die Treppe zum Heck und zu den Propellern. Die Drecksmöwen kreuzen für jeden Bissen gegen den Wind und ich schlafe ein. Ein letzter Ritt mit der Bimmelbahn zwischen Jack Wolfskin- Jacken, Bench- Fleecepullovern, Schöffel- Westen, Fahrrädern, Kinderwagen, plärrenden Kindern mit Nutella- Schnuten und schweren Windeln, zwischen Okzident und Orient, als wir endlich den Inselbahnhof erreichen. Mein Bruder und ich sind zu müde, um Papa tragen zu helfen. An der alten Museumslokomotive warten wir auf ihn. Er kommt mit einem quietschenden Bollerwagen und einem langen Gesicht zurück.

Wir erstürmen die Wohnung wie Dieter Bohlen früher die Charts. Dann wollen wir an den Strand, mein Bruder und ich. Papa möchte erst eine Pause machen. Beim Hüpfen auf der Matratze komme ich höher als mein Bruder, stoße mir aber den Kopf. Ich entdecke als erster die Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Ein Shanty- Chor vor einem großen Segelschiff liebt die Stürme. Papa kann nicht einschlafen und wir ziehen uns wieder an. Über rot geklinkerte Wege stürmen wir an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, im Slalom um jeden Pöller, Anker und Bojen in Vorgärten zählend, mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und an Papas Hand wieder hinauf. Hinter der letzten Biegung liegt das Meer dann plötzlich da: Groß, weit und grau. Was Klopf jetzt wohl macht, fällt mir plötzlich ein. Dann stößt mir der Wind die Kapuze vom Kopf und ich meinen Bruder. Laut brüllend wie auf Kaperfahrt erobern wir die Welt. Papa fällt um wie der Jever- Mann.

Hier geht die Geschichte weiter

Amtsärztin

Manchmal reite ich den Wahnsinn. Dann und wann falle ich auch herunter. Wenn ich mir dann dabei einen Zacken aus der Krone breche, könnt‘ ich wahnsinnig werden.

Es wird mal wieder Zeit.
Wie bei dieser dicken, osteuropäischen Amtsärztin bei der Schuluntersuchung.

Ich stelle mir das Szenario so vor: Tschernobyl 1986. Es knallt und pufft. Im Kühlschrank ist es hell, selbst wenn es dunkel ist. Hühner legen harte Eier. Tomaten wachsen auf die doppelte Größe von Kürbissen heran. Das Publikum der Live- Ausstrahlung von Wetten, dass … in Warschau wird evakuiert. In der DDR-Botschaftsschule in Moskau durchdringt die Strahlung alle Unterrichtsräume und sämtliche Lehrmaterialien werden dabei vernichtet. Ein kleines Mädchen, schon damals mit 12 Jahren nur 1,20 m groß und plump wie die Transsib, versteckt sich unter einem löchrigen MICHAIL- Schreibtisch, um etwa 25 Jahre später im Gesundheitsamt einer kleinen westfälischen Stadt ausgerechnet am Tag vor dem Fußball- Derby gegen ein katholisches Domdorf eine Schuleingangsuntersuchung vorzunehmen.

Der Untersuchungsraum gleicht bis aufs Haar jener Abhörzentrale in der Nähe der Metro- Station Jugo-Sapadnaja: Dem Bild des Möwenschisses auf dem Cortex Cerebri von Gorbatschow hinter opakem Glas, der Karte der DDR- Reichsgrenzen mit dem Anschluss nach Polen, dem Ankündigungsplakat des Moskauer Staatszirkusses mit Oleg Popov und dem Stadtplan mit dem Kreml und dem Roten Platz. Lediglich in einer kleinen Nische hinter einer Zobel- Pelzjacke aus Familienbesitz hängt das eigene Medizin- Diplom in beglaubigter Übersetzung und zeugt von dem Übergang zur Aufklärung.

Mit haarigen Unterarmen überreicht sie dem Kind eine eingerissene Blaupause mit dem Geruch von angereichertem Uran und fragt ihn: „Was verrab-rreicht die Frrrau demm Jun-gän?“ (Anmerkung d. A.: Sie füttert ihn mit Möhren!).

PS: Stumm wie ein treuer Staatsbürger blieb der Proband und wurde trotzdem eingeschult. Na sdorowje!

Stromabwärts

Da ist er dahin, der rote Faden
Einfach auf und davon
Er tanzt auf den Wellen.

Er wird immer schneller,
bleibt an einem Stein hängen,
reißt sich wieder los.

Wild wirbelt er umher,
singt und springt
und träumt.

Er plätschert vor sich hin,
schaut sich um und trödelt
genussvoll.

Das ist schön: Die Zeit vertrödeln
Nicht eilen oder hetzen
Da sein.

Wieder nimmt er Fahrt auf
Ein umgestürzter Baum
ragt gefährlich ins Wasser.

Geschickt duckt er sich
Prustend und schnaubend
taucht er wieder auf.

Dann gelingt es ihm,
sich an einem mitströmenden
Papierboot festzuklammern.

Mit letzter Kraft klettert er an Bord
Matt rutscht er am Mast herunter
Geschafft.

Das erste Mal
kann er sich ein Weilchen
von der Reise erholen.

Er schaut in den Himmel,
sieht, wie die Wolken vorbeihuschen,
wie er mit den Möwen fliegt.

Dann rappelt er sich auf
und schaut gespannt
über die Reling seines kleinen Rettungsbootes.

In einem wahnsinnigen Tempo
zieht alles dahin,
Landschaft, Zeit und Schiff.

Er hört das Rauschen und Gurgeln
des herannahenden Wasserfalls nicht …

Zimmer frei

Sie wusste nicht, wie sie in dieses Zimmer gekommen war. Allem Anschein nach war sie eingeschlafen, obwohl es grade erst Abend wurde. Sie lag auf einem Sofa, jemand hatte ihr eine Wilde – Kerle – Decke übergelegt. Vorsichtig versuchte sie aufzustehen, aber sie war zu schlapp und sackte wieder zurück. Langsam, als könnte etwas kaputt gehen, schaute sie sich um. Ihre Augen mussten sich erst an das dämmrige Licht gewöhnen. Es war ein kleiner Raum mit furnierten Jugendzimmermöbeln und einer quietschgrünen Tapete mit Fix- und Foximotiv. Oma Eusebia drosch grade mit dem Nudelholz auf ihren nixnutzen Enkel Lupo ein. Ein Diercke Weltatlas mit braunem Textileinband ruhte auf einem Regalboden unter dem Einbauschreibtisch. Meyers Lexikon von A – Z stützte eine lange Reihe von Pitje Puck Bänden. Eine orangefarbene Liebe ist…- Kerze zielte genau auf das Polizeiauto von Playmobil im Fach darüber. Der Deckel einer Truhenbank stand offen und ein Monchichi schaute putzig heraus. Überall auf dem grob gemusterten Schlingenteppich lagen wild verstreut fischertechnik – Teile und Anleitungen. Ein roter Kleinwagen war in einen Unfall verwickelt, die Windschutzscheibe war dabei zersplittert. Eine Traube Plastiksoldaten stand drum herum und glotzte doof. Die Raupe Nimmersatt fraß sich grade durch ein Törtchen, für Kapitän Blaubär war nichts mehr übrig, der kleine Tiger war krank und ein Murmeltier vom letzten Weltspartag kuschelte mit einer Porzellanmöwe.
Dann hörte sie draußen Schritte und Stimmen. Durch einen Spalt in der Tür schob sich ein größer werdender Lichtkeil ins Zimmer. Mucksmäuschen still hielt sie den Atem an und kniff die Augen zusammen. Es raschelte und murmelte, dann fiel die Tür wieder ins Schloss. Ohne sich doch noch bemerkbar machen zu können, sank sie in den Schlaf zurück.
„Leihen?“, schrie Eusebia, „Dir? Nein, mein Lieber! Wenn du Geld haben willst, musst du es verdienen!“ „Aber Oma, es ist doch nur, weil .. Lupinchen hat Geburtstag!“, stammelte Lupo. Aber Oma kannte kein Erbarmen und jagte ihn zum Haus heraus. Nichts wie weg! Der arme Kerl wollte nur noch zurück in seinen alten Turm, sprang in sein Auto und brauste davon. Er konnte einem kleinen Äffchen, das plötzlich vor ihm auftauchte, nicht mehr ausweichen und fuhr vor eine Bonduelle – Litfaßsäule. Sofort strömten Dutzende Schaulustige von überall her zusammen. Ein dicker Mann in grüner Daunenjacke stopfte sich einen Muffin in den Mund, eine Frau im Pelz blickte vom Geldautomaten auf. Schon brauste ein Polizeiwagen heran. Ein großer, stattlicher Schutzmann stieg aus und rief: „Ahoi, ihr Landratten, alles im Lot auf ‚em Boot?“
„Pst“, machte da eine Kinderstimme und stellte einen Teller heiße Bouillon auf den Tisch am Sofa, „Mama ist doch an der Bushaltestelle eingefroren und hat sich verkältet!“

Dies ist mein Beitrag zu Donna’s Schreibprojekt.

Die Panik lässt nach

Am MeerIch möchte von meinem Fenster das Meer rauschen hören, die salzige Luft schnuppern, dem Geschrei der Möwen lauschen.
Ich lass mir einen Bart wachsen, rauche Pfeife und trinke Rotwein. Abends zünde ich mir im Kamin ein Feuer an, obwohl ich Angst habe, Spinnen könnten sich im aufgeschichteten Spaltholz versteckt haben. Ich lebe von der Luft und der Liebe, vom Schreiben und Schmökern, vom Malen und Maulen. In meinem Kapitänshäuschen genieße ich die Ruhe, jeden Tag.
All die Katastrophen sterben aus, die Panik lässt nach.

Stille Sehnsucht

Direkt am Meer. Dort, wo die Sonne untergeht. Da stehe ich auf dem Deich, schaue den Möwen beim Scheißen zu. Der Wind pfeift mir um die Nase. Hier oben ist das Gefühl der Freiheit näher als das der Kälte. Die Luft riecht nach Salz und Fisch.
In der Nacht wird die Stille hörbar: Das Rauschen des Meeres, das metallische Schlagen der Segel am Mast, das Knallen der Fahnen im Wind, das Klingen der Glocken auf den Schiffen und Booten, das dumpfe Stöhnen der sich spannenden Taue. Lichter am Horizont blinzeln zu mir herüber. Die Flut drückt Wellen an den Strand, spült Muscheln und Tang immer ein Stückchen näher an den Deich.
Stille Sehnsucht nach Sand in den Schuhen, Krabbenkuttern und Kiefernwäldern, Leuchttürmen und Lachsbrötchen, Dünen und Dorschen.