Strandgut

Nach ein paar stürmischen und kalten Tagen ist wieder Ruhe eingekehrt. Handschuhe versüßen mir den Moment. Das Meer liegt sanft da, während es zuvor drohte, die Seebrücke umzuschmeißen. Das Toben der See und das Fauchen des Windes haben nachgelassen. Endlich nur ein friedliches Wogenplätschern. Andere Lichtempfindungen, andere Gedanken. Die Bank am Tisch ist frei, dafür mehr im Schatten als meine. Ich zögere noch. Solange sie niemand haben will, solange bleibe ich auch hier. Missgünstig eine Fliege verscheucht, die sich vorlaut an meinem Rucksack zu schaffen gemacht hat.
Doch den Platz getauscht. Schreibe nun am Tisch, ist einfacher. Es könnte wärmer sein, aber ich wollte nicht länger auf dem Zimmer sein. Klappse liegt weit weg. Da liegt sie gut. Am liebsten würde ich sie da auch lassen. Ich will nicht zurück, will etwas Neues. Suche und brauche Ruhe und Entspannung. Will diese verrückten Geschichten nicht mehr hören, machen mich alle. Will raus aus dem Molloch. Vielleicht ein Haus am See? Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Wind kommt auf, Spaziergänger mit Hund. Schurrmurr. Miniaturen. Gedanken befreien, Stoffstückchen und Worte sammeln. Piratenflagge. Hau ab und lass mich in Frieden. Scheiß Töle. Auto fährt vorbei, Mülleimerdeckel schlägt zu, Vogel zwitschert. »Trinkpause, Keks essen.« Aber nicht hier an meinem Tisch, Gott sei dank! Pferd am Strand, reitet weg. Boot am Horizont. Gebell macht die Idylle kaputt. Menschen mit Hunden glauben, es sei normal und in Ordnung, wenn ihre Köter das tun. Der Kleinste ist der lauteste. Die Blonde war auch schon mal da, wählt aber eine andere Bank. Er kläfft weiter. »Ihr Hund freut sich auf das Meer«, wenigstens einer. Boah, ist das ein dämlicher Kläffer, hoffentlich ersäufst du.
»Ich habe Hunger«, schreit ein Blag. Ihr hättet auch gerne einen Tisch? Hahaha, leider bereits besetzt.
Mistdreck, da kommt noch einer. Man könnte fast meinen, ich bin am Hundestrand.
Nie bin ich alleine, irgendwas ist immer. Lasse die Gedanken fließen, zensiere sie nicht, sortiere sie nicht. Brauche Worte, Sätze, Ideen und Anregungen.

Klotz packt aus, Klotz räumt ein. Er sitzt da, starrt aufs Meer, will raus aus seinem Alltag, der ihn belastet, den er nicht mehr verarbeiten kann. Er sucht nach Auswegen und Lösungen, findet aber keine, dafür Krach und Hundescheiße. Es muss weitergehen, ohne Pause! Unsicheres Gegickere. Blond und blind. Wellen, Vögel.

Klotz kommt einen Moment zur Ruhe, lauscht den Geräuschen, fühlt sich wohl. Kalt zwar, aber er ist am Meer. Wo alles anders ist.

Der Kugelschreiber scheint bald aufgeben zu wollen. Einen Neuen zu kaufen scheidet aus, wo doch zu Hause die ganze Schublade damit voll ist. Die Füße auf den kleinen Absatz unter dem Tisch gestellt. Unter den geht aber auch. Da ist sie wieder, die Blonde. Bewegt sich, stellt sich in die Sonne, hinterlässt Fußspuren im Sand.

Klotz muss mittendrin sein, um schreiben zu können. Schreiben! Welch wunderbares Tun.

Sie schaut mich an, Ü40, wirkt dennoch verspielt, enge Jeans, debil? Nimmt ihr Rad, schiebt es an die Straße. Wieder fast alleine an meinem Schreibplatz. Eigentlich ist es zu kalt, Finger frieren trotz Handschuhen. Dehnungsübung am Geländer. Jetzt das andere Bein, ich könnte das nicht. Einen Kugelschreiber habe ich schon weggeworfen. Schade, dass ich mit die Anfangszeit des Schreibens nicht notiert habe, wäre gespannt. 45 Minuten noch bis zum Mittagessen. Hähnchenfilet Toskana oder so. Freue mich auf Wärme. Auto hält, Türen schlagen. Eindrücke aufnehmen, staccatoartig festhalten. Stoffmuster, Nähproben, einfädeln, sonst entsteht keine Geschichte. Was?! Geht weg, will nicht reden, will euch nicht zuhören. Brauche Flow, halte ihn aufrecht. Muss das tun. Muss es wegschreiben, damit Gedanken weg sind. Lila Mütze. Noch eine, dafür mit Puschel. Karopapier oder doch lieber Linie? Ich oder der Kugelschreiber? Wer von uns beiden gibt zuerst auf? Lange kann es nicht mehr dauern. Unzensiert sein dürfen. Das ist mir wichtig. Stehenlassen können. Weg ist die Aufwärmerin, gut so, Dummbatze. Hat mir nur den Blick aufs Meer verstellt. Vielleicht ist dem Kuli auch zu kalt. Sollte ich später mal googeln oder vorsorglich nach einem anderen die Augen offen halten. In der Sparkasse einen klauen, umlagern. Stehen da oben immer noch und quatschen. Haben die kein Zuhause? Schwarzer Van. Muss nun los, will nicht stoppen, friere aber durch. Rücken, Nase, zu kurze Socken. Fetter Arsch mit Rucksack. Laterne, schief, sieht sozialistisch aus.
»Warte, Papa will noch die Jacke zumachen!« Ja, dann mach doch und halt das Maul!
Paradoxerweise hätte ich nichts zu schreiben, oder weniger, wenn die Idioten nicht hier wären. Endlich verschwinden die Tratschtaschen. Das Kind weint.
Ich gehe meinen Weg zurück.

Aller Laster Anfang

Irgendwann hat es begonnen. Es war gar nicht so geplant, sondern es fiel mir eher in den Schoß, obwohl ich gar nicht saß. Keiner kann es bezeugen, weil keiner dabei war und ich selbst weiß ja auch nicht, wie und warum es geschah. Auf einmal war es halt da, als wäre es das schon immer gewesen. Und ich war glücklich und zufrieden damit, denn es fühlte sich gut an.

Doch eines Tages war es genauso plötzlich weg, wie es gekommen war. Ich suchte überall, in allen Schubladen, Skizzenbüchern und Schränken, sogar im Keller, in den ich eigentlich wegen der Spinnen nur höchst ungerne hinuntergehe. Ich war verzweifelt, gab Suchanzeigen in der überregionalen Zeitung auf und klebte Zettel an die Laternen in meiner Straße. Aber was ich auch anstellte, es blieb verschwunden.

Erst, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, klingelte es an meiner Tür und grinste mich an, als wollte es sagen: „Da bin ich wieder! Hast du mich vermisst?“ Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte. Wie angewurzelt stand ich einfach da und starrte es an. Es ahnte wohl, dass jetzt nicht die Zeit für belanglose Worte war und schwieg.

Minutenlang geschah nichts. Nur es und ich stumm auf dem Treppenabsatz.

„Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet“, sagte ich schließlich, „aber wenn der Hund tot ist, begräbt man ihn besser!“ Dann nahm ich es ein letztes Mal in den Arm, ging, ohne mich umzudrehen und auf eine Antwort zu warten, ins Haus zurück und schloss hinter mir die Tür.

Klotz und die Frauen

Nachts, wenn alles schläft

Manche mochten Klotz für einen schwierigen Menschen halten. Andere hätten ihn am liebsten in einer geschlossenen Anstalt gesehen. Dabei war er ein friedlicher Geselle, der noch nie eine Fliege totgeschlagen hat. Klotz war allenfalls etwas eigen: Er sammelte keine Treuepunkte, hörte deutsche Schlager, züchtete Unkraut in den Fugen des Bürgersteiges und hängte schon am Dreikönigstag ausgepustete Eier in das Apfelbäumchen im Vorgarten. Im Laufe der Zeit hatte er sich sogar angewöhnt, rückwärts zu sprechen und er beherrschte es inzwischen so gut, dass die Leute oft nicht wussten, ob es ein seltener, finnischer Dialekt war oder aber ein heidnischer Fluch. Doch genau das machte ihnen Angst.

Dabei versuchte Klotz nur, das Monster zu zähmen, das sich hinterlistig als Normalität tarnte und überall auf ihn lauerte.

Eines Nachts, als er sich wieder einmal unruhig hin- und herwälzte und im Schlaf Primzahlen murmelte, wachte er erschrocken auf. Erst ganz leise, dann immer lauter hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Panisch sprang er auf, riss seine Jacke vom Haken und strich, ohne zu wissen wohin, durch die Straßen des Viertels. Irgendetwas Unerklärliches und Sonderbares ging mit ihm vor. Er entschlüsselte die Tarifzonen an der Bushaltestelle, studierte die Angebote am LIDL und gaffte durch die Schaufenster beim Bäcker. Er zählte die Autos auf dem Parkplatz und stellte sich vor, wie er morgens auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen würde.

Wieder zu Hause schnitt er sieben Scheiben Fleischwurst ab, eine für jeden Wochentag, und schob sie in einem Napf vor die Tür. Dann legte er sich zurück ins Bett und wartete auf die Bestie. Er war klatschnass geschwitzt.

 

Alles hat ein Ende

Der Sonntagmorgen lag noch müde in den Federn, als es bei Klotz Sturm läutete. Er hatte überhaupt keine Lust aufzustehen, doch da draußen schien jemand zu sein, der genauso hartnäckig und atheistisch war wie er. Nach dem sechsten Klingeln hatte er sich endlich mühsam hochgerappelt und schlurfte in seinen Lammfellpuschen zur Haustür. Gerade, als er durch den Spion lugte, klapperte der Postschlitz und ein roter Umschlag plumpste direkt vor seine Füße. Klotz schauderte, denn der letzte Brief, den er bekommen hatte, war vom Anwalt seiner Frau, die ihm mitteilen ließ, sie wolle sich scheiden lassen, weil er so unemphatisch sei. Seitdem verirrte sich ab und zu bestenfalls eine Speisekarte vom Pizzalieferdienst zu ihm, die er sorgfältig abheftete, nachdem er die Preise in eine Excel-Tabelle eingegeben hatte.

Zögerlich hob er das Kuvert auf und öffnete es.

Mein lieber Herr Klotz, es tut mir leid, Sie in Ihrem gewohnten Tagesablauf zu stören, aber seitdem ich Sie das erste Mal gesehen habe, gehen Sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Noch nie bin ich einem Mann begegnet, wie Sie einer sind. Jedes Mal, wenn Sie an meinem Laden vorbeilaufen, packt mich der Wunsch, sie anzusprechen, doch mir fehlte bislang der Mut. Bitte nehmen Sie mir meinen unbeholfenen Versuch, Sie endlich kennen zu lernen, nicht übel!

 Klotz schluckte und kippte das Flurfenster. Offensichtlich stammten diese Zeilen von einer Frau, wie er aufgrund der geschwungenen, nach links geneigten Buchstaben schloss, die sich wie in einem Strickmuster eng umschlangen.

Verwundert las er weiter:

Darum möchte ich Sie bitten, morgen um 17 Uhr zum alten Marktplatz zu kommen. Und bringen Sie doch wieder etwas von dieser leckeren Fleischwurst mit!

Hochachtungsvoll, G.

  

Abendmahl

Als Klotz am nächsten Tag die Tür öffnete, schüttete es derart, dass er auf dem Absatz kehrt machte, in den Keller ging und seine Gummistiefel holte. Sorgfältig faltete er seinen Hosenaufschlag zusammen, schlüpfte hinein und verschnürte das Bändchen mit einer Doppelschleife. Nasse Füße wären jetzt das Letzte, was er gebrauchen könnte. Dann zog er seinen schweren Dufflecoat an, steckte den Brief in eine Tasche und stülpte sich, bevor er hinaustrat, die Kapuze bis über die Nase. Trotzdem lief ihm das Wasser bereits an der Gartenpforte den Nacken hinunter bis in die Unterhose. Aber er wäre nicht Klotz, wenn er noch einmal umdrehen würde, nur um einen Schirm zu holen oder sich die Anglerhose anzuziehen. Außerdem wollte er sich nicht verspäten, denn er war insgeheim schon ein bisschen neugierig, was die gestrigen, verwirrten Zeilen bedeuten sollten.

Also ging er ungeachtet aller Widrigkeiten zum Metzger und kaufte einen ganzen Kringel Fleischwurst.

Exakt auf die Sekunde um 17.00 Uhr stellte sich Klotz genau in die Mitte des Marktplatzes, das Wetter kotzte sich inzwischen richtig aus. Vom Regen gepeitscht und vom Wind durchgeschüttelt drehte er sich, den suchenden Blick umherschweifend, einmal im Kreis. Doch außer ihm war weit und breit niemand zu sehen. Jeder, der noch ein Fünkchen Verstand besaß, hatte längst die Flucht ergriffen oder irgendwo unter einer Brücke Deckung bezogen.

Nur Klotz stand dort wie gemeißelt eine viertel Stunde lang, den Brief in der einen, die Wurst in der anderen Hand.

Dann zog er die Pelle ab, biss hinein und ging wieder heim.

Das Leben ist eine Parkbank, dachte er, hart und beschissen.

 

 Prost Leben oder: Gesundheit!

Zu Hause angekommen quälte sich Klotz aus den gluckernden Stiefeln, wrang seine Socken aus und ließ sich ein Bad ein, als es an der Tür klingelte.

»Falsche Zeit, falscher Ort«, murmelte er, maß eineinhalb Kappen Schaumbad ab und schüttete sie in den Wasserstrahl. Sofort entstanden weiße, weiche Knisterberge, die sich schnell bis zum Wannenrand auftürmten. Dann legte er ein Handtuch über den Heizkörper, überprüfte gewissenhaft die Temperatur mit einem Thermometer, mischte noch ein wenig Heißes dazu und zog sich aus.

Es klingelte wieder.

Klotz schaltete ungerührt das Radio ein und stieg zunächst mit einem Zeh ganz vorsichtig in die Wanne.

Es klopfte.

Nun wurde Klotz doch nervös, schließlich erforderte diese Prozedur ein Höchstmaß an Konzentration. Kletterte er zu hastig hinein, könnte er sich leicht verbrühen. Dauerte sie hingegen zu lange, bestand die Gefahr, dass die Schaumdecke zusammenfiel und er von vorne beginnen müsste. Es stand also viel auf dem Spiel.

»Ich bin nicht da!«, rief er unwirsch, stellte auch den zweiten Fuß hinein und lauschte. Kaum dachte er, er hätte die bösen Geister tatsächlich mit diesem einfachen Bauerntrick verscheucht, als plötzlich ein milchig-verzerrtes Gesicht am Badezimmerfenster erschien und noch einmal klopfte.

Der nackte Klotz erschrak, taumelte, rutschte, spritzte, ruderte, wankte und schwankte, ächzte, stöhnte, schaukelte und packte im letzten Moment den rettenden Wannengriff.

Dann blickte er unter sich: Die schöne Schaumdecke war völlig zerrissen! Nur noch einzelne, lose Schollen trieben lustlos umher.

»Herr Klotz, ich hatte vor lauter Aufregung doch tatsächlich den Feigensenf vergessen und bin schnell zurückgegangen. Nur deshalb habe mich verspätet! Verzeihen Sie mir?«

Und da geschah es:

Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Klotz auf. Es kribbelte, es kitzelte, es berauschte ihn in einer Art und Weise, die er gar nicht kannte und vor der ihn seine Mutter immer gewarnt hatte.

Aber vielleicht hatte er sich auch bloß erkältet? Man hörte ja so viel!

 

So nicht

Es ist nicht so, dass ich nichts mehr zu sagen hätte, seit mein erster Roman Quergefönt erschienen ist. Ganz um Gegenteil, oft habe ich den ganzen Kopp voller Worte und weiß nicht, wohin damit. Dann aber ermahnt mich der gierige Autor in mir, daraus ein zweites Buch zu machen. Doch nicht alles kann ich Murat oder meinem knurrigen Ich-Erzähler in die Schuhe schieben, schließlich habe ich einen guten Ruf zu verlieren. Als Franco Bollo und als Mensch, der sich dahinter verbirgt.

Deswegen habe ich mich entschlossen, den kleinen, persönlichen und ebenso fiesen wie bösen Text, den ich eigentlich vorgesehen hatte, bis auf weiters verschlossen zu halten und stattdessen eine entfallene Szene aus dem Kapitel „Eisbärsalat“ preiszugeben, die eine Abrechnung mit meiner alten Englischlehrerin ist. Namen und Orte sind frei erfunden, entbehren aber möglicherweise nicht autobiografischer Wahrheiten. Sicher ist sicher.

Ganze Generationen von hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern und -autoren haben sich wie ich in den frühen 80er Jahren durch einen völlig dilettantischen Englischunterricht gequält und wissen dabei bis heute nicht, was Pink Floyd heißt. Es hält sich ja hartnäckig das Gerücht, es bedeute rosa Verhütung. Doch selbst meine knöcherne und verklemmte Lehrerin konnte oder wollte das Rätsel nicht auflösen, was ja eher für diese Übersetzung spricht.
Das arme Ding hieß Frau Kornfeld und ihre Eltern hatten sie offensichtlich wegen ihrer Klugscheißerei schon als Blag satt. In einer kalten Winternacht ließen sie sie auf einem kahlen Getreideacker zurück und machten sich flink von dannen. Sie verhüteten fortan lieber mit der Hand, lebten glücklich und entspannt ohne sie und genossen die Ruhe.

Knapp einhundert Jahre später aber trug mich diese mental zurückgebliebene Ährenspindel mit der sexuellen Ausstrahlung eines Melkschemels aus nichtigsten und niedrigsten Gründen regelmäßig ins Klassenbuch ein. Einmal schmiss sie mich sogar aus dem Unterricht, bar jeder pädagogischen Kompetenz und jedes Verantwortungsbewusstseins.
»Ich hätte geworfen!«, erzählte das verlogene Aas meinen Erziehungsberechtigten, als sie am Abend vor unserer Haustür stand.
Natürlich habe ich geworfen, nur leider nicht getroffen, sonst hätte der Kartenständer nicht den Physiklehrer zuerst erwischt. Die dumme Sau hatte ich erst später auf meiner To-do-Liste.
Mein Papa war da echt cool, »Englisch- und Sachkundepauker braucht kein Mensch«, sagte er zu ihr, »der eine ist sich zu fein, um Scheiße zu sagen, der andere zu doof zum Hinunterspülen!«

Bedauerlicherweise war diese Unterhaltung meiner weiteren Karriere an dieser Penne nicht wirklich zuträglich, auch wenn ich ihm in der Sache heute noch recht geben muss. Wozu gibt es denn den Google-Übersetzer, Siri oder Leo?

Angstwut

Manchmal ist in meinem Kopf so wenig Platz, dass ich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, bei eBay verkaufe, aktiv vergesse oder gnadenlos wegwerfe. Selbst Geschichten, die gestern erst geschehen sind, können heute schon Ballast sein, der mich abhält, nach vorne zu schauen und den Aufstieg auf den Olymp zu schaffen. Nur selten passiert es mir dabei, dass ich doch das eine oder andere Stückchen davon gerne wieder hätte. Aber das hat mich nie wirklich gestört, denn es ereignen sich ja täglich neue Überraschungen, die mir den Kopf zumüllen. Und deswegen finde ich es sinnvoller zu vergessen. Wo soll ich auch hin mit dem alten Rotz in meiner kleinen Einzimmerwohnung der Erinnerungen? Da müssen manche Sachen eben auf der Strecke bleiben.
Es ist wie auf einer Party: Die Gäste kommen und gehen, der Alkohol fließt in Strömen, wir rauchen Kette und reden über Fußball. In der Küche stapeln sich durchweichte Pizzakartons und braune, angetrunkene Flaschen reihen sich dichtgedrängt an­ei­n­an­der wie Arminiafans in der Südkurve. Irgendwann schütten wir uns einen Schlummerschluck zusammen, pflücken die Zigarettenfilter aus dem trüben Gesöff, exen die Brühe und legen uns auf den Boden zum Pennen. Am nächsten Morgen dröhnt der Schädel wie ein Bohrhammer und die Knochen tun weh, als hätten wir unter einem Elefanten geschlafen. Das Bad ist für eine Woche unbewohnbar, aber zum Pissen im Stehen reicht es. Abends kommen ein paar neue Freunde zum Restetrinken und wir kotzen gemeinsam in die Regenschirmkanne. In der Erinnerung war es trotzdem ein rundum gelungenes Fest.

Ich mag es einfach, wenn die Dinge noch eine Ordnung und Bezug zueinander haben. Ich will mich darauf verlassen können, dass Bier seit 1516 nur mit bestem Hopfen, Hefe, Malz und Wasser gebraut ist. Deswegen verdränge ich die Realität, dass es Sorten gibt, die besser im Süßwarenregal stünden und nach bunter Zuckerwatte schmecken. „Pfui, wer so etwas trinkt, der wählt auch Trump“, sagt mein Wirt immer und ergänzt dann, nach einer kleinen andächtigen Pause: „Der letzte Schluck sollte ein Herforder sein.“ Da hat er Recht. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Pils, aber nicht an meine erste Kola.

Und das ist genau das, was ich meine: Es gibt so viele Dinge, die es sich gar nicht zu merken lohnt. Das, was ich darüber hinaus noch rauskehre, bis die Hirnstube leer ist wie ein ostdeutscher Supermarkt vor der Wende, sind unwichtige Kollateralschäden. Was gestern war, ist vorbei und kommt nicht wieder. Nur weil mich einmal der Blitz beim Scheißen im Wald getroffen hat, so hat es doch tausend Mal vorher Spaß gemacht und ich muss deswegen nicht grundlegend mein Leben ändern. Und wenn die Uhr auf Winterzeit umgestellt wird, geht zwar die Sonne eher unter, aber nicht gleich die ganze Welt. Ich habe sogar eine Stunde länger Zeit, neues Bier zu kaufen. Es spielt auch überhaupt keine Rolle, ob ich gestern irgendetwas hätte tun können. Wichtig ist einzig und allein nur, ob ich es getan habe.
Ich hasse dieses ewig wiederkehrende Lied in meinem Kopf, weil es mich verrückt macht. Jeden Tag schießen mir hundert Momente durch den Gedankenwald, wie es zum Beispiel wäre, wenn ich ihr genau jetzt sagen würde, dass ich Lust hätte, sie zu vögeln und einen Augenblick später verfluche ich mich dafür, dass ich es tat. Was geht mir das auf die Nüsse! Das darf doch wohl nicht wahr sein. Kann denn niemals etwas perfekt sein? Muss denn immer alles im Fluss sein? Ich will mich manchmal einfach nur hinsetzen und zur Ruhe kommen, bis die Dinge so bleiben, wie sie sind und sich nichts mehr verändert. Aber nein, stattdessen rast schon wieder die nächste Katastrophe mit überhöhter Geschwindigkeit die abschüssige Kurve hinab.

Gerne würde ich einmal glauben, dass alles so seine Richtigkeit hat. Doch nur zu oft packen mich Gefühle von Zweifel und Unsicherheit. Versagensängste klopfen penetrant wie der Bofrostmann an meine Tür. Beim letzten Mal hat er mir einen überteuerten Tiefkühl- Adventskalender angedreht und mich dabei angeschaut wie Klaus Kinski. Ich konnte drei Wochen lang nur mit großem Licht schlafen und habe bei der nächsten Sitzung meine Psychologin mit einer gefrorenen Laugenstange bedroht. Erschrocken meinte sie, ich solle meine Angstwut doch einmal aufmalen. Ich schnappte mir die Farben und knallte ihr ein Happening aus Rot und Schwarz schwungvoll auf die Leinwand, so dass Pollock kleinlaut um einen Praktikumsplatz bei mir gebettelt hätte. Dabei sang ich laut Dicke von Westernhagen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich ihre nackten Brüste mit bloßen Händen anmale und ihr ein Geweih auf den knackigen Arsch schmiere. Doch die alte Kuh kroch nur tiefer und tiefer in ihren Ohrensessel, blätterte in der roten Medikamentenliste und telefonierte. Als meine Musik verstummte, nahm ich mir ein Cuttermesser und schlitzte sie langsam auf. Der erste Stich durchdrang das straff gespannte Gewebe mit dem leisen Geräusch wie ein Reißverschluss, dann färbte sich die Klinge blutrot und zeichnete wie von selbst ein Satanskreuz. Ich setzte mich still davor, rauchte und betrachtete genussvoll mein Werk, bis ein Sondereinsatzkommando die Praxis stürmte und die völlig zerstörte Leinwand beschlagnahmte.

Wie lange mag das wohl her sein? Ich weiß es nicht! Vielleicht ist es auch nie geschehen, wer kann es wissen? Vergangenheit ist wie eine alte Sendung Aktenzeichen xy, unaufklärbar, ewig her und nicht mehr zu ändern. Also brauche ich mir keinen Kopf darum zu machen, was damals war oder nicht. Es reicht, wenn ich mich an meinen Namen erinnere. Zum Glück habe ich ja zwei, falls ich den einen doch einmal vergessen sollte …

Vorübergehend bewölkt (Murat Reloaded Kap. 1)

Nach meinem überwältigenden Sieg beim Netnovela- Schreibwettbewerb „Vom Sofa in die Bestsellerliste“ mit meiner Geschichte Freu dich nicht zu spät! drängt Murat nun mit Händen und Füßen darauf, dass ich eine Fortsetzung seiner Memoiren schreibe. Meinetwegen.

Die Geschichten dieses zweiten Teiles fasse ich (vorerst) unter „Murat Reloaded“ zusammen. Viel Spaß damit.

 

Vorübergehend bewölkt

Ehrlich betrachtet, unser kleiner Laden läuft wie ein Streuguthandel in der Sahara, wir bekommen keinen Kredit mehr in der Sparkasse und keinen Deckel mehr bei Renzo. Jetzt haben wir für unsere letzten fünf Euro Zigaretten gekauft und brettern auf der Autobahn durch das nächtliche Ruhrgebiet. Murat, der alte Renndackel, bläst den Dieselmotor bei 130 km/h frei, immer nur Kurzstrecke sei ja Gift für so eine hochtechnisierte Maschine. Die Handbremse hat er ein Stück angezogen, damit wir nicht so schnell sind. Ich lehne meine Wange an die klamme Seitenscheibe, nehme ein Schluck Bier aus der Dose, krame in der Schachtel nach einem Teerlutscher, blase Olympische Ringe in die Luft und spiele verträumt mit dem Lego- Leuchtstein.
„Das Leben ist genauso“, denke ich, „irgendwann geht das Licht aus.“
Wacklige Szenen in Super 8 – Qualität erobern meine medialen Temporallappen und rufen Erinnerungen hervor. Wie der Sturm das Lagerfenster eingedrückt hat und Brackwasser unseren gesamten Vorrat an Haushaltsrollen, Servietten, Klopapier und Hoffnung fraß. Augenblicklich kommt der Geruch von feuchtem Keller wieder hoch und reizt meine Gaumensegel. Ich schlucke es wieder hinunter, hat schließlich Geld gekostet und blicke zu Murat.
Er wischt mit einem alten Socken die Windschutzscheibe sauber, „Sauwetter und überall Tempolimits!“, schimpft er.
Ich nicke und sacke wieder in meine Gedanken zurück. „Wir müssten einfach mal raus“, sage ich dann, „raus aus dem Trott. Den Alltag hinter uns lassen. Nach vorne blicken und neu beginnen. Den Kopf frei blasen wie einen Dieselmotor!“
„Saufen und kiffen?“, fragt Murat knapp.
„Nein, wir brauchen Urlaub!“

Am nächsten Morgen machen wir uns verkatert auf den Weg zu Doktor Gesch, Gesch wie gelber Schein. Dieser Mann hat einen zweifelhaften Ruf, und wir ein ebensolches Anliegen. Keiner weiß, ob und wo er wirklich promoviert hat, und noch viel schlimmer: Worüber?! Der Blinddarm – Sackgasse oder Durchbruch? Ein Wanderhoden auf Abwegen oder am Ziel – Google Streetview enthüllt!? Beinamputation als Alternative zur Penisverlängerung? Oder über Elektroschocks zur Vorbeugung bei Herzinfarkt? Noch ehe ich mich weiter echauffieren kann, tippt mir Murat auf die Schulter und zeigt nach rechts. Ich bleibe stehen und stutze, so schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt. Die Praxis liegt in einem grauen Hinterhof, wo nachts die Fässer brennen, Ratten die Spinnen fressen und es in den Mülltonnen klopft. Misstrauisch blicke ich mich um, zähle laut bis drei und renne los. Murat ist mir dicht auf den Fersen. Dann strauchelt er über einen toten Schädel und landet vornüber in dem wurmigen und Öl durchtränkten Dreck. Die ersten Aasfresser schauen neugierig zu uns herüber.
„Nicht liegen bleiben“, schreie ich, reiche ihm meine Hand und ziehe ihn ruppig aus der Gefahrenstelle.
„Danke, Alter.“
„Da nich für“, entgegne ich.

Unter einem löchrigen Vordach, das einen schwarzen Kellereingang nicht mehr schützt als eine Baustahlmatte, verschnaufen wir kurz, ehe wir das muffige Treppenhaus betreten. Die Wände sind zugekritzelt wie ein Berliner Hauptschul- WC und es riecht auch so, die Stufen vermüllt wie das Handschuhfach eines Messis. Sofort greift das alte Unbehagen wieder nach meiner Kehle, ich halte die faule Luft an. Spitzbeinig erreichen wir die dritte Etage, klopfen uns den Staub aus den Klamotten und drücken die Klingel neben dem Hand geritzten Messingschild. Am anderen Ende der Wand kreischt eine Glocke wie eine alte Straßenbahn, dann höre ich ein wenig Putz rieseln.
„Is offen“, knarzt es kurz darauf unwirsch von drinnen. Mit dem Ellenbogen stoße ich die Tür auf. Eine unansehnliche Matroschka am Empfang weist uns, ohne nach der Krankenversicherungskarte zu fragen, mit abgehackten Worten und hartem, rostigen Akzent den Weg zum Wartezimmer.

Unter normalen Umständen hätte ich einen solchen schäbigen Raum selbst als Cholera-Kranker nicht betreten, so groß ist die Infektionsgefahr auf den speckigen Holzstühlen, sich was Ernsthaftes zu holen. Aber die Umstände treiben uns hierher. Murat und ich bleiben stehen und schauen in die Pflastergesichter der anderen. Die meisten sehen aus, als wären sie aus dem Armenviertel vertrieben worden. Wer hier mit uns das Dasein fristet, steht schon beim Tod auf dem Einkaufszettel. Ich achte peinlichst darauf, nichts zu berühren und starre an die vergilbte Decke, an der die Nachtfalter um die Leuchtfunzel ihre Namen tanzen. Ohne zu murren wartet die Hiobsgemeinde stoisch, als wäre das hier ein ukrainischer Provinzbahnhof und man hofft, dass etwas passiert, aber man weiß es nicht genau. Nach etwa zwei Stunden nehme ich mir eine abgewetzte Fachzeitschrift vom Altpapierstapel in der Ecke. Ich entdecke grade einen interessanten Artikel über die durchschnittlichen Liegezeiten in der Pathologie „So wollen die Krankenkassen auf unsere Kosten sparen!“, als uns die rauchige Stimme Captain Flints in sein verrauchtes und verruchtes Zimmer ruft. Ich denke über den Katalysator für Zigaretten nach.
Stumm zeigt er auf einen Packen Briefumschläge auf seinem verwarzten Schreibtisch. Aus jedem einzelnen blinzeln Geldscheine heraus.
„Großes Sorge, großes Schein. Kleines Sorge, kleines Schein“ redebrecht er.
Murat überreicht ihm einen Stapel Formulare, die uns unsere Krankenkasse zugeschickt hat. Sein dicker Daumen blättert hindurch und hinterlässt auf jeder Eselsecke einen Nikotin gelben Abdruck.
„Sehr großes Sorge“, murmelt er.
Murat und ich schauen uns an, wir sind blank wie ein zypriotischer Kleinfischer.
Flint ist dieses nicht entgangen, „schönne Uhr“, sagt er beiläufig, „Rolex?“
Murat schüttelt mit dem Kopf, „Taucha“, sagt er, nimmt sie ab und legt sie ihm zögerlich vor seine dicke Nase.
Der gierige Pirat nimmt sie hoch, dreht sie ein paar Mal im Licht, schaut auf den Deckel, zieht eine mächtige Schublade vor seinem Bauch auf und lässt sie klingelnd darin verschwinden.
„Und schönes Auto!“
Murat schaut mich flehend an, ich aber fische die breit gesessenen Papiere aus meiner Arschtasche, löse den Rapidschlüssel vom Bund und lege beides auf den Tresen.

Ein viertel Stunde später verlassen wir die Kajüte des raubeinigen Seeräubers, winken fröhlich ins Leichen blasse Wartezimmer und nehmen die Schwarzbahn zum Laden.

Sendeschluss

Murat und ich eröffnen mitten im belebten Geschäftsviertel einen Haushaltswarensonderpostenladen.

Während Murat die Türen streicht, räume ich mit dem Laubbläser das Lager auf.

Die Leserabstimmung des Schreibwettbewerbs „Vom Sofa in die Bestsellerliste“ für meine Geschichte „Freu dich nicht zu spät!“ liegt in den letzten Zügen, schnapp atmend sozusagen.

Noch bis zum 30.06.2013, 12 Uhr könnt ihr mich mit eurer Stimme unterstützen, den 1. Platz zu verteidigen.

Dazu unten einfach auf das Logo klicken, sich (mit einem netnovela-, facebook- oder Twitter- Account) einloggen, auf das Sternchen neben meinen Namen drücken, das war’s!

 

Vom Sofa in die Bestsellerliste

Nachtlos

Der Vollmond steht hoch über dem Wald und die Eulen rufen durch die Finsternis. Ich spüre, wie mir ein dichter Pelz auf dem Rücken wächst und sich meine Hände zu gefährlichen Krallen versteifen. Der Geruch von eingetrocknetem Blut an den Kielen der handgerupften Gänsedaunen in meinem Kissen entzündet in meiner Nase eine olfaktorische Explosion und droht, meinen letzten Willen zu brechen. Krampfhaft klammere ich mich an die massiven Bettpfosten, die wie morsche Zahnstocher zersplittern und mich nicht mehr halten können. Ich springe auf und taumele aus dem Zimmer.
Im Treppenhaus rieche ich genussvoll an den Gummistiefeln und vor der Tür schlage den Hund des Nachbarn tot, der mich blöde ankläfft. Ich folge dem Ruf der Nacht zum Schlund der Straße, hebe spielerisch den schweren Gullideckel wie einen Kronkorken empor und steige hinab in die enge, unterirdische Speiseröhre der Stadt. Mit gefletschten Zähnen und geiferndem Maul durchstreife ich die verwinkelten Gänge auf der Suche nach Cholesterin und Protein. Ich zerre Maulwürfe aus ihren Löchern und beiße Ratten die Schwänze ab. Und erst, wenn die Filetlaken der Fledermäuse über der Glut des Fegefeuers in rußiger, reiner Schwärze erstrahlen, vollendet sich meine wunderbare Verwandlung vom liebevollen Gemüsemann zum gierigen Fleischmonster. Ich kann gar nichts dagegen tun, ich bin nachtlos.

Wie ich es mag

Manchmal gibt es Momente, die mich mehr als andere herausfordern. Manchmal stelle ich mir Fragen, auf die ich selbst keine Antwort habe. Manchmal stecke ich in Schwierigkeiten, die unangekündigt und ohne zu klingelnwie die Schwiegermutter in der Tür stehen und Einlass begehren. Und immer ruft mir das Leben dann zu: „Was nun?“ und drängelt und tippelt dabei nervös und ungeduldig mit den Fingern am Rahmen herum.
Was aber soll ich bloß tun? In eine Glaskugel schauen, den Fifty- Fifty- Joker ziehen oder das Publikum befragen? Ich weiß es doch auch nicht.

Die Mühle dreht sich so lange, wie der Wind weht. Das ist zwar dem Wind egal, dem Müller aber vielleicht nicht, der bei dem Geklappere nicht schlafen kann. „Wäre ich doch Goldschmied geworden“, mag er manchmal denken! Was allerdings wäre dann? Der Wind würde immer noch blasen und die Mühle sich immer noch drehen. Vielleicht aber würde ein herabfallender Flügel den ahnungslosen Goldschmied erschlagen, der eben unter dieser Mühle im Sturm Unterschlupf gesucht hat. Ach, hätte er doch nur gewusst, dass er den Wind nicht kann besiegen, wenn er ihn anspuckt.

Der liebe Gott mag vielleicht nicht würfeln, aber muss ich deswegen nach der Musik tanzen, die er spielt?
Ich mach es lieber, wie ich es mag.

Ich mag innehalten
verweilen
genießen
spüren
eintauchen und
träumen wann es mir gefällt

Ich mag berühren
begegnen
kennenlernen
erfahren
nahe sein und
begehren wen ich möchte

Ich mag riechen
schmecken
hören
staunen
anfassen und
erfahren was ich will

Ich mag vermissen
verlieren
sehnen
verschmelzen
hinabsinken und
begreifen wie ich es mag

Ich mag ich sein, jeden Tag.

Hölle auf Erden

Als wir endlich unsere Hütte erreicht hatten, dämmerte es schon. Mit einem Ruck stieß Opa die knarzende Tür auf, das Feuer war längst aufgebrannt und es war bitterkalt. Opa brach den letzten Stuhl entzwei und legte das Holz auf die blasse Glut, nach ein paar Minuten züngelten kleine Flammen empor. Dann nahm er einen Topf, füllte ihn draußen mit Schnee, stellte ihn auf den Küchentisch, schnappte sich den Hasen, drückte mir die hinteren Sprünge in die Hände und griff nach seinem Messer.

„Heb hoch!“, raunzte Opa. Zitternd hob ich den toten Meister Lampe mit ausgestreckten Armen in die Luft.

Dann setzte Opa die Klinge an. Ich kniff die Augen zusammen und hörte das Geschlinge in den Schnee platschen. Kaltes Blut spritzte auf mein Gesicht und etwas Warmes lief mir die Beine hinunter. Ich begann zu taumeln.

Scheppernd hing Opa den eisernen Bottich an einen Haken über das Feuer, „wisch das weg“, sagte er und warf mir einen Lappen vor die Füße, „und dann geh schlafen. Wir müssen früh raus!“

Am nächsten Morgen war Opa Slavko schon wieder auf den Beinen, als ich erwachte. Mein banger Blick fiel auf die Feuerstelle, wo der Topf gestern noch lange bedrohlich baumelte und quietschte. Jetzt stand er leer auf dem Sims. Erleichtert atmete ich aus. Draußen vorm Haus hörte ich eine Axt Holz spalten, dann schlug sie ein letztes Mal in den Stamm und Opa kam mit einem Korb voller Scheite wieder herein.

„Hast du schon gefrühstückt?“, fragte er barsch.

Ich schüttelte ängstlich den Kopf. Opa griff in seine Manteltasche, holte ein Stück trockenes Brot heraus und reichte es mir. „Pack alles zusammen, was du brauchst. Ich bringe dich ins Dorf zum Pfarrer. Hier kannst du nicht bleiben!“

Mir blieb der Bissen im Halse stecken und ich starrte ihn erschrocken an. „Nicht zum Pfarrer!“, flehte ich, „die Leute erzählen, er stecke mit dem Teufel unter einer Decke!“

„Unsinn! Er ist ein alter Säufer und Schwätzer, aber ein gerechter Mann. Nach dem Winter hole ich dich wieder ab, und gnade ihm Gott, wenn er dir ein Haar krümmt! Dann reiße ich ihm persönlich den Kopf ab!“

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier , hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Fangschuss

Eine dicke Schneedecke verhüllte die Landschaft. Oma Nada war gestern Abend in den nahen Wald gegangen, um Holz für den Kamin zu holen und jetzt war sie schon eine ganze Nacht da draußen. Opa Slavko schaute stirnrunzelnd durch das vereiste Küchenfenster hinaus auf das Feld, dann schnürte er sich die Stiefel, zog den dicken Mantel an, schulterte die Flinte und sagte zu mir: „Komm, Junge!“

Meine Augen staunten runder als mein Mund, mein ganzer Kopf war Kreis und mir wurde schwindelig. „E- E- Echt?!“, stammelte ich.

„Ja“, knurrte der Alte und ging zur Tür hinaus.

Hektisch stopfte ich meine Füße in die hohen Schuhe, warf mir meine abgewetzte Jacke über die Schultern und stürmte hinterher. Opa hatte schon die Lichtung erreicht, er scheuchte einen Schwarm Raben auf und verschwand dann zwischen den dunklen Bäumen. Ich stampfte schnaubend durch die hüfttiefen Stollen, die er im Schnee hinterlassen hatte, immer wieder den Blick zum leeren Horizont gerichtet. Die unendliche Eiseskälte wälzte sich mir erbarmungslos entgegen und fraß bereits meine Zehen auf, als ein Schuss wie ein Kanonenschlag durchs Tal grollte. Unten im Dorf schauten die greisen Bewohner stumm und verängstigt auf und eilten zurück in ihre Häuser. Ich warf den Kopf in den Nacken und schrie verzweifelt gegen die Angst an, die mich packte und würgte, die mich schüttelte und schlug. Dann sank ich bibbernd zusammen, schlug die steifen Finger vors Gesicht und schluchzte.

„Ein Junge weint nicht“, brummte plötzlich eine raue Stimme und warf mir einen toten Hasen in meine Grube, „nimm und komm. Es wird bald Nacht“, sagte Opa Slavko.

„Und Oma?“, krächzte ich.

„Der Herr gibt und der Herr nimmt“, murmelte er und reichte mir seine Hand.

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier, hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Holpersteine

Manchmal ist das Leben wie eine Tüte Konfetti, leicht und bunt. Ich freue mich darauf aufzustehen und den Tag zu entdecken und Blumen zu pflücken.
Manchmal ist das Leben aber auch wie ein alter Reisekoffer, hart und schmutzig. Voll gestopft mit schweren alten Geschichten, Erinnerungen und verstaubtem Gedöns von früher steht dieses Riesending unnütz im Weg herum und ist nur Ballast.
Manchmal stelle ich mir dann vor, was wäre, wenn ich meinen Koffer einfach mal an die Straße stelle. Ich würde mich hinter den nächsten Busch verstecken und warten, bis das Sprengkommando kommt. Dann fliegen aber die Fetzen.
Oder wenn ich ihn am Flughafen austauschen würde. Unauffällig stünde ich am Gepäckband herum und würde mir einen neuen Reisebegleiter aussuchen. Einen, der nach Abenteuer aussieht und nicht nach Wellness. Er muss Schnappriegel und Ledergurte haben, so einen, den man noch selbst tragen muss und nicht so einen selbstfahrenden Smart mit Griff oder so einen silbernen Aluminium- Castor. Ohne zu zögern oder mich umzudrehen greife ich zu und gehe damit langsam zum Taxistand. Dort suche ich mir in aller Seelenruhe einen schicken Kombi aus, bloß keinen Volvo. Ich bin ja kein Lehrer, habe keinen Hund und trage keine Cordhosen. Fahrer mit Sonnenbrillen oder Koteletten scheiden auch aus. Dann lasse ich mich zu meinem Parkplatz um die Ecke chauffieren, packe Sack und Pack um in meinen Schwedenpanzer, fahre über Umwege nach Hause, schleppe alles hoch in meine Altbauwohnung und stelle es mitten in den Flur. Erschöpft lasse ich mich in meinen Ohrensessel fallen und schließe die Augen. Scheußliche Musik ertönt, als plötzlich nackte Frauen auf mich zuspringen, mich fesseln und aufs Bett schmeißen. Ich kann gar nicht sagen, wie viele es sind, so viele sind es. Entsetzt reiße ich die Augen wieder auf, ich muss den Koffer von Dieter Bohlen erwischt haben! Panisch packe ich den Drecksack, renne zur Wohnungstür, stelle den Brüllwürfel meinem Nachbarn auf die Fußmatte, läute, renne zurück, schlage die Tür zu, schließe mich ein und schaue durch den Spion. Ich freue mich über das dumme Gesicht, pfeife „You can win, if you want“ und fahre den Rechner hoch. Mal schauen, wann der nächste Flug aus Mallorca kommt!

So oder so

Und plötzlich ist sie da, die Zeit zum Schreiben. Sie stand einmal vor der Tür und hat geklopft. Erst ganz leise, dann lauter. Ich liege auf dem Bett und bin müde von der Nacht, in der ich verzweifelt mit einer einzigen Mücke gekämpft habe. Ich schrecke hoch, lausche in die Stille, doch da ist niemand. Schlaftrunken gehe ich ins Bad, schmeiße mir Wasser ins Gesicht und schnäuze in die Hände. Und wieder: „Pock pock pock!“ Ich gehe den langen Gang zur Tür. Und da sehe ich sie, wie sie genüsslich ihr Nachtmahl verdaut. „Klatsch klatsch klatsch!“ macht es und ich betrachte ihr Blut rotes Mahnmal an der Wand und öffne, „Signor, Ihr Frühstück!“

Der Müller und die undankbaren Esel

Es war einmal ein rechtschaffender Müller, der hatte drei Esel, einen Faulen, einen Frustrierten und einen Fetten. Der faule Esel blieb schon morgens einfach liegen, der Frustrierte zählte immer wieder seine grauen Haare und der Fette fraß von früh bis spät. Dennoch kümmerte sich der Müller um sie, so gut er konnte, und obwohl sie ihm nicht von Nutzen waren, verlor er nie ein böses Wort über sie.

An einem Abend aber ging der Müller noch einmal zum Stall, um den Eseln frisches Stroh und Wasser zu bringen, weil er es am Tag vor lauter Arbeit versäumt hatte. Als er vor der Türe stand, da hörte er, wie sie ihr schlechtes Leben beklagten. Ihm sei so langweilig, stöhnte der Erste. Der Zweite schimpfte, sogar die Zebras hätten Streifen und der Dritte schmatzte, das Futter mache dick. Da fasste der Müller einen Entschluss und schlich sich wieder ins Haus.

Gleich am nächsten Tag führte er die drei Graurücken ins Dorf auf den Markt. Den faulen Esel verschenkte er an einen Wanderzirkus, den frustrierten Esel tauschte er bei einem Schrankenwärter gegen ein altes Kursbuch der Deutschen Bahn und den Fetten verkaufte er dem Koch des Königs.
Zufrieden kehrte der Müller in seine Mühle zurück, mahlte ein Dutzend Säcke Korn, schaute noch einmal in den leeren Stall, lächelte und ging zu Bett.

In dieser Nacht stand der Mond schon hoch am Firmament, als die Zirkuswagen endlich stoppten und der faule Esel angeleint wurde. Seine Hufe schmerzten ihm von dem weiten Weg und er war müde. Er wollte sich schlafen legen, aber der Boden war hart und kalt, und der wilde Wind wirbelte Stock und Stein hin und her, dass es nur so krachte.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Auch der frustrierte Esel konnte nicht schlafen. Jede Stunde schnaubte ein tonnenschwerer Dampfzug an dem kleinen Bahnhäuschen vorbei. Der Kessel qualmte, die Räder ratterten, schaurige Schatten tanzten über die wackelnden Wände und dicker, dunkler Rauch fraß gierig alle Farben auf. Der Esel hustete, kniff die Augen zu und zitterte am ganzen Leib.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Dem fetten Esel erging es auch nicht besser als seinen beiden Verwandten. Der Koch hatte ihn eigentlich sofort schlachten wollen, aber der Narr des Königs band eine Möhre an einen Faden, knotete das andere Ende an seinen Schellenstab und lockte das Giermaul in den Thronsaal. Dort saß der König mit seinem Hofstaat bei einem Festmahl. Als der Esel das frische Obst und die vielen Leckereien auf den langen Tischen sah, lief ihm das Wasser im Maul zusammen und er glaubte, er sei eingeladen mitzuessen und wollte sich setzen. Aber die feine Gesellschaft verhöhnte und verspottete ihn und jagte ihn zum Tor hinaus.
Hungrig lag er nun am Teichufer, sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Das Jahr wechselte die Farben und auch der nächste Sommer kam und ging. Die große Ernte war eingefahren und der Müller hatte viel zu tun. Als endlich alles Korn gemahlen war, lud er die schweren Säcke auf seinen Karren, schnürte sich ein kleines Proviantpaket und machte sich auf die lange Reise zum Markt.

Auf halbem Wege kam er an einer Wiese vorbei. Ein Zirkus brach grade seine Zelte ab, tannengroße Männer stemmten riesige Stoffrollen auf einen Wagen, ein klitzekleiner Kerl brüllte Kommandos und bunte Vogelfrauen führten Pferde in ihre Boxen. Der Müller blinzelte gegen die Sonne und schaute dem munteren Treiben eine ganze Weile zu, als er schließlich den faulen Esel erblickte. Er lag im schmutzigen Staub und starrte in den Himmel.
Da ging der Müller zu ihm, streichelte sein Fell und sagte: “Steh auf, du alter Esel und hilf mir, ich habe viel zu tragen!”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Zirkusdirektor den Preis, den er verlangte, spannte den faulen Esel vor den Karren, teilte seinen Proviant mit ihm und so marschierten sie los.

Es war längst Nachmittag geworden, als sie an ein kleines, verrußtes Bahnhäuschen kamen. Sie hielten an und lauschten den seltsamen Klängen aus der Ferne, als sich plötzlich scheppernd die Schranken senkten. Der Boden begann, laut zu grollen und zu grummeln und dichter Qualm hüllte sie ein. Der Müller und der faule Esel klammerten einander fest und wagten kaum zu atmen, als mit einem Mal ein Eisenross mit glühenden Augen fauchend an ihnen vorbeidonnerte. Erst nach langen, bangen Minuten war der Spuk beendet und es wurde wieder hell um sie herum. Sie schauten auf und da stand vor ihnen auf dem Weg der frustrierte Esel mit gesenktem Kopf.
Als der Müller ihn erkannte, ging er zu ihm, klopfte sein Fell sauber und sagte: “Sieh nicht alles so schwarz, du alter Esel und hilf uns, das Mehl zum Markt zu bringen.”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Schrankenwärter den Preis, den er verlangte, stieg auf des frustrierten Esels Rücken, teilte seinen Proviant mit ihm und so trotteten sie zu dritt weiter.

Schließlich gelangten sie zum Schloss des Königs. Ihre Reise war anstrengend, der Durst plagte sie und so beschlossen sie, im Park ein wenig zu rasten und sich am Teich zu erfrischen. Als sie nun auf dem Steg saßen und verschnauften, kam mit einem Mal der fette Esel aus dem Dickicht gradewegs auf sie zugestoffelt. Er schmatzte und kaute auf einer Rübe herum. Der hölzerne Anleger bog sich bedrohlich in der Mitte durch, er knackte und knarzte, er schwankte und schaukelte, ehe er vollends entzweibrach. Der Müller und die beiden Esel konnten sich noch mit einem beherzten Sprung ans Ufer retten, der fette Esel aber platschte wie ein Komet ins Nass. Entsetzt schrie und strampelte er um sein Leben. Mit vereinten Kräften gelang es den drei Wanderern, ihn an Land zu ziehen. Japsend rang der fette Esel nach Luft und das Wasser triefte nur so aus seiner grauen Mähne. Erst jetzt erkannte er, wer ihn soeben vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
“Guter Müller”, flehte er, “nehmt mich mit. Ich kann in diesem Schlosse nicht länger sein. Der Koch will mich schlachten und zu Salami verarbeiten, sobald ich fett genug bin!”
“Alles, was recht ist, lieber Esel”, antwortete der Müller, “der Weg ins Dorf ist nicht mehr weit. Wenn du unseren restlichen Proviant trägst, dann will ich wohl mit dem Koch reden.”
Der fette Esel jedoch schüttelte nur mit dem Kopf, “das ist mir zu schwer, das schaffe ich nicht!”
Da ging der Müller zu ihm, streichelte ihm über das Fell und sagte: “Wenn du bleibst, wie du bist, wirst du nicht werden, wie du möchtest, du sturer Esel!”

Sodann gab der Müller seinen beiden Gefährten ein Zeichen, jeder schulterte sein Gepäck und sie zogen weiter ihres Weges.

Der faule und der frustrierte Esel aber halfen dem Müller fortan, wo sie nur konnten und verloren nie wieder ein schlechtes Wort.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Bärenhände

Die erste Geschichte von Opa Slavko hatte mich angefixt. Das wusste ich selbst noch gar nicht, als ich die Schreibaufgabe bekam, ein verlassenes Haus in einer beliebigen Jahreszeit „mit allen fünf Sinnen“ zu schildern. Vielleicht ist mir das nicht gelungen, aber dieser kleine Text hat mir viel Spaß gemacht. Er wird sicher in den nächsten Wochen zu einer (Kurz-) Geschichte wachsen.

Das alte Haus am Ende der Straße stand seit vielen Jahren leer. Im Laufe seines Lebens hatte es viele Menschen und Schicksale kommen und gehen gesehen. Jetzt lag es im Sterben.
Der Regen prasselte hart auf das löchrige Dach. Das Wasser stürzte über die zerbeulten Rinnen und grub tiefe Löcher in den eh schon aufgeweichten Boden unter den Fenstern. Die morschen Läden hingen schief in den Angeln und verdeckten nur mühsam den Blick durch die zersplitterten Scheiben in das stockdunkele Innere. Die Türen zum Hof und zur Straße waren zugemauert, braune Brühe floss unter den Steinen hervor. Der Wind riss krachend an den Konzertplakaten, die mosaikartig die ganze Fassadenfront bedeckten. Aber es spielte schon lange keine Band mehr oder aber niemand mehr wagte sich hierher, seit es hieß, Opa Slavko habe hinter den feuchten Mauern mit seinen Bärenhänden den Teufel höchstpersönlich erwürgt.
Es war kalt und dieser Winter würde der letzte werden für das alte Haus am Rande der Stadt.

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier , hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Der Riese und der Zauberer

Eine beliebte Übung in Kreativen Schreibkursen und Seminaren ist das Fortsetzen von den ersten Zeilen eines Romans. Aus den verschiedenen Vorlagen habe ich mir „Wie der Soldat das Grammophon reparierte“ von Saša Stanišić ausgesucht und die Figuren und die Handlung frei weiter entwickelt.

Opa Slavko maß meinen Kopf mit Omas Wäschestrick aus. Ich bekam einen Zauberhut, einen spitzen Zauberhut aus Kartonpapier und Opa Slavko sagte: „Eigentlich bin ich noch zu jung für so einen Quatsch und du schon zu alt.“ (Orig.)

Das verstand ich nicht, wie konnte ich zu alt und er zu jung zum Spielen sein?! Aber Opa Slavko sagte öfter Sachen, die ich nicht verstand. Zum Beispiel, dass es die beste Entscheidung war, die Oma zu erschießen. Sie war eine einfache, aber tüchtige Frau. Oben auf dem Küchenschrank hatte sie eine alte Blechdose versteckt, in der sie oft selbstgebackene Maronenkekse aufbewahrte. Sie dachte, ich käme da nicht ran, aber das stimmte nicht. Immer, wenn sie in den Keller ging, um aus dem großen Holzfass Kartoffeln zu holen, schnappte ich mir aus dem Badezimmer die wacklige Fußbank und schob sie in die Küche. Von dort kletterte ich auf den Tisch am Fenster. Einmal sah ich dabei, wie Opa Slavko die Katzenjungen fing, in einen Sack stopfte und damit hinterm Haus verschwand. Kurze Zeit später stand er mit nassen Hosenbeinen plötzlich in der Küche. Ich hockte inzwischen ganz oben auf dem Schrank und versuchte verzweifelt, den angerosteten Deckel zu lösen. Ohne ein Wort zu sagen, kam Opa auf mich zu, hob mich herunter, drehte knatschend die süße Dose auf, drückte sie mir in die Hand, nahm sich selbst einen Keks und ging ins  Schlafzimmer. Ich stopfte grade das vierte Plätzchen in den Mund, als ich die Oma die schwere Buchentreppe herauf poltern hörte. Starr vor Schreck und weiß vor Wut stand sie plötzlich in der Küchentür. Die Kartoffeln ihr polterten aus der Schürze und kullerten durch den Raum. Eine blieb direkt vor meinen Füßen liegen. Oma griff nach dem Reisigbesen, der an der Wand lehnte, und holte aus. Ich stolperte rückwärts, als Opa dazwischen trat und sagte: „Lass nur, Nada, ich habe sie ihm gegeben, er hat mir im Garten geholfen.“

So war Opa Slavko, stark wie ein Riese und jeder im Dorf zitterte vor seinem Jähzorn. Vor mich aber stellte er sich immer schützend. Auch, als ich mit dem Fußball das große Fenster in der Kirche zerschossen habe. Opa behauptete, er sei das gewesen und wenn jetzt nicht endlich Ruhe wäre, würde er noch den Beichtstuhl zertrümmern. Schließlich stünde der Winter vor der Tür und er bräuchte Holz zum Heizen. Beim nächsten Gottesdienst sammelte der Pfarrer in der Gemeinde für das neue Kapellenfenster, das im letzten Sturm zu Bruch gegangen sei. Ich gab alles, was ich hatte und das war nicht viel.

Doch eines Tages war auch Oma Nada verschwunden. Die Leute reden viel in einem kleinen Dorf.

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier, hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Die Butter schmier‘ ich mir nicht aufs Brot!

Manchmal geht alles schief. Dann habe ich natürlich Schuld daran. Sagt meine Vorgesetzte. „Ich war gar nicht da“, sage ich dann, „wie kann ich es gewesen sein?!“ Aber das ist meiner Frau egal, einer muss es ja getan haben und das war dann wohl ich. Basta.
Aber was heißt hier basta? Nix basta! Es kann nicht sein, dass ich immer der Depp bin, der etwas vergessen hat und der auch nicht mehr weiß, wo er sich das aufgeschrieben hat. Ich kann doch nichts dafür, wenn der Tank alle ist und ich zu spät komme, um die Kinder abzuholen. Es liegt doch nicht an mir, dass die Ampel schon rot war! Immer soll ich perfekt sein, ein toller Vater, ein aufmerksamer Ehemann, ein potenter Liebhaber, ein prima Kollege. Und dann noch pünktlich sein. Das schaffe ich nicht alles auf einmal. Das ist mir einfach manchmal zu viel. Das funktioniert auch schon aus Prinzip nicht, ich bin schließlich ein Mann. Ja, wie Frauen das schaffen, weiß ich auch nicht! Basta!

Und überhaupt, worum geht es hier eigentlich? Natürlich habe ich die Haustür abgeschlossen, bevor ich als letzter gefahren bin!
Wie, da war noch jemand drin?

Elemeno P.

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7), Übergangsbinde (Kapitel 8), Strafstoß (Kapitel 9) und Stockdunkster (Kapitel 10)

Es regnet in Strömen, als ich erwache. Der Wind peitscht Fäden gegen das Fenster und begehrt Einlass. Das Wetter passt zu meiner Stimmung: Düster und schwarz. Ich setze mich an den Küchentisch und puste frustriert Asche und Tabakkrümel von der Platte. Seit drei Monaten leben wir nun schon von der Hand in den Mund und übermorgen ist der neue Quartalsvorschuss für Miete und Gewerbesteuer fällig. Wir haben noch nicht einmal eine komplette Kupferrolle in der Geschäftskasse und Murats hanebüchene Idee mit dem Lego Bau Service – LBS – war ein totaler Reinfall. Statt in Geld in unserem Speicher zu schwimmen, müssen wir jetzt wegen Markenrechtsverletzungen kräftig abdrücken.

Dabei fing alles so gut an mit unserem mobilen Wiederaufbau- Service: Gleich beim Vorstandsvorsitzenden einer großen deutschen Bausparkasse sollten wir an einem einzigen Tag den großen Lego Star Wars Todesstern wieder aufbauen. Eine haushaltsnahe Dienstleistungsbeschäftigte habe das Prachtmodell vom Schreibtisch gefeudelt und die Aufbauanleitung gleich mit geschreddert. Und so kamen wir ins Spiel. Wir waren gut wie die Everly Brothers, es liefert alles wie geschmiert. Die steuerfreie Einmalzahlung plus Bonus winkte schon in der Hand von Darth Sidious, als ihm Murat seine Visitenkarte hinlegte. Ich erhaschte schnell einen kurzen Blick darauf: „Murat und Partner, LBS- Direktoren“, las ich. Der mächtigste Sith winkte nur kurz mit dem kleinen linken Finger und weitere 499 kostenlose Vistaprint- Kärtchen huschten aus Murats Innentasche durch das Bernsteinzimmer. Sie wirbelten durch die Luft und bildeten die Worte „Ich bin die LBS, wer bist du?“ Murat fasste sich an die Kehle, verdrehte die Augen und röchelte: „Ich bin dein Vater!“ Bunte Lasersalven flirrten durch den Raum und lösten an der Börse ein wahren Kursrutsch aus, als ein 2,28 m großer Fellprimat uns in letzter Sekunde aus dem lodernden Inferno rettete. „Danke, Chewie“, hörte ich Murat noch sagen, ehe ich ihm seinen Businessplan um die Ohren schlug.

Wie gesagt, das war ein Reinfall. Alle Kosten dafür werde ich ihm von seiner Kapitaleinlage abziehen, wenn es denn reicht! Ich will eben aufstehen und ihm den Gesellschaftervertrag kündigen, als es an der Ladentür klingelt. Durch ein Loch im Vorhang schiele ich in den kleinen Verkaufsraum, kann aber niemanden entdecken. Dann höre ich Stimmen.  „Wo steckt denn Murat bloß?“, denke ich und drehe das Radio lauter. Wolfsheim spielt grade Kein Weg zurück. Ich zupfe mir mein Homer Simpson T- Shirt zu Recht und gehe nach vorne.

Ein dunkelschwarzer dreiteiliger Zwirn steht vor mir und wischt sich die Nässe von den Schultern. Draußen parkt mitten vor der Tür ein warnblinkender Oberklasse- Kombi, der Einarmwischer zappelt über die Windschutzscheibe.
„Der kann da aber nicht so stehen bleiben“, ranze ich den Anzug an, „das ist eine Feuerwehrzufahrt!“
Doch der Mann in Black pfeift stattdessen den Refrain mit, was gesagt ist, ist gesagt. Das habe er auch grade gehört, schön, nicht? Und ob ich der Eigentümer dieses netten Geschäftes sei oder einen gewissen Murat kennen würde?
„Weder noch”, antworte ich, „ich bin der Generalbundesanwalt und einem Zigarettenschmugglerring auf der Spur.“
„Ah so“, meint die Flachpfeife, aber auch dann müsste ich meine Fernseh- und Rundfunkgebühren bezahlen. Von mir lägen ihm gar keine Anmeldedaten vor!
Mir schwillt der Kamm. Da steht dieses hutzlige Männchen verbotswidrig in der Einfahrt und glaubt allen Ernstes, hier jetzt eine Kabinenansprache zu halten. „Schlimmer sind ja nur noch die Zeugen Jehovas“, schmeiße ich ihm entgegen. „Für welche Leistung wollen Sie kassieren? Für langweilige Wettshows mit lockigen Moderatoren? Für dröge Politsendungen und Comedy im Format Hallervorden und Carrell? Für Marienhof und Mainz bleibt Mainz?! Oder für 25 Jahre Blindenstraße? Ich habe nie eine einzige Sendung gesehen! Ich will Fernsehen, wann ich will und was ich will!“, schreie ich, „und das lade ich mich mir herunter!“
Wutschnaubend drehe ich mich um und stapfe in meine kleine Nische. Murat, der alles mit angehört hat, huscht ängstlich zur Seite. Ich blitze ihn an, rupfe das Radio mit der Steckdose ruppig aus der Wand, gehe wieder nach vorne und werfe dem Wiesengesicht den Monorecorder vor die Lackschuhe, dass er zerbricht, „und jetzt fahr deinen Aufsitzmäher da weg!“
Der Ladenhüter weicht zur Seite, aber er schickt sich noch nicht an zu gehen.
Ich hole weiter aus: „Das letzte, was ich jemals im öffentlich- rechtlichen Fernsehen geschaut habe, war Dinner for one und das war eine Wiederholung! Und seitdem ist auch nix Neues mehr produziert worden. Meine Schuld ist also längst bezahlt!“
Der Agent im schwarzen Frack beginnt zu taumeln, seine Mundwinkel zittern leise.
„Du Lothar!“, sprudelt es jetzt aus mir heraus, „es gibt kein Weg zurück!“

Ich greife zu Murats Besen und hole zum finalen Schlag aus. Dann endlich klackern die Schuhe des GEZ- Helden, die Tür fliegt auf ohne zu Klingeln und eisiger Wind peitscht herein.
„Arschloch“, rufe ich ihm hinterher, „es wird kalt!“
Draußen heult eine 2- Liter- Maschine auf und kurze Zeit später brettert die Heckschleuder über die große Kreuzung. Die Ampel zeigt schon lange rot, als sie ihn frontal ablichtet.
„Hoffentlich in Full- HD“, denke ich mir.

„Komm Murat“, rufe ich, „wir müssen Abrechnung machen!“
Er guckt geduckt um die Ecke, „wie immer?“, fragt er vorsichtig.
„Wie immer“, antworte ich.
Er schaltet den Plasma- Fernseher an und legt die DVD mit der dritten Al Bundy- Staffel ein, die Ferguson- Toilette rauscht männlich.
„Wer fängt an?“, fragt er.
Ohne zu antworten, sage ich „A“ und zähle in Gedanken das Alphabet weiter.
Mitten drin bei elemeno sagt Murat Stopp.
„P“, antworte ich.
“P?“, fragt er misstrauisch.
„Ja“, sage ich.
Dann blättern wir durch die sortierten Rechnungen.
„P?“, fragt er noch einmal, „haben wir nicht!“
„P wie Politesse“ sage ich feierlich und ziehe ein Knöllchen aus dem Stapel. Es ist von Murat. Ich überprüfe es sorgfältig.
„Wann war das denn?“, will ich wissen, „ach egal, was getan ist, ist getan!“

ENDE

Stockdunkster

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7), Übergangsbinde (Kapitel 8) und Strafstoß (Kapitel 9)

Erst weit nach Mitternacht kommen wir wieder zu Hause an. Murat hat sich zweimal verfahren, der alte Saftsack, er hat eine Orientierung wie eine Grubenlampe. Ich habe mich zweimal übergeben, ich glaube, die Bratwurst ist mir auf den Magen geschlagen. Müde falle ich in mein Bett und krieche unter die Decke. Ich erschrecke, als sich meine eisigen Füße berühren. Sofort krümme ich mich in Embryonalhaltung und schlage mir dabei die Knie unter das zitternde Kinn. Im limbischen System schwappen Endorphine über, Blutdruck und Herzfrequenz sinken impulsiv und reißen mein Bewusstsein mit sich, nur noch die Notstromaggregate laufen. Ich falle in einen wirren und kalten Schlaf, mein Atem rasselt unruhig, meine Pupillen huschen hinter den Lidern hin und her.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf zwischen den Schultern eingeklemmt, warte ich an der Haltestelle auf den Bus, der schon seit zwei Stunden überfällig ist. Es ist stockdunkster, nur wenige Autos sind unterwegs. Ich trete von einem Bein aufs andere und fixiere die Kreuzung, aus der er kommen soll. Das winterliche Treiben setzt eben zum Gnadenstoß an, als der Dolmus endlich um die Ecke biegt. Er blendet kurz auf, donnert durch den Schneematsch an mir vorbei und hält etwa 100 m weiter auf dem Seitenstreifen. Verblüfft bleibe ich einige Sekunden wie angewurzelt stehen, stake dann steif den blinkenden, orangenen Lichtern hinterher. Schon am Heck klopfe ich stürmisch auf das Blech, durch die vereisten Scheiben fällt warmes Licht nach draußen. In Höhe der ersten Tür halte ich an und spähe erschöpft hinein. Murat sitzt am Steuer, ich kann ihn gut erkennen trotz seiner Uniform. Er schaltet den Motor aus, die Zielrichtungsanzeige zeigt jetzt Pause. Baff stehe ich da und trommele gegen das Siliciumdioxid, doch der Eingang bleibt vernagelt wie der gegnerische Strafraum für Arminia Bielefeld. Der Osmane schaut auf, zeigt auf seine Taucheruhr und hebt dann beide Hände mit allen ausgestreckten Fingern. Zehn Minuten später bin ich steif gefroren wie ein Eistaucher im Baikalsee. Als die Tür sich endlich öffnet, nestele ich mit klammen Fingern nach meinem Portemonnaie, kaufe mir ein Ticket und taumele zu dem letzten freien Platz. Ein junges Mädchen faltet ihre Beine über einander, ich krieche ans Fenster. Sie schaut mich an und lächelt, ein Hauch von Tosca steigt in meine Nase. Irritiert greife ich in meine Manteltasche, ziehe ein Rauchendchen heraus und beiße ab. Dann geht die Reise los, wie ein Silberfisch gleiten wir durch die Nacht, die Scheibenwischer kratzen dicke Flocken zur Seite und geben den Blick frei in die schwarze Unendlichkeit. Ein dumpfer Knall zerschneidet mit einem Mal das Brummen des Motors, der Bus bremst abrupt und kommt mitten auf dem Zebrastreifen zum Stehen. Tosca rutscht auf ihrem Sitz näher an mich heran, um besser sehen zu können. “Scheiße, scheiße, scheiße”, höre ich Murat sagen. Kurze Zeit später öffnet er mit einem Zischen die vordere Luke und steigt hinaus. Stimmenfetzen wehen herüber, groteske Schatten spielen Fangen, als ein weiterer dumpfer Knall durch die Nacht hallt. Dann ist Ruhe. Endlich tritt der Kutscher mit lautem Poltern und Stampfen wieder ein. In der einen Hand hält er einen toten Schneemann, in der anderen eine doppelläufige Flinte. Der Wind hat aufgehört zu wehen und die Schneeflocken verharren regungslos in der Luft.

Durch einen Spalt in der Tür schiebt sich ein größer werdender Lichtkeil in mein Zimmer. Ich halte den Atem an und kneife die Augen zusammen. Es raschelt und murmelt, dann fällt der Schnappriegel wieder ins Schloss. Die Bratwurst in meinem Magen dreht sich noch einmal um.

Es kommt hier noch schlimmer!

Strafstoß

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7) und Übergangsbinde (Kapitel 8)

Ich sitze in der offenen Beifahrertür und rauche, meine nackten Füße spielen mit dem Gras. Das Ticken des Warnblinkers und das Zirpen der Grillen auf den Feldern sind die einzigen Geräusche, die durch die Stille schleichen. Schon vor zwei Stunden habe ich Murat losgeschickt, von irgend woher ein paar Liter Diesel zu besorgen, damit ich noch rechtzeitig zum Sonntagsspiel zurück bin. Ich drücke die Kippe zu den anderen Knickwinkeln in den großen Porzellanascher, den ich auf das Armaturenbrett gestellt habe. Mein Blick fällt auf die Uhr, die Partie wird bald angepfiffen und Murat ist immer noch nicht wieder da. Was macht der bloß?! Der kann was erleben! Nervös drehe ich am Autoradio, Uli Zwetz berichtet bereits live. Ich brülle die Mannschaftsaufstellung mit, Spucketropfen klatschen von innen an die Windschutzscheibe. Mit zitternden Fingern fische ich die letzte Zigarette aus der Packung, zünde sie mir an, nehme einen großen Schluck aus dem Regal, hänge meinen Schal aus der Tür und singe lauthals die Hymne mit. Plötzlich schaudert es mich und ich denke an die Zeit zurück, als das Stadion noch liebevoll „Alm“ hieß, eine Bretterbude und zugleich eine Festung war und keine Glas- Arena. Der Ball war aus echtem Leder und die Bratwurst groß wie ein Unterarm. Murat und ich kickten oft mit seinem abgewetzten Tango Rosario auf der Straße, ein knarrendes Saba- Radio stand im offenen Fenster und brüllte in unregelmäßigen Abständen „Tor, Tor, Tor“. Die größte und unvergessene Legende aber geschah an einem verregneten März- Samstag, als die arroganten Krachledernen dahoam mit 4:0 untergingen. Ich stand mit Pickeln und Arbeitshandschuhen im Gartentor und habe vor Freude geweint. Vom Pfandgeld aus Opas Keller habe ich mir heimlich die nächste Eintrittskarte gekauft und stand fortan zu jedem Heimspiel auf der Tribüne, habe gejubelt und geschimpft, gestaunt und geflucht wie ein Großer. Am Ende der Saison sind wir trotzdem abgestiegen. Mich aber hatte eine Leidenschaft gepackt, die mich nicht mehr losgelassen hat. Und ausgerechnet heute geht es gegen die Unaussprechlichen aus Telgte- West. Genau deswegen sollte ich auch jetzt auf den vertrauten Betonstufen stehen und meine Mannschaft anfeuern, so lange sie noch auf Gras spielt. Es geht zwar um nix mehr, aber mein Herzblut ist immer noch blau.
Gespannt sauge ich jedes Wort auf, das aus den Boxen klingt. Die Atmosphäre schwappt zu mir herüber und ich hüpfe im Auto, weil ich kein Preuße bin, die Winkekatze überm Tacho spielt verrückt. Noch ein Schluck der schottischen Malzbrause. Der Schiri pfeift grade einen Elfmeter, als ich Murat im Rückspiegel zurückkriechen sehe. Schnell suche ich den Deutschlandfunk mit irgendeinem klassischen Kammerkonzert und ratsche mit den Fingern gelangweilt über das Lüftungsgitter.

Murat sagt kein Wort, als er einen verbeulten Blechtrichter in den Tankstutzen hängt und aus einem schwarzen Gülleeimer selbst gepresstes Rapsöl nachgießt.
„Hast du Zigaretten mit gebracht?“, frage ich giftig.
Er schießt die leere Plaste wütend aufs Feld, „nein“, knurrt er. „Was hörst du denn da eigentlich für einen Rotz?“, will er wissen, „läuft heute nicht Fußball?“
„Warum sagst du das nicht gleich“, kreische ich empört und suche einen anderen Sender. „Alles muss ich selber machen“, sage ich und zeige ihm bedauernd die Flasche, „außer fahren!“

Ich kann es nicht lassen! Hier treibt mich der nächste Wahnsinn!