Das letzte Einhorn

Manchmal kann ich mich einfach nicht entscheiden.

Ich möchte meine Ruhe, aber auch nichts verpassen.
Ich möchte gut essen, aber schlanker sein.
Ich wäre gerne jünger, aber nicht unreif.

Ich würde gerne mehr aus mir herauskommen, verlasse aber tagelang das Haus nicht.
Ich würde gerne etwas anders machen, hasse aber Veränderungen.
Ich möchte einfach nur, dass eins plus eins eins ist.

Ich möchte nachts nicht mehr raus müssen und morgens liegen bleiben.
Ich wünsche mir mehr Zeit, um am Meer zu sein.
Ich möchte raus aus meiner Haut.

Ich möchte mein Gegenüber finden. Jemanden, der mich aushält. Der mich trotz meiner Sorgen und Ängste liebt. Vor dem ich nichts erklären und rechtfertigen muss. Der mich versteht, auch wenn ich schweige. Der mir Antworten gibt, mich aber nicht in Frage stellt. Der im passenden Moment meine Hand nimmt und wieder loslässt. Jemanden, mit dem ich lachen kann, der aber den Ernst der Lage erkennt, wenn ich wieder einmal mit meinen Widersprüchen nicht zurechtkomme.

Strandgut

Nach ein paar stürmischen und kalten Tagen ist wieder Ruhe eingekehrt. Handschuhe versüßen mir den Moment. Das Meer liegt sanft da, während es zuvor drohte, die Seebrücke umzuschmeißen. Das Toben der See und das Fauchen des Windes haben nachgelassen. Endlich nur ein friedliches Wogenplätschern. Andere Lichtempfindungen, andere Gedanken. Die Bank am Tisch ist frei, dafür mehr im Schatten als meine. Ich zögere noch. Solange sie niemand haben will, solange bleibe ich auch hier. Missgünstig eine Fliege verscheucht, die sich vorlaut an meinem Rucksack zu schaffen gemacht hat.
Doch den Platz getauscht. Schreibe nun am Tisch, ist einfacher. Es könnte wärmer sein, aber ich wollte nicht länger auf dem Zimmer sein. Klappse liegt weit weg. Da liegt sie gut. Am liebsten würde ich sie da auch lassen. Ich will nicht zurück, will etwas Neues. Suche und brauche Ruhe und Entspannung. Will diese verrückten Geschichten nicht mehr hören, machen mich alle. Will raus aus dem Molloch. Vielleicht ein Haus am See? Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Wind kommt auf, Spaziergänger mit Hund. Schurrmurr. Miniaturen. Gedanken befreien, Stoffstückchen und Worte sammeln. Piratenflagge. Hau ab und lass mich in Frieden. Scheiß Töle. Auto fährt vorbei, Mülleimerdeckel schlägt zu, Vogel zwitschert. »Trinkpause, Keks essen.« Aber nicht hier an meinem Tisch, Gott sei dank! Pferd am Strand, reitet weg. Boot am Horizont. Gebell macht die Idylle kaputt. Menschen mit Hunden glauben, es sei normal und in Ordnung, wenn ihre Köter das tun. Der Kleinste ist der lauteste. Die Blonde war auch schon mal da, wählt aber eine andere Bank. Er kläfft weiter. »Ihr Hund freut sich auf das Meer«, wenigstens einer. Boah, ist das ein dämlicher Kläffer, hoffentlich ersäufst du.
»Ich habe Hunger«, schreit ein Blag. Ihr hättet auch gerne einen Tisch? Hahaha, leider bereits besetzt.
Mistdreck, da kommt noch einer. Man könnte fast meinen, ich bin am Hundestrand.
Nie bin ich alleine, irgendwas ist immer. Lasse die Gedanken fließen, zensiere sie nicht, sortiere sie nicht. Brauche Worte, Sätze, Ideen und Anregungen.

Klotz packt aus, Klotz räumt ein. Er sitzt da, starrt aufs Meer, will raus aus seinem Alltag, der ihn belastet, den er nicht mehr verarbeiten kann. Er sucht nach Auswegen und Lösungen, findet aber keine, dafür Krach und Hundescheiße. Es muss weitergehen, ohne Pause! Unsicheres Gegickere. Blond und blind. Wellen, Vögel.

Klotz kommt einen Moment zur Ruhe, lauscht den Geräuschen, fühlt sich wohl. Kalt zwar, aber er ist am Meer. Wo alles anders ist.

Der Kugelschreiber scheint bald aufgeben zu wollen. Einen Neuen zu kaufen scheidet aus, wo doch zu Hause die ganze Schublade damit voll ist. Die Füße auf den kleinen Absatz unter dem Tisch gestellt. Unter den geht aber auch. Da ist sie wieder, die Blonde. Bewegt sich, stellt sich in die Sonne, hinterlässt Fußspuren im Sand.

Klotz muss mittendrin sein, um schreiben zu können. Schreiben! Welch wunderbares Tun.

Sie schaut mich an, Ü40, wirkt dennoch verspielt, enge Jeans, debil? Nimmt ihr Rad, schiebt es an die Straße. Wieder fast alleine an meinem Schreibplatz. Eigentlich ist es zu kalt, Finger frieren trotz Handschuhen. Dehnungsübung am Geländer. Jetzt das andere Bein, ich könnte das nicht. Einen Kugelschreiber habe ich schon weggeworfen. Schade, dass ich mit die Anfangszeit des Schreibens nicht notiert habe, wäre gespannt. 45 Minuten noch bis zum Mittagessen. Hähnchenfilet Toskana oder so. Freue mich auf Wärme. Auto hält, Türen schlagen. Eindrücke aufnehmen, staccatoartig festhalten. Stoffmuster, Nähproben, einfädeln, sonst entsteht keine Geschichte. Was?! Geht weg, will nicht reden, will euch nicht zuhören. Brauche Flow, halte ihn aufrecht. Muss das tun. Muss es wegschreiben, damit Gedanken weg sind. Lila Mütze. Noch eine, dafür mit Puschel. Karopapier oder doch lieber Linie? Ich oder der Kugelschreiber? Wer von uns beiden gibt zuerst auf? Lange kann es nicht mehr dauern. Unzensiert sein dürfen. Das ist mir wichtig. Stehenlassen können. Weg ist die Aufwärmerin, gut so, Dummbatze. Hat mir nur den Blick aufs Meer verstellt. Vielleicht ist dem Kuli auch zu kalt. Sollte ich später mal googeln oder vorsorglich nach einem anderen die Augen offen halten. In der Sparkasse einen klauen, umlagern. Stehen da oben immer noch und quatschen. Haben die kein Zuhause? Schwarzer Van. Muss nun los, will nicht stoppen, friere aber durch. Rücken, Nase, zu kurze Socken. Fetter Arsch mit Rucksack. Laterne, schief, sieht sozialistisch aus.
»Warte, Papa will noch die Jacke zumachen!« Ja, dann mach doch und halt das Maul!
Paradoxerweise hätte ich nichts zu schreiben, oder weniger, wenn die Idioten nicht hier wären. Endlich verschwinden die Tratschtaschen. Das Kind weint.
Ich gehe meinen Weg zurück.

Hokus Pokus

Manchmal macht das Leben viel Wirbel um nichts.

Ein alter Mann pfurzt beim Gehen, Kasse 2 wird geöffnet oder ein Sack Reis fällt um. Wen interessiert es? Das alles ist es nicht wert, darüber zu reden.

Die wichtigen Dinge geschehen in meinem Kopf. Das ist die wirkliche Schaltzentrale der Macht. Alles, was Rang und Namen hat, wird von dort gesteuert. Die Merkel bekommt ebenso ihre Befehle wie der Löw. Und wenn die beiden nicht spuren, kann ich sie auch liquidieren lassen. Ein paar Mal war es schon fast so weit, aber sie haben irgendwie doch noch ihre Köpfe aus der Schlinge ziehen können. Keiner weiß, wie.

Ehrlich gesagt, ich warte nur noch auf ihren nächsten Fehler, dann sind sie dran. Da kenne ich kein Pardon mehr. Sie haben schon viel zu viel vesiebt, der eine wie die andere und umgekehrt. Ich will und kann da auch keinen Unterschied mehr zwischen ihnen machen. Seit ihrer Affaire werden sie ja auch optisch immer ähnlicher. Ich glaube, sie könnten sich gegenseitig in ihrem Job vertreten und keinem würde das auffallen, noch nicht einmal ihnen selbst.

Und wenn ich mir das so genau überlege, reicht es mir auch jetzt schon. Am besten wird es sein, ich lasse sie gleich zur Fahndung ausschreiben. Dann ist endlich Ruh.

Peng Peng.

Simsalabim

Da sitze ich nun in meinem kurzen Hemd, ohne Besteck, um die Suppe wieder auszulöffeln. Das geht niemals gut! Wie soll das funktionieren? Das passt ja gar nicht zusammen! Mannomann, hätte ich das bloß eher gewusst! Doch Hättich ist ein anderer Vogel als Habicht. Und sowas kommt von sowas. Die Wahrheit ist: Ich habe es auch nicht verhindert.
Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach sagen: »Simsalabim, Sesam öffne dich!«, und schon würde sich knarzend ein großes Tor vor mir auftun. Helles, glitzerndes Licht umhüllt mich augenblicklich, süße Düfte kitzeln meine Gaumenhöhle und zauberhafte Klänge locken mich, einzutreten. In ein Land, das für jeden etwas anders ist, für mich aber vor allen Dingen: ein Strandkorb, der weite Blick aufs Meer, ein Horizont, der nicht näher rückt und eine Ruhe, die das Wattknistern erst hörbar macht.
Ohne zu zögern gehe ich hindurch und spüre sofort den Sand unter meinen Füßen. Ich sauge sie salzige Luft ein, blinzele gegen die satte Sonne. Dann lasse ich mich fallen wie der Jever-Mann und weiß, dass ich angekommen bin.

In der Hüpfburg

Ich habe einen Schlüssel und ein Namensschild. Ich kann raus, wenn ich will, muss mein Handy nicht im Dienstzimmer abgeben und darf mit echtem Besteck essen, ohne dass einer zuguckt. Doch manchmal bemerke ich gar nicht, wie verrückt ich selbst bin.

Dann frage ich mich, wie es wohl wäre, wenn ich auf der anderen Seite des Tisches säße? Worüber würde ich berichten, was verheimlichen? Ich könnte mich unzensiert meinen wildesten Gedanken hingeben und müsste nicht versuchen, mich zu ordnen. Alles dürfte ich erzählen, ohne Angst bestraft oder ausgelacht zu werden. Von meiner Kindheit oder dem Wunsch nach einem flotten Dreier. Von meinem ersten Bier oder meiner Lieblingsserie. Es könnte alles so einfach sein.

Aber in Wahrheit ist es das nicht mehr. Seitdem ich meine Tabletten abgesetzt habe, habe ich sogar den Eindruck, alles wird immer komplizierter. Vielleicht ist es auch eine Frage des Alters, oder besser gesagt: meines Alters. Es gibt so viele Sachen, die ich nicht mehr verstehe. Pokémon zum Beispiel. Früher gab es Maja, Willi, Kurt, Flip und die Lehrerin Kassandra. Die passte auf, dass die böse Spinne Thekla nicht in den Bienenstock krabbelte. Das waren alle und es waren genug. Da war die Welt noch überschaubar. Doch heute tummeln sich bereits in einer einzigen Folge Pokémon mehr merkwürdige Wesen als im gesamten Bundestag zur Diätenabstimmung.

Ich überlege deswegen, den großen Jagdschein zu machen und diese Plüschtiger einfach abzuknallen, bis schließlich keine mehr da sind. Dann würde in meine Anstalt endlich Ruhe zurückkehren und ich könnte auch mal wieder die Schlümpfe gucken oder mit Kimba durch den Dschungel stolzieren und die Schimpansen vor dem Feuertod retten. Ich könnte mit Nils Holgerson auf einer Gans fliegen oder mit Pinocchio den Fuchs ärgern, ohne dass einer umschaltet. Nichts ist mehr, wie es einmal war.

So nicht

Es ist nicht so, dass ich nichts mehr zu sagen hätte, seit mein erster Roman Quergefönt erschienen ist. Ganz um Gegenteil, oft habe ich den ganzen Kopp voller Worte und weiß nicht, wohin damit. Dann aber ermahnt mich der gierige Autor in mir, daraus ein zweites Buch zu machen. Doch nicht alles kann ich Murat oder meinem knurrigen Ich-Erzähler in die Schuhe schieben, schließlich habe ich einen guten Ruf zu verlieren. Als Franco Bollo und als Mensch, der sich dahinter verbirgt.

Deswegen habe ich mich entschlossen, den kleinen, persönlichen und ebenso fiesen wie bösen Text, den ich eigentlich vorgesehen hatte, bis auf weiters verschlossen zu halten und stattdessen eine entfallene Szene aus dem Kapitel „Eisbärsalat“ preiszugeben, die eine Abrechnung mit meiner alten Englischlehrerin ist. Namen und Orte sind frei erfunden, entbehren aber möglicherweise nicht autobiografischer Wahrheiten. Sicher ist sicher.

Ganze Generationen von hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern und -autoren haben sich wie ich in den frühen 80er Jahren durch einen völlig dilettantischen Englischunterricht gequält und wissen dabei bis heute nicht, was Pink Floyd heißt. Es hält sich ja hartnäckig das Gerücht, es bedeute rosa Verhütung. Doch selbst meine knöcherne und verklemmte Lehrerin konnte oder wollte das Rätsel nicht auflösen, was ja eher für diese Übersetzung spricht.
Das arme Ding hieß Frau Kornfeld und ihre Eltern hatten sie offensichtlich wegen ihrer Klugscheißerei schon als Blag satt. In einer kalten Winternacht ließen sie sie auf einem kahlen Getreideacker zurück und machten sich flink von dannen. Sie verhüteten fortan lieber mit der Hand, lebten glücklich und entspannt ohne sie und genossen die Ruhe.

Knapp einhundert Jahre später aber trug mich diese mental zurückgebliebene Ährenspindel mit der sexuellen Ausstrahlung eines Melkschemels aus nichtigsten und niedrigsten Gründen regelmäßig ins Klassenbuch ein. Einmal schmiss sie mich sogar aus dem Unterricht, bar jeder pädagogischen Kompetenz und jedes Verantwortungsbewusstseins.
»Ich hätte geworfen!«, erzählte das verlogene Aas meinen Erziehungsberechtigten, als sie am Abend vor unserer Haustür stand.
Natürlich habe ich geworfen, nur leider nicht getroffen, sonst hätte der Kartenständer nicht den Physiklehrer zuerst erwischt. Die dumme Sau hatte ich erst später auf meiner To-do-Liste.
Mein Papa war da echt cool, »Englisch- und Sachkundepauker braucht kein Mensch«, sagte er zu ihr, »der eine ist sich zu fein, um Scheiße zu sagen, der andere zu doof zum Hinunterspülen!«

Bedauerlicherweise war diese Unterhaltung meiner weiteren Karriere an dieser Penne nicht wirklich zuträglich, auch wenn ich ihm in der Sache heute noch recht geben muss. Wozu gibt es denn den Google-Übersetzer, Siri oder Leo?

Angstwut

Manchmal ist in meinem Kopf so wenig Platz, dass ich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, bei eBay verkaufe, aktiv vergesse oder gnadenlos wegwerfe. Selbst Geschichten, die gestern erst geschehen sind, können heute schon Ballast sein, der mich abhält, nach vorne zu schauen und den Aufstieg auf den Olymp zu schaffen. Nur selten passiert es mir dabei, dass ich doch das eine oder andere Stückchen davon gerne wieder hätte. Aber das hat mich nie wirklich gestört, denn es ereignen sich ja täglich neue Überraschungen, die mir den Kopf zumüllen. Und deswegen finde ich es sinnvoller zu vergessen. Wo soll ich auch hin mit dem alten Rotz in meiner kleinen Einzimmerwohnung der Erinnerungen? Da müssen manche Sachen eben auf der Strecke bleiben.
Es ist wie auf einer Party: Die Gäste kommen und gehen, der Alkohol fließt in Strömen, wir rauchen Kette und reden über Fußball. In der Küche stapeln sich durchweichte Pizzakartons und braune, angetrunkene Flaschen reihen sich dichtgedrängt an­ei­n­an­der wie Arminiafans in der Südkurve. Irgendwann schütten wir uns einen Schlummerschluck zusammen, pflücken die Zigarettenfilter aus dem trüben Gesöff, exen die Brühe und legen uns auf den Boden zum Pennen. Am nächsten Morgen dröhnt der Schädel wie ein Bohrhammer und die Knochen tun weh, als hätten wir unter einem Elefanten geschlafen. Das Bad ist für eine Woche unbewohnbar, aber zum Pissen im Stehen reicht es. Abends kommen ein paar neue Freunde zum Restetrinken und wir kotzen gemeinsam in die Regenschirmkanne. In der Erinnerung war es trotzdem ein rundum gelungenes Fest.

Ich mag es einfach, wenn die Dinge noch eine Ordnung und Bezug zueinander haben. Ich will mich darauf verlassen können, dass Bier seit 1516 nur mit bestem Hopfen, Hefe, Malz und Wasser gebraut ist. Deswegen verdränge ich die Realität, dass es Sorten gibt, die besser im Süßwarenregal stünden und nach bunter Zuckerwatte schmecken. „Pfui, wer so etwas trinkt, der wählt auch Trump“, sagt mein Wirt immer und ergänzt dann, nach einer kleinen andächtigen Pause: „Der letzte Schluck sollte ein Herforder sein.“ Da hat er Recht. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Pils, aber nicht an meine erste Kola.

Und das ist genau das, was ich meine: Es gibt so viele Dinge, die es sich gar nicht zu merken lohnt. Das, was ich darüber hinaus noch rauskehre, bis die Hirnstube leer ist wie ein ostdeutscher Supermarkt vor der Wende, sind unwichtige Kollateralschäden. Was gestern war, ist vorbei und kommt nicht wieder. Nur weil mich einmal der Blitz beim Scheißen im Wald getroffen hat, so hat es doch tausend Mal vorher Spaß gemacht und ich muss deswegen nicht grundlegend mein Leben ändern. Und wenn die Uhr auf Winterzeit umgestellt wird, geht zwar die Sonne eher unter, aber nicht gleich die ganze Welt. Ich habe sogar eine Stunde länger Zeit, neues Bier zu kaufen. Es spielt auch überhaupt keine Rolle, ob ich gestern irgendetwas hätte tun können. Wichtig ist einzig und allein nur, ob ich es getan habe.
Ich hasse dieses ewig wiederkehrende Lied in meinem Kopf, weil es mich verrückt macht. Jeden Tag schießen mir hundert Momente durch den Gedankenwald, wie es zum Beispiel wäre, wenn ich ihr genau jetzt sagen würde, dass ich Lust hätte, sie zu vögeln und einen Augenblick später verfluche ich mich dafür, dass ich es tat. Was geht mir das auf die Nüsse! Das darf doch wohl nicht wahr sein. Kann denn niemals etwas perfekt sein? Muss denn immer alles im Fluss sein? Ich will mich manchmal einfach nur hinsetzen und zur Ruhe kommen, bis die Dinge so bleiben, wie sie sind und sich nichts mehr verändert. Aber nein, stattdessen rast schon wieder die nächste Katastrophe mit überhöhter Geschwindigkeit die abschüssige Kurve hinab.

Gerne würde ich einmal glauben, dass alles so seine Richtigkeit hat. Doch nur zu oft packen mich Gefühle von Zweifel und Unsicherheit. Versagensängste klopfen penetrant wie der Bofrostmann an meine Tür. Beim letzten Mal hat er mir einen überteuerten Tiefkühl- Adventskalender angedreht und mich dabei angeschaut wie Klaus Kinski. Ich konnte drei Wochen lang nur mit großem Licht schlafen und habe bei der nächsten Sitzung meine Psychologin mit einer gefrorenen Laugenstange bedroht. Erschrocken meinte sie, ich solle meine Angstwut doch einmal aufmalen. Ich schnappte mir die Farben und knallte ihr ein Happening aus Rot und Schwarz schwungvoll auf die Leinwand, so dass Pollock kleinlaut um einen Praktikumsplatz bei mir gebettelt hätte. Dabei sang ich laut Dicke von Westernhagen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich ihre nackten Brüste mit bloßen Händen anmale und ihr ein Geweih auf den knackigen Arsch schmiere. Doch die alte Kuh kroch nur tiefer und tiefer in ihren Ohrensessel, blätterte in der roten Medikamentenliste und telefonierte. Als meine Musik verstummte, nahm ich mir ein Cuttermesser und schlitzte sie langsam auf. Der erste Stich durchdrang das straff gespannte Gewebe mit dem leisen Geräusch wie ein Reißverschluss, dann färbte sich die Klinge blutrot und zeichnete wie von selbst ein Satanskreuz. Ich setzte mich still davor, rauchte und betrachtete genussvoll mein Werk, bis ein Sondereinsatzkommando die Praxis stürmte und die völlig zerstörte Leinwand beschlagnahmte.

Wie lange mag das wohl her sein? Ich weiß es nicht! Vielleicht ist es auch nie geschehen, wer kann es wissen? Vergangenheit ist wie eine alte Sendung Aktenzeichen xy, unaufklärbar, ewig her und nicht mehr zu ändern. Also brauche ich mir keinen Kopf darum zu machen, was damals war oder nicht. Es reicht, wenn ich mich an meinen Namen erinnere. Zum Glück habe ich ja zwei, falls ich den einen doch einmal vergessen sollte …

Satansbraten

Manchmal tanzt der Staub im Morgenlicht, manchmal gähnt mich der Kühlschrank an. Manchmal knatscht die Treppe und die Klospülung rauscht. Manchmal grübele ich nachts über ungeschriebene Geschichten. Manchmal ruft mein Kopfbewohner, dieser Dummschwätzer, laut dazwischen und ich kann nicht schlafen.
Manchmal läuft der Stift in rasantem Tempo über das Papier, dann wiederum steht er manchmal Minuten lang im Stau. Manchmal wartet er nur kurz an einer Ampel, manchmal gibt er bei Gelb noch Gas. Manchmal sucht er Runde um Runde einen Parkplatz, manchmal bummelt der Vordermann, wenn er es grade eilig hat. Dann schlägt er mit der flachen Hand aufs Lenkrad, hupt und gestikuliert. Manchmal sprengt ein Steinchen einen Krater in die Windschutzscheibe oder im Armaturenbrett geht einfach ein kleines Lämpchen an. Manchmal denke ich, das ist aus Boshaftigkeit absichtlich so eingebaut, weil ich aus Prinzip nicht zur Inspektion fahre, das sind doch alles Halsabschneider, die im Mittelalter als Henkersknechte gearbeitet haben, Halunken und Verbrecher, Taugenichtse und Strauchdiebe.

Manchmal ist Ruhe einfach schön.

Und wenn dann irgendwer, warum auch immer, anruft, er wolle dieses oder jenes und ob ich schon wüsste oder hätte, dann wünsche ich, wen auch immer, manchmal zum Teufel.

Der Riese und der Zauberer

Eine beliebte Übung in Kreativen Schreibkursen und Seminaren ist das Fortsetzen von den ersten Zeilen eines Romans. Aus den verschiedenen Vorlagen habe ich mir „Wie der Soldat das Grammophon reparierte“ von Saša Stanišić ausgesucht und die Figuren und die Handlung frei weiter entwickelt.

Opa Slavko maß meinen Kopf mit Omas Wäschestrick aus. Ich bekam einen Zauberhut, einen spitzen Zauberhut aus Kartonpapier und Opa Slavko sagte: „Eigentlich bin ich noch zu jung für so einen Quatsch und du schon zu alt.“ (Orig.)

Das verstand ich nicht, wie konnte ich zu alt und er zu jung zum Spielen sein?! Aber Opa Slavko sagte öfter Sachen, die ich nicht verstand. Zum Beispiel, dass es die beste Entscheidung war, die Oma zu erschießen. Sie war eine einfache, aber tüchtige Frau. Oben auf dem Küchenschrank hatte sie eine alte Blechdose versteckt, in der sie oft selbstgebackene Maronenkekse aufbewahrte. Sie dachte, ich käme da nicht ran, aber das stimmte nicht. Immer, wenn sie in den Keller ging, um aus dem großen Holzfass Kartoffeln zu holen, schnappte ich mir aus dem Badezimmer die wacklige Fußbank und schob sie in die Küche. Von dort kletterte ich auf den Tisch am Fenster. Einmal sah ich dabei, wie Opa Slavko die Katzenjungen fing, in einen Sack stopfte und damit hinterm Haus verschwand. Kurze Zeit später stand er mit nassen Hosenbeinen plötzlich in der Küche. Ich hockte inzwischen ganz oben auf dem Schrank und versuchte verzweifelt, den angerosteten Deckel zu lösen. Ohne ein Wort zu sagen, kam Opa auf mich zu, hob mich herunter, drehte knatschend die süße Dose auf, drückte sie mir in die Hand, nahm sich selbst einen Keks und ging ins  Schlafzimmer. Ich stopfte grade das vierte Plätzchen in den Mund, als ich die Oma die schwere Buchentreppe herauf poltern hörte. Starr vor Schreck und weiß vor Wut stand sie plötzlich in der Küchentür. Die Kartoffeln ihr polterten aus der Schürze und kullerten durch den Raum. Eine blieb direkt vor meinen Füßen liegen. Oma griff nach dem Reisigbesen, der an der Wand lehnte, und holte aus. Ich stolperte rückwärts, als Opa dazwischen trat und sagte: „Lass nur, Nada, ich habe sie ihm gegeben, er hat mir im Garten geholfen.“

So war Opa Slavko, stark wie ein Riese und jeder im Dorf zitterte vor seinem Jähzorn. Vor mich aber stellte er sich immer schützend. Auch, als ich mit dem Fußball das große Fenster in der Kirche zerschossen habe. Opa behauptete, er sei das gewesen und wenn jetzt nicht endlich Ruhe wäre, würde er noch den Beichtstuhl zertrümmern. Schließlich stünde der Winter vor der Tür und er bräuchte Holz zum Heizen. Beim nächsten Gottesdienst sammelte der Pfarrer in der Gemeinde für das neue Kapellenfenster, das im letzten Sturm zu Bruch gegangen sei. Ich gab alles, was ich hatte und das war nicht viel.

Doch eines Tages war auch Oma Nada verschwunden. Die Leute reden viel in einem kleinen Dorf.

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier, hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Deutsche far niente

Manchmal wünsche ich mir, im betreuten Wohnen zu leben. Oder wenigstens im Heim. Die Miete würde irgendein Amt bezahlen müssen, weil ich mein Geld rechtzeitig versoffen hätte.
Ich bekäme regelmäßig Mahlzeiten, ohne mich selber drum kümmern zu müssen. Ich säße den ganzen Tag vorm sonnigen Fenster, bohre in der Nase oder esse Chips und trinke Cola im Bett. Morgens putzen hübsche Pflegepraktikantinnen meine Zähne und waschen mich unten rum mit warmen Wasser und bloßen Händen, während ich auf ihre jungen steifen Brüste starre. Mittags pfurze ich in das frisch gemachte Bett. Sonntags bekomme ich Besuch, Weinbrandpralinen und die Autobild. Dann schicke ich das Pack wieder weg und gucke stundenlang Al Bundy, Raumschiff Enterprise und Tutti- Frutti, ich liebe Erdbeeren. Zur Nachtruhe drehe ich das Radio bis zum Anschlag auf und singe „Dicke“ von Westernhagen. Wenn ich Durst habe, klingele ich nach der Schwester und lasse ich mir meine Tropfen geben. Die Welt ist bunt und schön!

Stockdunkster

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7), Übergangsbinde (Kapitel 8) und Strafstoß (Kapitel 9)

Erst weit nach Mitternacht kommen wir wieder zu Hause an. Murat hat sich zweimal verfahren, der alte Saftsack, er hat eine Orientierung wie eine Grubenlampe. Ich habe mich zweimal übergeben, ich glaube, die Bratwurst ist mir auf den Magen geschlagen. Müde falle ich in mein Bett und krieche unter die Decke. Ich erschrecke, als sich meine eisigen Füße berühren. Sofort krümme ich mich in Embryonalhaltung und schlage mir dabei die Knie unter das zitternde Kinn. Im limbischen System schwappen Endorphine über, Blutdruck und Herzfrequenz sinken impulsiv und reißen mein Bewusstsein mit sich, nur noch die Notstromaggregate laufen. Ich falle in einen wirren und kalten Schlaf, mein Atem rasselt unruhig, meine Pupillen huschen hinter den Lidern hin und her.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf zwischen den Schultern eingeklemmt, warte ich an der Haltestelle auf den Bus, der schon seit zwei Stunden überfällig ist. Es ist stockdunkster, nur wenige Autos sind unterwegs. Ich trete von einem Bein aufs andere und fixiere die Kreuzung, aus der er kommen soll. Das winterliche Treiben setzt eben zum Gnadenstoß an, als der Dolmus endlich um die Ecke biegt. Er blendet kurz auf, donnert durch den Schneematsch an mir vorbei und hält etwa 100 m weiter auf dem Seitenstreifen. Verblüfft bleibe ich einige Sekunden wie angewurzelt stehen, stake dann steif den blinkenden, orangenen Lichtern hinterher. Schon am Heck klopfe ich stürmisch auf das Blech, durch die vereisten Scheiben fällt warmes Licht nach draußen. In Höhe der ersten Tür halte ich an und spähe erschöpft hinein. Murat sitzt am Steuer, ich kann ihn gut erkennen trotz seiner Uniform. Er schaltet den Motor aus, die Zielrichtungsanzeige zeigt jetzt Pause. Baff stehe ich da und trommele gegen das Siliciumdioxid, doch der Eingang bleibt vernagelt wie der gegnerische Strafraum für Arminia Bielefeld. Der Osmane schaut auf, zeigt auf seine Taucheruhr und hebt dann beide Hände mit allen ausgestreckten Fingern. Zehn Minuten später bin ich steif gefroren wie ein Eistaucher im Baikalsee. Als die Tür sich endlich öffnet, nestele ich mit klammen Fingern nach meinem Portemonnaie, kaufe mir ein Ticket und taumele zu dem letzten freien Platz. Ein junges Mädchen faltet ihre Beine über einander, ich krieche ans Fenster. Sie schaut mich an und lächelt, ein Hauch von Tosca steigt in meine Nase. Irritiert greife ich in meine Manteltasche, ziehe ein Rauchendchen heraus und beiße ab. Dann geht die Reise los, wie ein Silberfisch gleiten wir durch die Nacht, die Scheibenwischer kratzen dicke Flocken zur Seite und geben den Blick frei in die schwarze Unendlichkeit. Ein dumpfer Knall zerschneidet mit einem Mal das Brummen des Motors, der Bus bremst abrupt und kommt mitten auf dem Zebrastreifen zum Stehen. Tosca rutscht auf ihrem Sitz näher an mich heran, um besser sehen zu können. “Scheiße, scheiße, scheiße”, höre ich Murat sagen. Kurze Zeit später öffnet er mit einem Zischen die vordere Luke und steigt hinaus. Stimmenfetzen wehen herüber, groteske Schatten spielen Fangen, als ein weiterer dumpfer Knall durch die Nacht hallt. Dann ist Ruhe. Endlich tritt der Kutscher mit lautem Poltern und Stampfen wieder ein. In der einen Hand hält er einen toten Schneemann, in der anderen eine doppelläufige Flinte. Der Wind hat aufgehört zu wehen und die Schneeflocken verharren regungslos in der Luft.

Durch einen Spalt in der Tür schiebt sich ein größer werdender Lichtkeil in mein Zimmer. Ich halte den Atem an und kneife die Augen zusammen. Es raschelt und murmelt, dann fällt der Schnappriegel wieder ins Schloss. Die Bratwurst in meinem Magen dreht sich noch einmal um.

Es kommt hier noch schlimmer!

Strebergarten

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1) und Abstelltraum (Kapitel 2)

Ich stehe auf und gehe am versteinerten Murat vorbei. Entschlossen schnappe ich mir die herum liegenden Bierflaschen, sammle sie in den Kasten zurück und stelle ihn dem kleinen Muck genau vor die Füße. „Musste das sein?“, frage ich ihn, „du weißt genau, dass heute Eröffnung ist!“ Murat starrt weiter in den hohlen Raum, ein bisschen Sand rieselt ihm aus den Haaren und lässt mich vermuten, dass er noch nicht ganz mumifiziert ist. „Wie siehst du überhaupt aus?“ „Also, ich, äh …, du hast …“, stammelt er sich in den Schnauz. „Ach, red jetzt keine Opern, hilf mir mal, ich krieg das Fass hier nicht auf. Bin mal gespannt, was ich da günstig ersteigert habe!“ Wortlos überreicht mir Murat die Spitzhacke. Mit einem einzigen gezielten Hieb schlage ich den Deckel ab. „O’zapft is!“, verkünde ich stolz, klettere über das Splitterholz und linse in den Container. „Ich glaub’s nicht“, rufe ich, „Murat, komm her, das musst du dir unbedingt anschauen!“ Unsicher stolpert er zu mir, den Kopf dreht er dabei nach hinten, als könne jeden Augenblick ein Flaschengeist erscheinen und ihn zur ewigen Knechtschaft zwingen.
Plötzlich steigt süßlicher Rauch empor und wirbelt immer schneller durch unser Lager. Zitternd stehen wir da, helle Lichtpunkte sausen wie Schneeflocken im Sturm auf uns zu. Murat weicht erschrocken zurück, ich greife nach dem Klappspaten und halte ihn abwehrend vor das Gesicht. Die Wucht des Tornados reißt ihn mir aus den Händen, scheppernd fliegt er durch den Laden und schlägt das große Schaufenster ein. Dumpf höre ich Murat hinter mir kreischen und drehe mich erschrocken um. Er schwebt in der offenen Tür und strampelt verzweifelt, die Füße etwa 50 cm über dem Boden. Ich will ihm zu Hilfe eilen, als mich mit einem Ruck der rasende Nebel packt, in die Höhe reißt, im Kreis herum schleudert und mit einem Drei- Punkte- Wurf gekonnt in das enge Fass einnetzt. Mit einem lauten Rums schlägt der Deckel über mir zu und verdunkelt die Welt. Minuten lang geschieht nichts, ich höre nur meinen eigenen Atmen von den Holzwänden widerhallen, die Luft ist schwül und stickig. Schließlich schiebt sich Totenstille zwischen die Ritzen.

„Schneller, die Oase ist nicht mehr weit“, schreit er mir ins Ohr. Ich blicke stumm auf. Die Wüste flimmert wie die A2 im Gegenlicht vor den Kühltürmen des Kohlekraftwerks. Müde und schwer setze ich einen Fuß vor den nächsten. Dann endlich keimen die ersten Palmenblätter am Horizont. Vor Aufregung stolpere ich eine Senke hinunter. Die kühle Hoffnung rollt sich zusammen wie eine Leinwand am Ende des Dia-Abends. „Nein“, stammele ich und sinke auf die Knie. Mit beiden Händen greife ich in den glühenden Sand und schmeiße ihn in die Luft. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Schultern hoch, als er wie ein Meteoritenschauer auf mich herunter prasselt. Zornig schüttele ich mir den Kies aus den Haaren. Mein kleiner Mann ruft wieder: „Los, raff dich auf! Du schaffst es!“ Ich will ihn ignorieren. Zu oft hat er mich schon falsch beraten. Wie damals, als er meinte, ich solle mich zu diesem Kurs anmelden „Männer kochen anders“ und ich mich in einem Anti- Aggressionstraining für Akademiker wiederfand. Nur verhärmte Sozialarbeiter und Geschichtslehrer in Cordhosen. Das war vielleicht ein Reinfall. Ein anderes Mal drängte er mich zu einem Niederländisch- Sprachkurs und dann war ich im Urlaub doch wieder im Harz. Aber diesmal hat er wahrscheinlich Recht. Hier Burgen zu bauen, rettet mich nicht. Matt rappele ich mich wieder hoch. Ich blinzele in die Sonne, die erbarmungslos meinen Liquor zum Kochen bringt. Jeder Schritt gleicht dem stechenden Schmerz einer Spinalanästhesie. Mühsam schleppe ich mich durch die Senke und schon auf halben Weg höre ich das muntere Feilschen der Kamelhändler. Dann endlich tauchen Zelte aus dem Gekrümel auf und es riecht nach Bratapfel mit Zimt. „Vorsicht“, tönt es hohl in meinem Kopf. „Ruhe!“, murmele ich, „ich entscheide!“ Mit letzter Kraft krieche ich an toten Schädeln im Wüstensand vorbei bis zum ersehnten Wasserloch. Gierig stecke ich meinen Schlund hinein, in großen Schlucken saufe ich das trübe Nass. Trunken falle ich auf den Rücken, schließe die Augen und denke an die kühlen Tannen im Harz. An den trüben Sommer und die verregneten Tage in der muffigen Pension. Die alten Holzstufen knatschten und führten zu meinem kleinen und dunklen Zimmer im ersten Stock, unten wohnte die Vermieterin. Das Bad war auf dem Flur, kalt und moosgrün, wie das Wasser dieses Tümpels. Das Metallrost des Bettes quietschte bei jeder Bewegung. Der Hirsch röhrte im Dickicht und unterhielt sich mit seinem gemalten Kollegen über dem winzigen Tisch mit der Häkeldecke und den Trockenblumen im bröseligen Steckgrün. Morgens stellte die alte Hexe das Frühstück schon um 6.30 Uhr vor die Tür. Auf dem Weg zur Toilette trat ich in der ersten Nacht in die Teewurst auf dem Goldrandteller. Fluchend und humpelnd hüpfte ich über den roten Sisalläufer zum Ende des Ganges, um dann festzustellen, dass Mütterlein Gicht das Bad verschlossen hatte. Ich griff erleichternd zu der Teekanne des Herrn von Zimmer 7, als mich ein Teppichklopfer streifte.
In diesem Augenblick tritt mir ein Beduine in die Seite und zeigt grinsend seine schwarze Zahnpracht. Ich zucke zusammen, schlage die Augen wieder auf und setze mich. „Ich habe dich gewarnt“, ruft da mein kleiner Begleiter wieder, „das hast du jetzt davon.“ „Ach, halt’s Maul“, sage ich zu ihm, „Du hast mir die Suppe mit dieser Karawane doch überhaupt erst eingebrockt! Bleib doch hier, wenn du willst.“ Dann stehe ich auf und gehe auf das größte Zelt zu. Ich schiebe den schweren Baumwollstoff zur Seite und trete ein. Das Einkaufsparadies von Teppich Kibek eröffnet sich mir in seiner ganzen Pracht. Der Garten Eden des Vorwerkmannes, die Welttournee seines Kobolds, das Eldorado der Milbenallergiker. Und ich mittendrin. Der Beduine von Loch Ness betritt das Zelt. „Willst du kaufen schöne Kelim?“, fragt er. „Wie alt ist sie denn?“, frage ich zurück. „Was wie alt?“ „Die Kelim!“ „Kelim ist ganz neu! Guckst du hier“, sagt er und geht zu einem Haufen Vorleger, blättert darin herum und zupft von unten eine Katzendecke hervor. Kritisch reibe ich den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. „Die kratzt ja“, sage ich, „hast du nicht etwas anderes?“ und gehe auf einen Stapel zu, den er mir bewusst nicht gezeigt hat. „Was ist denn mit dem da?“, will ich wissen und zeige auf einen alten Fetzen, der aussieht, als habe Ali Baba darauf an einem Stück die Sahara und alle arabischen Wüsten durchritten. Entgeistert guckt er mich an. „Das ist ganz besondere Teppich“, stammelt er. „Ich weiß“, entgegne ich, „aber genau den will ich! Den und keinen anderen! Was kostet er?“ „Du willst wirklich habe fliegende Teppich?“, fragt er noch einmal. „Ja.“ „Dann du musst mir gebe kleine Mann von deine Schulter!“ „Meinen Dschinn? Niemals!“, entrüste ich mich. Er geht einen Schritt auf mich zu, „gib!“ zischt er. Zögerlich fasse ich meinen kleinen Begleiter am Rockzipfel, er tanzt und tobt wie Daniel Küblböck in der ersten Staffel von DSDS. Ich greife fester zu und halte ihn am ausgestreckten Arm dem Zeltgesicht entgegen. Er will eben zupacken, da schnellt meine Hand mit dem Superstar zurück. „Und noch genügend Wasser für zwei, nein, für drei Tage dazu!“, pokere ich. Finster gucke ich in seine gierigen Augen. „Du bist schlimmer als wie meine Brüder“, knurrt er, schlägt dann aber doch ein. Schnell ruft er zwei Schergen hinein, die draußen den Teppich und den Kaktussaft bereit stellen sollen. Er selbst stopft den Dschinn in ein altes Holzfass und nagelt den Deckel zu. Dann schlägt er seinen Kaftan über den Arm und weist mir den Weg mit einer eleganten, fast Hesterschen Geste hinaus. Dort liegt mein Teppich plan im Streugut, mitten drauf glänzen drei pralle Bocksbeutel ledern in der Sonne. Die vermummten Gebrauchtwagenverkäufer stehen feixend und johlend drum herum, Schwielensohler schieben spöttisch ihre Kiefer vor und zurück. Ich bahne mir einen Weg hindurch, setze mich auf den zerschlissenen Fußabtreter und durchkämme mit beiden Händen akribisch den dünnen Flor. Hohn prasselt auf mich nieder wie Reis auf das vermeintlich glückliche Brautpaar. Nach endlosen Minuten ertasten meine Finger das, wonach ich suchte. Ich richte mich auf und mit einem Ruck ziehe ich einen goldenen Faden heraus. Unter den bass erstaunten Gesichtern der Campinggemeinde im luftigen Tuch hebe ich flatternd ab. Ein unfassbarer Jubel, wie ihn nur ein deutscher Außenminister auf dem Balkon der Prager Botschaft kennt, weht zu mir empor. Hoch oben über ihrem Outlet-Store blicke ein letztes Mal zurück und sage meinem alten Dschinn Lebewohl. Ich kann bis hier hören, wie er wütend an die Wände seines Gefängnisses pocht.

Hier geht es weiter

Selbstgebackenes

Gib mir zehn Minuten. Zehn ruhige Minuten nur für mich. Ohne Ansprüche, ohne Lärm. Einfach auf der Terrasse in der warmen Abendluft ein wenig verschnaufen, bei einem Bier oder einem Glas Rotwein. Lautlos zieht ein Heißluftballon vorbei, Menschen sehen von oben herab. Ich schaue hoch und schließe die Augen. Immer dann beginnt eine Reise in die wilde Phantasie. Stuff I’m going to do. Dinge, die ich noch machen möchte. Einmal, oder auch öfter. Ein Kuckuck ruft dazwischen, der dumme Vogel. Er hatte einen Streit mit einem Esel. Wenn man sonst nichts zu tun hat. Also Augen wieder zu und loslassen, Leinen loslassen. Der Wind schiebt mich sanft in meinem Boot aufs Meer. Die Wellen kräuseln sich nur leicht wie verwachsene Rentnerdauerwelle. Ich schaukele mit, sinke in mich hinein. Meine Gedanken lassen den Stress und die Hektik des Tages los, befreunden sich mit der Stille und dem kleinen Kind in mir, das diesen Sommer am liebsten auf einem Abenteuerspielplatz verbringen möchte. Im wilden Ritt, mit einem gellenden „Juchee“, auf der Affenschaukel den riesigen Hügel hinab, die Beine angezogen, bis zum Ende dengeln und soweit zurück, dass der Kuckuck staunt. Das Fahrrad liegt umgeworfen im Gras, die Hose ist grün auf den Knien, die Hände sind schmutzig wie nach der Töpferstunde.
Ruhe. Die Zeit verstreicht, der Atem verklingt, die Sonne küsst den Horizont.

Schnurlos

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3) und Strafzimmer (Kapitel 4)

Beim letzten Aufbäumen vor dem schwarzen Tod vibrierte plötzlich mein Handy …brrrt …brrrt. Dann wieder …brrrt …brrrt. Mein Blick graste fieberhaft den Raum ab, hier irgendwo musste es doch liegen, und blieb am Fenster hängen.  In der Ecke sah ich eine Mücke im Netz einer riesigen Spinne verzweifelt zappeln. …brrrt …brrrt. Tarantula schaute vergnügt ein Weilchen zu, bis der Stechschmarotzer erschöpft war, dann überwältigte sie ihn mit einer heimtückischen Wickeltechnik. Ruhe. Stille. Nach ein paar Minuten brummte es wieder, doch diesmal blieb das Netz ruhig. Zu dem dumpfen Brummen gesellte sich jetzt ein scheppernder Oberton …brrrtbop …brrrtbop. Dann entdeckte ich mein Handy auf der Fensterbank, wie es an die Scheibe klopfte, genau unter den Fängen meines arachnophobischen Traumas. Acht Augen richteten sich sofort auf das zuckende Opfer. Ich schnappte mir einen Reisigbesen und kämpfte erbittert mit der schwarzen Witwe, doch sie war gut, fast so gut wie General Grievous. Sie fauchte wild, hob drohend ihre Vorderläufe und setzte zum alles entscheidenden Sprung an. Ich stolperte rückwärts und setzte panisch mit der Glut meines letzten Teerstäbchens das Birkengezweig meiner Waffe in Brand. Sie wich einen winzigen Moment zurück, den ich nutzte, ihr mit dem Laserbesen erst einen Arm, dann einen weiteren abzuschlagen. Vor Schmerz rollte sie sich zusammen. Ich richtete ihr einen kleinen Scheiterhaufen her und zündete ihn an. Sie zuckte ein letztes Mal, bevor es zu Ende ging, es roch nach Perücke auf dem Gasherd.

Ich ließ frische Lust ins Zimmer und schnappte mir mein Handy. Ein kleiner animierter Briefumschlag teilte mir den Eingang einer SMS mit. Mit fahrigen Wurstfingern zappte ich mich durch verschachtelte Menüs, stellte dabei versehentlich das Sprachlayout auf Mandarin, musste das Gerät verzweifelt auf Werkseinstellungen zurücksetzen und löschte dabei den kompletten Telefonspeicher. Alle Kontakte, persönlichen Einstellungen, Fotos, Nachrichten und Notizen waren verschwunden. Inklusive meiner PIN und meiner eigenen Nummer, die ich unter Ich abgespeichert hatte, weil ich sie mir nicht merken konnte. Einzig den Notruf hätte ich noch absetzen können, wenn nicht der Akku in dem Moment an Überhitzung gestorben wäre.

Hier geht die Geschichte weiter.

So weit das Auge reist

(überarbeitete Fassung)

»Schneller, die Oase ist nicht mehr weit«, schreit er mir ins Ohr.
Ich blicke stumm auf. Die Wüste flimmert wie die A2 im Gegenlicht vor den Kühltürmen des Kohlekraftwerks. Müde und schwer setze ich einen Fuß vor den nächsten. Dann endlich keimen die ersten Palmenblätter am Horizont. Vor Aufregung stolpere ich eine Senke hinunter. Doch die kühle Hoffnung rollt sich auf wie eine Leinwand am Ende des Dia-Abends.
»Nein«, stammele ich und sinke auf die Knie.
Mit beiden Händen greife ich in den glühenden Sand und schmeiße ihn in die Luft. Ich kneife die Augen zusammen und ziehe die Schultern hoch, als er wie ein Meteoritenschauer auf mich herunterprasselt. Zornig schüttele ich mir den Kies aus den Haaren.
Mein kleiner Mann ruft wieder: »Los, raff dich auf! Du schaffst es!«
Ich will ihn ignorieren. Zu oft hat er mich schon falsch beraten. Wie damals, als er meinte, ich solle mich zu dem Kurs anmelden »Männer kochen anders« und ich mich in einem Anti-Aggressionstraining für Akademiker wiederfand. Nur verhärmte Sozialarbeiter und Referendare in Latzhosen. Das war vielleicht ein Reinfall.
Das nächste Mal drängte er mich zu einem Niederländisch-Sprachkurs und dann war ich im Urlaub doch im Harz.
Aber diesmal hat er wahrscheinlich Recht. Hier Burgen zu bauen, rettet mich nicht. Matt rappele ich mich hoch und blinzele in die Sonne, die erbarmungslos meinen Liquor zum Sieden bringt. Jeder Schritt gleicht dem stechenden Schmerz einer Spinalanästhesie.
Mühsam schleppe ich mich durch die Senke und bereits auf halben Weg höre ich das muntere Feilschen der Kamelhändler. Endlich tauchen Zelte aus dem Gekrümel auf und es riecht nach Bratapfel mit Zimt.
»Vorsicht«, tönt es hohl aus meiner Gedankenlaube.
»Ruhe!«, murmele ich, »ich weiß schon, was ich tue!«
Mit letzter Kraft krieche ich an toten Schädeln im Wüstensand vorbei bis zum ersehnten Wasserloch. Durstig stecke ich meinen Schlund hinein und saufe in großen Schlucken das trübe Nass.
In diesem Moment tritt mir ein Beduine in die Rippen und zeigt grinsend seine schwarze Zahnpracht. Ich zucke zusammen und setze mich auf.
»Ich habe dich gewarnt«, ruft da mein kleiner Begleiter wieder, »das hast du jetzt davon.«
»Ach, halt‘s Maul«, sage ich zu ihm, »du hast mir die Suppe mit dieser Karawane überhaupt erst eingebrockt! Bleib doch hier, wenn du bange bist.«
Dann stehe ich auf und gehe auf das größte Tipi zu. Ich schiebe den schweren Baumwollstoff zur Seite und trete ein. Das Einkaufsparadies von Teppich Kibek eröffnet sich mir in all seiner Pracht. Der Garten Eden des Vorwerkmannes, die Welttournee seines Kobolds, das Eldorado der Milbenallergiker. Und ich mittendrin. Der Beduine von Loch Ness betritt das Zelt.
»Willst du kaufen schöne Kelim?«, fragt er.
»Wie alt ist sie denn?«, frage ich zurück.
»Was wie alt?«
»Die Kelim!«
»Kelim ist ganz neu! Guckst du hier«, sagt er und geht zu einem Haufen Vorleger, blättert darin herum und zupft von unten eine Katzendecke hervor.
Kritisch reibe ich den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Die kratzt ja«, sage ich, »hast du nichts Besseres?« und gehe auf einen Stapel zu, den er mir bewusst nicht gezeigt hat.
»Was ist mit dem da?«, will ich wissen und zeige auf einen alten Fetzen, der aussieht, als habe Ali Baba darauf an einem Stück die Sahara und alle arabischen Wüsten durchritten.
Entgeistert guckt er mich an, »das ist ganz besondere Teppich«, stammelt er.
»Ich weiß«, entgegne ich, »aber genau den will ich! Den und keinen anderen! Was kostet er?«
»Du willst wirklich habe fliegende Teppich?«, fragt er noch einmal.
»Ja.«
»Dann du musst mir gebe kleine Mann von deine Schulter!«
»Meinen Dschinn? Niemals!«, entrüste ich mich
Er geht einen Schritt auf mich zu, »gib!« zischt er.
Zögerlich fasse ich meinen Begleiter am Rockzipfel, er tanzt und tobt wie Daniel Küblböck in der ersten Staffel von DSDS. Ich greife fester zu und halte ihn am ausgestreckten Arm dem Zeltgesicht entgegen. Er will eben zupacken, da schnellt meine Hand mit dem Superstar zurück.
»Und genügend Wasser für drei, nein, für vier Tage dazu!«, pokere ich und gucke finster in seine gierigen Augen.
»Du bist schlimmer als wie meine Brüder«, knurrt er, willigt aber doch ein.
Schnell ruft er zwei Schergen hinein, die draußen den Filzvorleger und den Kaktussaft bereitstellen sollen. Er selbst stopft den Dschinn in ein altes Holzfass und nagelt den Deckel zu. Dann schlägt er seinen Kaftan über den Arm und weist mir den Weg mit einer eleganten, fast hesterschen Geste hinaus. Dort liegt mein Teppich plan im Streugut, mitten drauf glänzen vier pralle Bocksbeutel ledern in der Sonne.
Die vermummten Gebrauchtwagenverkäufer stehen feixend und johlend drum herum, Schwielensohler schieben spöttisch ihre Kiefer vor und zurück. Ich bahne mir einen Weg hindurch, setze mich auf den zerschlissenen Fußabtreter und durchkämme mit beiden Händen akribisch den dünnen Flor. Hohn prasselt auf mich nieder wie Reis auf das vermeintlich glückliche Brautpaar. Nach scheinbaren Ewigkeiten ertasten meine Finger das, wonach sie suchten. Ich richte mich auf und ziehe ruckartig einen goldenen Faden heraus. Unter den bass erstaunten Gesichtern der Campinggemeinde im luftigen Tuch hebe ich flatternd ab. Ein unfassbarer Jubel, wie ihn sonst nur die nackten Jungs von Tokio Hotel beim Girls Day kennen, weht zu mir empor. Hoch oben über ihrem Outletstore blicke ein letztes Mal zurück und sage meinem alten Dschinn Lebewohl.
Ich kann bis hier hören, wie er verzweifelt an die Wände seines Gefängnisses pocht.


(Originalfassung als Audiodatei)

Potpourri

Das wollte ich schon länger mal machen: Eine Geschichte schreiben, in der alle meine Schlagwörter („Tag-Links“, siehe am rechten Rand) mindestens einmal vorkommen. Ich probiere es mal alphabetisch!

Es ist Heiligabend. Soeben öffne ich das letzte Törchen vom Adventskalender. Was ist das denn? Ich traue meinen Augen nicht: Ein kleines Schokoladenauto. Und wer steigt grade aus? Der Bofrostmann! Wo will der denn so spät hin? Will der etwa noch Tiefkühl- Brötchen ausliefern? Wo denn? Hier in dieser unwirtlichen Gegend, mitten am Deich? Hier gehen die Eier zu Ende, die Frauen spielen Fußball und Haare wachsen am Horizont! Was in aller Welt hat der hier verloren? Leise schleiche ich ihm nach. Das gespenstische Licht des Mondes verzerrt die Schatten der Hühner im Garten von Kapitän Ahab zu einer Karawane Fleisch fressender Saurier. Plötzlich bleibt der Bofrostmann stehen und blickt sich misstrauisch um. Ich zucke zusammen. Hat er mich gesehen? Dämonisch sieht er aus, als würde er Kinder fressen. Ich fürchte um mein Leben, als er einige Schritte auf mein Versteck zugeht. Sein eisiger Atem stirbt in der klirrenden Kälte, kaum dass er sein Maul verlässt. „Ich bin ein Mann“ , denke ich, „zum Sterben ist jetzt keine Zeit!“ und laufe weg. Meine Schritte hallen in der Dunkelheit wie die Schläge des Belzebubs zum Altweiberfasching auf dem glühenden Amboss. Atemlos renne ich zum Meer. „Heiliges Murmeltier, steh mir bei“, schreie ich. Der graue Riese schmeißt unbarmherzig seine kalten Arme nach mir und spült Muscheln um meine Füße. Unsichtbare Möwen schreien durch die Nacht. Meine Nase saugt den salzigen Odem des Todes ein, in den Ohren knistert es nach zertretenem Playmobil. Das Radio in meinem Kopf spielt Julis „Woanders zu Hause“. Dann ist plötzlich Ruhe. Kognitiver Stromausfall. Unendliche Stille. Das Meer schweigt, als habe Neptun Mittagsschlaf verordnet und drohe jedem, der dieses Gesetz missachtet, mit einer Einzelstunde Eurythmie. Mit meinen Zehen presse ich den Sand in meinen Schuhen immer wieder zusammen, bis sich ein kleiner Damm darin bildet. Die Welt um mich herum ist stumm, wie in der Schule beim Englisch- Unterricht, mucksmäuschen still. Selbst die Segel eines trüben, vorüberziehenden Seelenverkäufers halten sich an das unausgesprochene Redeverbot. Ich fröstle.
Mit lautem Getöse poltert die Brandung Ruptus artig wieder los, glitschig wie Seife prescht sie mir ihre klamme Gischt ins Antlitz. Ich muss spucken und kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, brennt die Sonne, obwohl es eben noch stockfinster war. Bis zu den Knien eingegraben stehe ich am Strand, es ist heller Tag. Hinter mir entdecke ich eine schimmernde Tür. Das Wasser frisst gierig ihren Rahmen und drückt an die Buhnen.

Das Leben ist wie die Flut an Weihnachten“ , denke ich, „was die Welle nicht reißt, das reißt der Wichtel!“
In der Tür drehe ich mich noch einmal um und blicke ein letztes Mal zum Ende der Welt. Der Wind bläst mir ins Gesicht, das hält die Windschutzscheibe nicht.

Versöhnungssex

Das gibt es echt?! Ich frage mich, wer von beiden Geschlechtern (im Idealfall) davon häufiger Gebrauch macht? Der Partner, der den Streit vom Zaun bricht oder der, der sich einfach wieder umdrehen und in Ruhe weiterschlafen möchte?
Wenn morgens um 5.30 Uhr am Wochenendsamstag der Müllwagen durch die Stichstraße poltert und vorm Schlafzimmer in der engen Einfahrt rangiert. Das Fenster muss ja unbedingt auf bleiben, weil die Luft so stickig ist! Aber beim Auto fahren kann es 35 Grad im Schatten haben und alles bleibt zu, weil es sonst so zieht? Da denk ich doch daran, wie ich diesen Querulanten neben mir sanft das Kopfkissen auf das Gesicht drücke, bis die Luft erfüllt ist von zartem Ammoniakduft, aber doch nicht, wie ich mit ihm schlafe?! Das wiederum veranlasst mich anzunehmen, dass es die Frau ist, die sich dieser gemeinen, infamen und hinterlistigen Methode bedient.
Das wäre dann also geklärt. Bleibt es noch zu hinterfragen, warum sich der Mann aber immer wieder drauf einlässt? Weil er sonst keinen Sex hat? Weil Sex schneller geht als Reden? Weil sie wenigstens das kann? Weil sich ihre Familie für Samstag Nachmittag angekündigt hat und der nächste Streit schon vor der Tür steht (Anpfiff um 15.30 Uhr)? Weil er sich Kinder wünscht? Weil er ein schlechtes Gewissen hat wegen seiner neuen Schuhe? Damit sie das mit der neuen Arbeitskollegin nicht herausbekommt?
Nein, ich glaube, das wird der schwierigen Problematik immer noch nicht gerecht!
Die Antwort ist: Weil sie es schaffen! Der Mann kann sich einfach nicht verweigern.
Da wiederum spielen uralte Ängste eine Rolle: Den kleinsten Schnippel in der Klasse zu haben. Dass ein anderer ihm zuvorkommt. Dass man sonst keine abkriegt. Und das ist ungerecht. Eine Frau könnte „Nein, ich habe meine Tage“ sagen. Ein Mann kann das nicht. Deshalb muss er immer mitmachen bei dem Spiel. Immer, bevor die Lindenstraße kommt oder ihre beste Freundin zur Sportschauzeit. Immer, wenn eine neue Beule im Auto ist oder der Müllwagen vor dem Haus poltert.
Gott sei dank, morgen ist wieder Samstag!