Dreizack

Der Wind hängt schwer in den Segeln. Tief sticht der Bug in die schwarze See. Die Mannschaft wimmelt emsig auf Deck. Ratten huschen durch ihre Beine auf der Suche nach einer Mahlzeit. Die Sonne versinkt soeben am Horizont, die Nacht kündigt sich trüb und kalt an.
Unten in seiner Kajüte rollt der Kapitän eine Seekarte auf seinem wuchtigen Tisch aus und zähmt die Widerspenstige mit einem Tintenfass und einem schweren Goldring. Unruhig geht er hin und her. Die halbe Mannschaft ist an Skorbut erkrankt. Doch seit auch sein Steuermann und Freund Bartolomeu fiebernd mit dem Leben ringt, hat er kein Auge mehr zugetan. Übermüdet streckt er sich. Dann beugt er sich über die Karte und guckt sich die bisherige Route skeptisch an. Ihm fehlt der Anhalt, wo genau sie sich befinden. Er ist ein großartiger Seemann und hervorragender Taktiker in jeder Schlacht, die Mannschaft nennt ihn deswegen ehrfürchtig Neptun, aber mit der astronomischen Navigation an Sonne und Sternen steht er auf Kriegsfuß. Verzweifelt nimmt er noch einmal den Stechzirkel und schlägt einige Bögen auf der Karte von ihrer letzten bekannten Position aus. An der Stelle, an der er ein kleines Kreuz einzeichnet, ist die Karte im Umkreis von 200 Seemeilen blau. Verzweifelt stützt er den Kopf in die Hände. Sein einziger Vertrauter in dieser Misere ist der Smutje Mo und der ist dem Alkohol zugetan wie der Teufel der sündigen Seele. Wütend wischt er die Karte mit einem Bärenhieb vom Tisch, als es an der Tür klopft. „Ja“, brummt er. Mo poltert aufgeregt in die Kajüte, „Käp’tn“, stammelt er, „kommen Sie schnell!“ Noch ehe er eine Antwort bekommt, stürmt Mo auch schon wieder an Deck. Der Kapitän stampft hinterher. Im Dämmerlicht der heranbrechenden Nacht stolpert er über Holzstücke und Metallteile, die überall auf den Planken herum liegen. Die Mannschaftstraube verstummt und gibt eine Gasse frei, als sie ihren Kommandanten bemerken. Sechs mastdicke Arme halten dabei den tobenden Steuermann in Schach. „Was ist hier los?“ Keiner der Maaten wagt es zu sprechen. Mit einem lauten Krachen zertritt der Kapitän eine Backskiste. Dann endlich traut sich Mo: „Er hat in seinem Fieberwahn die letzten Fässer mit Trinkwasser zerschlagen!“ „Hängt den dreckigen Wichtel auf!“, ist Neptuns erster Impuls zu sagen. Doch dann besinnt er sich, vielleicht ist Bartolomeu der einzige, der sie noch retten kann. „Bringt ihn nach unten und gebt ihm von dem, was noch übrig ist, zu essen und zu trinken!“, knurrt er und stiert dabei jeden mit dem kalten Blick eines Henkers an. Angstvoll schauen die Männer zur Seite, keiner sagt ein Ton. Jeder weiß, dass er selbst statt des Steuermannes am Mast hängen könnte, wenn er sich dem Befehl des Kapitäns widersetzt. Neptun dreht sich um und verschwindet wortlos nach Achtern zum Steuerrad. Er scheucht den Rudergänger fort, übernimmt seinen Platz und starrt in die Dunkelheit. Lange steht er da, unbeweglich wie eine Galionsfigur. „Zum Klabauter!“, murmelt er plötzlich und spuckt ins Wasser, erst jetzt bemerkt er den aufziehenden Sturm. Schon brechen hohe Wellen über dem Schiff zusammen. Die Mannschaft hat mit Neptun schon viele Abenteuer überstanden, aber jetzt sehen sie den Sensenmann schon blinzeln. Zum Segel reffen und Abwettern ist es zu spät. Kurzentschlossen stellt Neptun das Schiff in den Wind. Es bäumt sich auf wie ein verwundeter Stier. Dumpf knarren die Masten unter der Last. Die Taue sind bis zum Zerreißen gespannt. Die Winschen jammern und ächzen, die Spanten bellen hungrig. Mit einem lauten Schlag reißt sich das Rahsegel am Fockmast los. Mit letzter verzweifelter Kraft klettert Afonso, sein Bootsmann, den Mast hoch und schafft es, das Segel loszuschneiden. Peitschend frisst der Sturm sein erstes Opfer. Afonso schaut hinterher, als ein Blitz krachend den Nachthimmel für einen kurzen Augenblick erleuchtet. „Land!“, schreit er, „“Land in Sicht!“ Ungläubig rennen die Männer zur Reling und starren aufs Meer. Doch in der Dunkelheit können sie nichts erkennen. Neptun brüllt: „Auf eure Posten!“ und nimmt Kurs in die Richtung, die ihm Afonso gezeigt hat. Das Schiff dreht sich nur störrisch, immer wieder driftet es ab. Dann endlich tauchen tatsächlich Schatten in der Dunkelheit auf. Langsam schieben sie sich näher. Gaffend und feixend stehen die Männer zusammen. Plötzlich bekommt das Schiff Schlagseite. Wie von einem riesigen Seeungeheuer getreten sackt es zur Seite. Wer sich nicht halten kann, wird umhergewirbelt oder von Bord geschmissen. Neptun reißt das Ruderrad herum, er muss das Schiff wieder in den Wind stellen, damit es sich aufrichtet. Schon rollt die nächste Welle heran und droht das Schiff zu zerschlagen. Im letzten Moment greift der Wind in die klammen Segel, hievt es in die Höhe und schiebt es vor der Welle her. Es gelingt Neptun, das Schiff in den Windschatten der Insel zu manövrieren. Dann läuft es knatschend und knirschend auf Grund auf. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Erschöpft starrt Neptun in die Dunkelheit.

Potpourri

Das wollte ich schon länger mal machen: Eine Geschichte schreiben, in der alle meine Schlagwörter („Tag-Links“, siehe am rechten Rand) mindestens einmal vorkommen. Ich probiere es mal alphabetisch!

Es ist Heiligabend. Soeben öffne ich das letzte Törchen vom Adventskalender. Was ist das denn? Ich traue meinen Augen nicht: Ein kleines Schokoladenauto. Und wer steigt grade aus? Der Bofrostmann! Wo will der denn so spät hin? Will der etwa noch Tiefkühl- Brötchen ausliefern? Wo denn? Hier in dieser unwirtlichen Gegend, mitten am Deich? Hier gehen die Eier zu Ende, die Frauen spielen Fußball und Haare wachsen am Horizont! Was in aller Welt hat der hier verloren? Leise schleiche ich ihm nach. Das gespenstische Licht des Mondes verzerrt die Schatten der Hühner im Garten von Kapitän Ahab zu einer Karawane Fleisch fressender Saurier. Plötzlich bleibt der Bofrostmann stehen und blickt sich misstrauisch um. Ich zucke zusammen. Hat er mich gesehen? Dämonisch sieht er aus, als würde er Kinder fressen. Ich fürchte um mein Leben, als er einige Schritte auf mein Versteck zugeht. Sein eisiger Atem stirbt in der klirrenden Kälte, kaum dass er sein Maul verlässt. „Ich bin ein Mann“ , denke ich, „zum Sterben ist jetzt keine Zeit!“ und laufe weg. Meine Schritte hallen in der Dunkelheit wie die Schläge des Belzebubs zum Altweiberfasching auf dem glühenden Amboss. Atemlos renne ich zum Meer. „Heiliges Murmeltier, steh mir bei“, schreie ich. Der graue Riese schmeißt unbarmherzig seine kalten Arme nach mir und spült Muscheln um meine Füße. Unsichtbare Möwen schreien durch die Nacht. Meine Nase saugt den salzigen Odem des Todes ein, in den Ohren knistert es nach zertretenem Playmobil. Das Radio in meinem Kopf spielt Julis „Woanders zu Hause“. Dann ist plötzlich Ruhe. Kognitiver Stromausfall. Unendliche Stille. Das Meer schweigt, als habe Neptun Mittagsschlaf verordnet und drohe jedem, der dieses Gesetz missachtet, mit einer Einzelstunde Eurythmie. Mit meinen Zehen presse ich den Sand in meinen Schuhen immer wieder zusammen, bis sich ein kleiner Damm darin bildet. Die Welt um mich herum ist stumm, wie in der Schule beim Englisch- Unterricht, mucksmäuschen still. Selbst die Segel eines trüben, vorüberziehenden Seelenverkäufers halten sich an das unausgesprochene Redeverbot. Ich fröstle.
Mit lautem Getöse poltert die Brandung Ruptus artig wieder los, glitschig wie Seife prescht sie mir ihre klamme Gischt ins Antlitz. Ich muss spucken und kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, brennt die Sonne, obwohl es eben noch stockfinster war. Bis zu den Knien eingegraben stehe ich am Strand, es ist heller Tag. Hinter mir entdecke ich eine schimmernde Tür. Das Wasser frisst gierig ihren Rahmen und drückt an die Buhnen.

Das Leben ist wie die Flut an Weihnachten“ , denke ich, „was die Welle nicht reißt, das reißt der Wichtel!“
In der Tür drehe ich mich noch einmal um und blicke ein letztes Mal zum Ende der Welt. Der Wind bläst mir ins Gesicht, das hält die Windschutzscheibe nicht.

Der Jever- Mann

Kapitel 1

Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall. Klopf ist nirgends zu sehen. Ich hebe das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig an die Seite. Er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack. Er tut so, als merkt er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa und seine neue Freundin warten schon. Sie hupt und fächert mit den Armen, ich solle mich beeilen. Eigentlich ist es ja Papa, der es so eilig hat, wir hätten noch über eine halbe Stunde Zeit, hat Isabelle gesagt. Und zum Bahnhof seien es nur zehn Minuten. „Wo warst du denn noch?“, will Papa prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Dann geht es los. Wie Bolle freue ich mich auf diesen Urlaub. Es ist der erste, seit Mami weg ist. Papa hat uns eine Schnitzeljagd versprochen, mit Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Ich bin mal gespannt, ob er diesmal hält, was er verspricht. Isabelle kommt schnell voran und zwanzig Minuten zu früh stehen wir vor dem Hauptbahnhof. Zusammen heben sie die Koffer aus dem Auto, weil Papa noch dolle Rückenschmerzen hat. Die beiden knutschen noch eine Weile, weil Isabelle erst in ein paar Tagen hinterher kommt. Dann wird die Zeit doch wieder knapp. Wie immer streite ich mich mit meinem Bruder darüber, wer jetzt den Trolli holen darf. Wer den Chip einwerfen darf. Wer ihn zuerst schieben darf. Wer zuerst im Fahrstuhl auf hoch oder runter drückt. Wer den Trolli zurück bringt. Es steht 3:2 für mich. Mein Bruder schimpft, dann könne er ja gleich zu Hause bleiben. Dann hätte ich Papa für mich. Aber er steigt doch ein. Schwer bepackt laufen wir durch den Zug bis zu unseren Plätzen. Er sitzt neben Papa, Mist, unentschieden. Dafür mache ich als erster die Tasche mit dem Proviant auf und schnappe mir eine Bifi- Roll. Der Zug ist schön leer, wir hätten gar keine reservierten Plätze gebraucht. Nach knapp einer Stunde müssen wir das erste Mal umsteigen. Papa schimpft, was wir denn alles eingepackt hätten. Am Bahnsteig auf der anderen Seite fährt unser nächster Zug grade ein. Papa wird hektisch, ich denke das erste Mal an Klopf. Freundliche Menschen um uns herum helfen uns und irgendwie schaffen wir es doch. Elende sieben Waggons schieben und stoßen wir unsere Koffer durch die erste Klasse und das Bordbistro bis bis zu unseren neuen Sitzen. Auch hier schön leer. Wie steht es denn jetzt eigentlich? Na ja, egal. Wir schnicken halt, Bombe und Rakete gibt es nicht, das habe ich dem Doofmann schon einhundert Mal gesagt. Eine olle Schachtel beschwert sich, wir seien zu laut, hier im Zug säßen noch andere Leute und wollten arbeiten oder sich erholen. Papa stellt sich taub, wir machen weiter. Wir müssen wieder umsteigen, diesmal ist der Zug rappel voll, Füße ragen in den Gang, Koffer versperren den Weg. Warum hat Papa nicht reserviert? Weil er es trotzdem hinkriegt! Die nächsten beide Male müssen wir nur auf das Gleis gegenüber. Das schaffen wir locker. Es ist auch wieder deutlich leerer. Wir spielen mit der Bordtoilette, die eine lustige automatische Tür hat. Papa ist eingeschlafen. Ich füttere Klopf mit Papas mitgebrachtem Tomaten- Mozzarella- Brötchen. Als der Zug nicht weiterfährt, wecken wir ihn. Soeben huschen wir noch in den letzten Bus. Den Koffer auf den Knien rumpeln wir über Kopfsteinpflaster bis zum Fähranleger. Ein gewagtes Spiel mit der Zeit. Als der Kapitän dreimal trötet, hat Papa auch endlich die Tickets in der Hand und die Koffer abgegeben. Zusammen mit den Ratten erklimmen wir das überfüllte Deck. Der Wind pfeift um unsere Ohren und um kleine Birken, die das Fahrwasser markieren. Erschöpft kuschele ich mich an Papa. Die Sonne blendet mich. Die Sportvereinskameraden Wittmund auf Auswärtsspiel wärmen sich mit obergärigen Getränken auf, die Jugendreisegruppe aus Schieder blockiert Minuten lang für ein Foto die Treppe zum Heck und zu den Propellern. Die Drecksmöwen kreuzen für jeden Bissen gegen den Wind und ich schlafe ein. Ein letzter Ritt mit der Bimmelbahn zwischen Jack Wolfskin- Jacken, Bench- Fleecepullovern, Schöffel- Westen, Fahrrädern, Kinderwagen, plärrenden Kindern mit Nutella- Schnuten und schweren Windeln, zwischen Okzident und Orient, als wir endlich den Inselbahnhof erreichen. Mein Bruder und ich sind zu müde, um Papa tragen zu helfen. An der alten Museumslokomotive warten wir auf ihn. Er kommt mit einem quietschenden Bollerwagen und einem langen Gesicht zurück.

Wir erstürmen die Wohnung wie Dieter Bohlen früher die Charts. Dann wollen wir an den Strand, mein Bruder und ich. Papa möchte erst eine Pause machen. Beim Hüpfen auf der Matratze komme ich höher als mein Bruder, stoße mir aber den Kopf. Ich entdecke als erster die Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Ein Shanty- Chor vor einem großen Segelschiff liebt die Stürme. Papa kann nicht einschlafen und wir ziehen uns wieder an. Über rot geklinkerte Wege stürmen wir an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, im Slalom um jeden Pöller, Anker und Bojen in Vorgärten zählend, mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und an Papas Hand wieder hinauf. Hinter der letzten Biegung liegt das Meer dann plötzlich da: Groß, weit und grau. Was Klopf jetzt wohl macht, fällt mir plötzlich ein. Dann stößt mir der Wind die Kapuze vom Kopf und ich meinen Bruder. Laut brüllend wie auf Kaperfahrt erobern wir die Welt. Papa fällt um wie der Jever- Mann.

Hier geht die Geschichte weiter

Ruhe

Ich möchte die Sonne am Horizont zischend und brodelnd im Meer verschwinden hören. Ich möchte ihrer stillen Lebendigkeit lauschen.
Wie mit dem Kopf halb unter Wasser, wenn ich zwischen Playmobil- Booten der Kinder in der Badewanne liege. Nur Augen und Nase schauen noch heraus. In den Ohren knistert Badeschaum, Hitzeschwaden steigen aus dem Wasser empor. Alle Geräusche verschwinden. Ich schließe meine Augen.
In meinem Kopf entsteht eine Musik aus einem vergangenen Jahrhundert. Unter der heißen Sonne prescht das riesige Schiff über das weite Meer. Die Masten stöhnen und ächzen unter der Last des Windes in den Segeln. Der Bug sticht tief in die Wellen, Gischt spritzt hoch empor. Der Kapitän blinzelt ins helle Licht, brüllt den Matrosen ein paar Befehle zu. Schon kurze Zeit später liegt das Schiff wieder ruhiger in der See. Der Kapitän geht zurück unter Deck.
Ich tauche auf und öffne die Augen. Mein Badezimmer schwimmt. Ich ziehe mich an, mache die Moby Dick- CD aus und schließe die Tür zum Kinderzimmer. Endlich Ruhe!

Stille Sehnsucht

Direkt am Meer. Dort, wo die Sonne untergeht. Da stehe ich auf dem Deich, schaue den Möwen beim Scheißen zu. Der Wind pfeift mir um die Nase. Hier oben ist das Gefühl der Freiheit näher als das der Kälte. Die Luft riecht nach Salz und Fisch.
In der Nacht wird die Stille hörbar: Das Rauschen des Meeres, das metallische Schlagen der Segel am Mast, das Knallen der Fahnen im Wind, das Klingen der Glocken auf den Schiffen und Booten, das dumpfe Stöhnen der sich spannenden Taue. Lichter am Horizont blinzeln zu mir herüber. Die Flut drückt Wellen an den Strand, spült Muscheln und Tang immer ein Stückchen näher an den Deich.
Stille Sehnsucht nach Sand in den Schuhen, Krabbenkuttern und Kiefernwäldern, Leuchttürmen und Lachsbrötchen, Dünen und Dorschen.