Sturm in der Brandung

Der Jever- Mann
Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall und schaue hinein. Aber Klopf ist nirgends zu sehen. Vorsichtig hebe ich das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig zur Seite. Glück gehabt, er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack, er tut so, als merke er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa hupt schon und fächert mit den Armen. „Wo warst du denn noch?“, will er prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Schon brausen wir los.
Nach zähen und unendlichen Stunden auf der Autobahn, einem Dutzend Fünf Freunde- CDs und ebenso vielen Nutellabrötchen kommen wir endlich am Fähranleger in Rømø an. Seit vor ein paar Jahren ein Sturm einen Laster vom Sylt- Shuttle gepustet hat, fahren wir immer über Dänemark auf unsere Urlaubsinsel. Papa ist da abergläubisch, „wer einen Laster umschmeißt“, sagt er immer, „der macht auch vor einer E- Klasse nicht halt.“
Wir sind spät dran diesmal und der Kapitän trötet bereits dreimal, als Papa endlich die Tickets in der Hand hat und wir auf den Autokutter fahren können. Im Internet zu buchen ist auch nicht so seine Sache. Auf dem völlig überfüllten Deck quetschen wir uns zwischen Fahrräder und Kinderwagen auf eine hölzerne Backskiste. Der Wind pfeift uns um die Ohren und die Abendsonne lächelt müde. Dann brummen die schweren Dieselmotoren los. Das Schiff vibriert wie eine alte Waschmaschine, dunkler Rauch steigt empor, die Möwen stieben von den schiefen Birken im Fahrwasser auf und hoffen auf einen Bissen.
Ich schaue meinen Bruder an, er nickt und schon wuseln wir durch Wolfstatzen- Jacken, Fleece- Pullovern, Softshell- Westen zum Bug. Doch ausgerechnet dort feiern die Kicker vom Team Sylt lautstark das Erreichen des Achtelfinales beim Dana- Cup in Nord- Jütland mit Koffein haltigen Kaltgetränken, Fassbrause und Eistee. Kurzerhand machen wir kehrt und schlängeln uns zum Heck mit den riesigen Propellern. Wir packen unsere Toggo- Lutscher aus und spucken ins aufgeschäumte Wasser. Papa ist sitzengeblieben und muss auf unsere Sachen aufpassen.
Am Inselhafen List fallen mir die Augen zu. Ich träume von Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Erst als Papa mich zudeckt und mir einen Gute- Nacht- Kuss gibt, blinzele ich ihn schlaftrunken an. „Wo sind wir?“, will ich wissen. „Da, wo der Klabautermann auf Kaperfahrt geht“, sagt er lieb. Dann schlafe ich wieder ein. Papa geht zurück ins Wohnzimmer und fällt um wie der Jever- Mann.

Faltiger Autist
Am nächsten Morgen wache ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Endlich kann ich mich um Klopf kümmern. Vorsichtig hole ich ihn aus meinem Rucksack und schaue ihn an. Er scheint noch zu schlafen. Manchmal denke ich, er könnte mich verstehen, wenn er mich anschaut und seinen faltigen Hals reckt. Dann erzähle ich ihm, wie ich einmal das Feuerwehrauto von meinem Bruder im Sand verbuddelt habe, weil ich so eins auch gerne hätte. Oder wie ich Lauf, seinem Hamster, die Füßchen mit Tesafilm umwickelt habe, weil er schneller war als Klopf. Oder dass ich mir kurz vorm Einschlafen heimlich die Bettdecke in den Schlafanzug stopfe, damit ich morgens nicht nass bin. Sonst dürfte ich Klopf nicht behalten, hat Papa gesagt. Dann nickt Klopf immer und gibt mir Recht. Er ist auch der einzige, der weiß, dass ich gerne Leuchtturmwärter werden möchte. So wie Herr Tur Tur auf Lummerland. Das muss schön sein, abends einmal die Wendeltreppe raufsteigen, die Petroleumlampe anzünden und morgens wieder löschen. Keine Nacht darf es ausbleiben, meinen fünften Geburtstag nicht, nicht Weihnachten, und nicht freitags, wenn die Schmutzfrau kommt. Ich muss immer da hoch. Mit Einbruch der Dunkelheit muss das Licht brennen. Es ist eine wichtige Aufgabe. Klopf versteht mich. Papa nennt ihn manchmal faltiger Autist. Ich weiß nicht, was das ist.
Nach dem Frühstück geht Papa mit uns in einen kleinen Laden in der Friedrichstraße. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Spielzeug zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er wieder, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller! Boah, ich habe echt keine Lust mehr und zeige auf mein T- Shirt. I’m the boss steht da. Das zählt nicht, erklärt Papa mir, Papa sei mehr als Chef. Dann will ich doch lieber Leuchtturmwärter werden. Oder faltiger Autist.

Wir lieben die Stürme
Der Wind kurvt mit uns im Slalom um jeden Poller, jeden Anker und jede Boje herum. Er taumelt über rot geklinkerte Wege, braust an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, saust mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und mit uns an Papas Hand wieder hinauf. Auf dem Sandgipfel bleiben wir stehen und staunen: Groß, weit und dunkel erstreckt sich der graue Riese bis zum Horizont. Grollend wirft er seine kalten Arme ans Ufer, als sei er nie weg gewesen. Sein eisiger Atem fegt feuchte Gischt wie eine Horde aufgescheuchter Krabben beim Schulausflug vor sich her, schmeißt Standkörbe um und drückt dicke Kinder die Rutsche wieder hoch. Volleyballnetze stehen steif in der eisigen Brise wie schwer gefüllte Reusen, Klaffmuscheln graben sich tiefer in den Sand. Mein Käppi reißt sich los wie ein wild gewordenes Seeungeheuer, scheucht Thalasso- Wanderer vor sich her und sprengt eine Gruppe Qigong- Tänzer im Dünengras auseinander.
Benommen stolpern wir in die Villa Kunterbunt zum Piratentag. Laut brüllend entern wir die Welt, lotsen unser Boot durch gefährliche Untiefen und an Monster- Riffen vorbei. Wir schießen mit Korken- Kanonen auf Kokosnüsse, schruppen das Deck und pumpen Wasser aus den Kajüten. Wir überstehen die Pest und Skorbut, verlieren dabei alle Zähne und ein Bein. Wir jagen Ratten von Bord, Wale im tiefen Meer und heben auf einer einsamen Insel einen großen Schatz.
Erst bei Sonnenuntergang laufen wir wieder in unseren Hafen ein. In der Kombüse gibt es salziges Pökelfleisch und faules Wasser. Der leuchtende Zyklop blinzelt uns aufmunternd zu. Der Sturm hat sich gelegt.

Du bist nicht mehr mein Freund!
“Matschpatsch” macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Mit dem Plattmacher klopfe ich die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Aber der Stinkstiefel will meinen Kescher dafür haben. „Ich bin nicht mehr dein Freund“, brülle ich, trampele meine Burg selbst kaputt und marschiere los. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. In meinen Eimer sammle ich Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen, er ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Wasser und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel! Mein Bruder wird staunen.

PS: Es handelt es sich hierbei um ältere, überarbeitete Beiträge, sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen.

Kassensturz

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3) und Wortgeflecht (Kapitel 4)

An einem dunklen und lausigen Abend sitze ich mit unserer Geldkassette in unserer kleinen Küchennische. Heute ist ein besonders schwarzer Freitag. Keine Menschenseele hat sich in unseren Laden verirrt, den wir vor etwa drei Wochen eröffnet haben. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn um. Im Dunklen kullern ein paar Silberlinge herum und eine Handvoll Kupfer hockt um einen kleinen geknickten Zettel. Sonst nix. Ich nehme ihn heraus und falte ihn auf. In seiner krakeligen Schrift hat Murat etwas notiert, das jede Grundschuh (!)- Referendarin zum freiwilligen Exil im analphabetischen Neustrelitz getrieben hätte. Ich rufe ihn kurzerhand an. Besetzt. Dann wähle ich die Nummer seines Bruders. Irgendwo in Istanbul geht einer dran. Ich höre gutturales Geschnatter und ein rasselndes Dönermesser. „Murat“, schreie ich gegen einen Flachbildschirm an, der im Hintergrund die türkischen Top40 plärrt, „bist du das?“ Es rappelt furchtbar und röchelt wie eine Klospülung in der Sommerdürre. Eine Männerstimme ruft seinen Namen rüber zum europäischen Teil der Stadt. „Efendim?“, kräht es durch die Leitung. Plötzlich ist der Draht still. Entnervt schleudere ich den Telefonknochen auf den Tisch, knülle den Zettel und versenke ihn über Bande in der Rundablage. Ich mache mir ein Efes- Bier auf, das einzige Gesöff, das ich in diesem Imbiss hier finde. Herb rinnt es meinen Bosporus hinunter und bringt im Marmarameer eine griechische Thunfischflotte auf, die verbittert Gegenwehr leistet. Kaum haben sich die Wellen ein wenig geglättet, stoße ich kräftig ins Nebelhorn. Der tranige Nachgeschmack lässt mich schwindeln. Rudernd suche ich Halt an der dämlichen Rattangarderobe, die uns Murats Eltern stolz zur Einweihung geschenkt haben. Wie ein angeschlagener Boxer umklammere ich das gebeizte Peddigrohrmöbel und taumele damit schwankend hin und her. Das Kilo schwere magische Auge an der goldenen Panzerkette, das darin baumelt und uns vor bösen Blicken und Wasserrohrbrüchen schützen soll, gerät in hektische Rotation und trifft mich hart an der Schläfe. Mein rechtes Auge schwillt ohne Nachzudenken spontan zu und ich pralle mit dem Schädel auf den Glastisch. Der Krümelsauger poltert herum und starrt giftig auf die Unordnung. Hyperventilierend schnappe ich nach Luft. Unbeeindruckt und erbarmungslos zählt mich die Schwarzwälder Kuckucksuhr über der Tür an, erst das Piepsen der Eieruhr bewahrt mich in letzter Sekunde vor dem endgültigen Knockout. Noch benommen stemme ich mich in der zweiten Runde empor und greife nach dem Henkel der Geldkassette. Blind vor Schmerz verpasse ich erst der Jackensäule einen schnellen Jab und schließlich dem Meisterwerk taiwanischer Uhrmacherei einen tödlichen Uppercut. Der Kleiderständer sackt in sich zusammen wie ein Osterfeuer und der heimische Vogel piepst ein letztes Mal, ehe er im dichten Qualm erstickt.
Ich gönne mir einen weiteren Schluck Efes, schüttele mich und drücke die Wahlwiederholungstaste. Aus der Küchenschublade klingelt irgendein Asi- Rapper mit abgebrochener Baumschule vom Typ Sido, Bushido oder wie die Hackfressen heißen. Ich habe Murat schon tausend Mal erklärt, dass er sich damit in den falschen Gegenden jede Menge Ärger einhandeln kann, wenn sein Handy klingelt und er es nicht dabei hat. Wie will er mich dann anrufen, damit ich ihn aus der Scheiße wieder raushole? Soweit denkt der Muselmann wieder einmal nicht und jetzt haben wir den Salat. Es sieht hier aus wie Hulle, er hat Kehrwoche, treibt sich rum und ich muss zusehen, wie ich den Laden über Wasser halte.

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Wortgeflecht

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2) und Strebergarten (Kapitel 3)

„Nun komm schon, du alter Schisser“, rufe ich Murat zu, „wovor hast du Angst? Da springt keiner raus und packt dich!“ Vorsichtig wie ein Fahranfänger tritt er Schritt für Schritt neben mich. „Buh!“, mache ich, noch ehe er einen Blick in das Fass werfen kann. Murat springt drei Meter rückwärts. Kreidebleich steht er im Türrahmen, sein verwaschenes „I love N Y“ – Shirt klebt klamm auf seiner Haut. Er starrt mich mit Melonen großen Augen an, als wäre ich ein 3 – Zentner- Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg. „Na, dann muss ich eben alleine ….“, lache ich auf, halte dann aber inne. „Murat! Sche-Herz!“, rufe ich und halte harmlos meine Hände nach oben. Zögerlich tapst nach er vorne und lugt misstrauisch über den Beckenrand. Dumpf klappt sein Kinn nach unten, als er die bunten Plastikbausteine erblickt, kleine ekstatische Stromimpulse durchzucken seinen Körper. Begeistert greift er bis zu den Ellenbogen hinein, wühlt drin herum und schaufelt schließlich einen achter Leuchtstein nach oben. Sofort rennt er nach hinten und kramt laut in einer Klappkiste nach einer 4,5 Volt – Flachbatterie. Stolz, als habe das Osmanische Heer Wien doch noch eingenommen, kehrt er im Schein der mattgelben Soffitte zurück. „Sie brennt sogar noch“, sagt er mit breiter Brust, „weißt du noch, was wir damit alles gebaut haben?!“ „Na klar“, rufe ich glückselig zurück, „du hast den Stein als Scheinwerfer in mein Polizeiauto gebaut!“ Murat umschließt den Noppenquader sanft in der hohlen Faust und linst hinein, „willst du auch mal?“, fragt er. Vorsichtig blinzele ich durch den Spalt zwischen seinen Fingern, sie riechen nach Marlboro und Hammelfleisch. „Dann war er eines Tages weg, Mama hatte gesaugt“, sage ich mit erdrückter Stimme. Murat versteift, schaut verlegen zu Boden und lässt die Hand sinken. „Was ist?“, will ich wissen. „Weißt du, das war …“, stammelt er, „das war … nicht der Staubsauger. Ich habe ihn versteckt, weil ich auch einen haben wollte!“ Dann hält er mir den Lichtwürfel hin, „hier, er gehört dir!“ Ich blicke ihn an und muss ihn einfach umarmen, „komm, wir schauen, ob wir noch einen finden!“ Gemeinsam stoßen wir hinab bis zum Grund der hölzernen Trommel, rühren und rieseln winzige Einer, blaue Vierer und breite Achter, zerbrochene Fenster und Räder ohne Reifen und sogar einen noch selteneren fluoreszierenden Sechser empor. Schließlich schütten wir die ganze Litfasssäule aus und kramen fieberhaft herum. Dann materialisiert sich der Glimmblock überraschend wie von selbst aus den unendlichen Weiten der Legogalaxien. Ganz unerwartet liegt er da, als sei er nie weg gewesen. Ich jubele glucksend in mich hinein und Murat strahlt wie ein kleiner Junge am Weltspartag, dem ein greiser Filialleiter für seine gesammelten 47 Kupferstücke einen schielenden Plüschhasen überreicht. Vergnügt bauen wir unsere große Feuerwache mit Hubschrauberlandeplatz und Garage für den Notarztwagen nach den originalen Aufbauanleitungen von 1982 wieder auf. Beschwingt geht Murat zum Radio und schaltet es ein, Udo Jürgens steht im Neon hellen Treppenhaus. Keiner von beiden war schon einmal in New York. Dann, wie auf ein verabredetes Kommando, singen wir beide mit: „Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n!“ Schlagartig vermisse ich meinen Keinohrhasen und verstumme. Murat dreht das Radio leiser, zündet sich eine Zigarette an und bläst den teerhaltigen Fall- Out zur Decke, von wo sich der giftige Niederschlag langsam über uns senkt. Draußen dämmert es inzwischen, Nieselregen rinnt mäandernd die Schaufensterscheibe hinunter. Unten bildet er dicke Pfützen, die sich dann wie Lemminge vom Marmorsims stürzen. Jeder Tropfen reißt ein blutiges Stück aus meiner Leber. Unwillkürlich taste ich nach der Narbe auf meinem rechten Oberbauch. Mit dem Fingernagel spiele ich an der Borke und schaue schmerzverzerrt aus dem Fenster. Passanten huschen mit Schirmen von Dach zu Dach, in der Mitte des kleinen Platzes tritt der Brunnen über die Ufer. Ein altes Kaugummi taumelt in den Wogen. Der Regen nimmt zu, peitscht es wild umher und drückt es immer wieder komplett in die schlammige Brühe, bis die Springflut es mitreißt und in den Strom schleudert. Prustend und schnaubend taucht es nach bangen Sekunden wieder auf. Haltlos saust der Beißbrocken jetzt in einem wahnsinnigen Tempo dahin, überholt einen Kronkorken und einen durchweichten Aldi-Prospekt. Plötzlich ragt ein umgeknickter Ast gefährlich ins tosende Wasser, ein rechtsdrehender Strudel öffnet gierig seinen Schlund, Wellen türmen sich Zentimeter hoch auf. Mit der Verzweiflung eines zum Tode verurteilten Gefangenen gelingt es ihm in allerletzter Sekunde, sich an einer mitströmenden Pommesschale festzuklammern und an Bord zu klettern. Mit rasselndem Atem schaut das Schmatzstück in den schwarzen Himmel, Wolken huschen vorbei wie der Berufsverkehr auf der Hauptstraße. Erschöpft rutscht es an der bunten Kunststoffgabel herunter und landet in einem ranzigen Mayonnaiserest. Es hört das leise Gurgeln des herannahenden Gullys nicht.
Unerwartet schwillt das Gluckern zu einer donnernden Toilettenspülung an. Ein Wind bläst mir steif ins Gesicht, ich blicke mit dem Schrecken eines überraschten Liebhabers auf. Meine Gedanken zerplatzen wie Seifenblasen im Kinderzimmer, als ich Ayse in der offenen Tür stehen sehe. Sie hält eine völlig durchnässte Kuchenpappe in ihren Händen. Dicke Fäden tropfen ihr von ihrer Nase und aus den Haaren. Dann hält sie uns das Gebäckpaket entgegen, „alles Gute zur Eröffnung“, sagt sie, lächelt süß wie Paris Hilton in Gummistiefeln und ich kann gar nichts dagegen tun.

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Hättichmal

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4), Schnurlos (Kapitel 5), Murmeltier und Sehnsucht (Kapitel 6), Holzklasse (Kapitel 7), Zurück in die Zukunft (Kapitel 8) und Sucht und Ordnung (Kapitel 9)

Aber wieso war ich in Mailand?! Und wenn ich hier war, wo war dann Carlotta? So langsam dämmerte mir, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein glaubwürdiger Zeitsprung gelungen war. Und das ausgerechnet mir, der ich in Sport immer nur eine „Vier“ in der Grundschule hatte, weil die rhythmische Gymnastik meine Note immer wieder nach unten zog. Ich wusste nicht, wer sich diesen Quatsch mit dem Zeitkatapult überhaupt ausgedacht hat: Einstein, Bill Gates oder James T. Kirk. Sie gingen jedenfalls alle davon aus, dass man die Vergangenheit und die Zukunft am gleichen Ort quasi verschieben könne. Die lineare Raumkrümmung hatten sie aber alle nicht bedacht, denn allem Anschein nach hatte mein Zeitsprung zwar funktioniert, mich dabei leider viel zu weit und an einen ganz anderen Ort geschleudert. Das machte es nicht wirklich leichter! Dabei habe ich mir immer gewünscht, manche Dinge ganz anders zu machen, wenn ich noch einmal die Gelegenheit dazu hätte. Zum Beispiel würde ich nie wieder in Lycos- Aktien investieren, auf Arminia Bielefeld wetten oder 100 DM beim Hütchenspiel in Amsterdam setzen. Ich hätte im Bad nur zehn Zentimeter weiter unten gebohrt und mir den Wasserschaden erspart. Und wenn ich Mitte 30 endlich das Micky Maus- Abo gekündigt hätte und nicht die Hausratversicherung mir wegen offener Beitragszahlungen, dann hätte ich behaupten können, ein Schlauch an der Waschmaschine wäre geplatzt. Und nie, wirklich nie wieder, würde ich meinen Sohn Kevin Pascal nennen. Das war kein Name, das war eine Diagnose! Schade auch, dass ich Kahn keins auf die Fresse gehauen habe, als er im Matheunterricht beim Tintenpatronenkugelfußballspielen mein Geodreieck zerbrochen hat. Ich traute mich nicht, er trug schon damals ein rohes Schnitzel als Sternzeichen um den Baumstamm dicken Hals, hatte einen geistigen Horizont wie ein Dessertteller und Hände groß wie Bratpfannen. Ich kniff auch, als ich auf der Klassenfahrt Astrid beim Flaschendrehen mit Zunge küssen sollte. Ich kriegte keinen Ton heraus, als Christine Neubauer eines Tages in der Hotellobby im Urlaub neben mir stand. Aber am meisten wurmte mich das mit der Pille und Natascha damals im Strandkorb auf Borkum. Es wehte ein eisiger Wind, die Wellen schlugen hoch, wir hatten zwei Flechthäuschen Kopf an Kopf gestellt und uns unter meinen Fleece- Pullover gekuschelt. Es war unsere letzte gemeinsame Nacht, ehe sie mit ihren Eltern zurück in den Harz fuhr. Wenn ich manchmal doch nur ein bisschen mutiger gewesen wäre, dann wäre vieles ganz anders gelaufen. Vielleicht wäre ich dann schon Opa! Ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, aber so langsam leuchtete mir ein, warum es mir so schäbig ging: Ich lag durch den Zeitsprung wieder mit dem gleichen unbekannten Fieber und Wahn wie schon vor zwei Wochen im Bett. Ich hatte also gute Überlebenschancen. Aber etwas ganz Besonderes ging mir nicht mehr aus dem Kopf: Was war in der Zwischenzeit geschehen, woran ich mich nicht erinnern konnte? Würde ich Carlotta jemals wieder sehen?

Der nächste (Teil) bitte!

Selbstgebackenes

Gib mir zehn Minuten. Zehn ruhige Minuten nur für mich. Ohne Ansprüche, ohne Lärm. Einfach auf der Terrasse in der warmen Abendluft ein wenig verschnaufen, bei einem Bier oder einem Glas Rotwein. Lautlos zieht ein Heißluftballon vorbei, Menschen sehen von oben herab. Ich schaue hoch und schließe die Augen. Immer dann beginnt eine Reise in die wilde Phantasie. Stuff I’m going to do. Dinge, die ich noch machen möchte. Einmal, oder auch öfter. Ein Kuckuck ruft dazwischen, der dumme Vogel. Er hatte einen Streit mit einem Esel. Wenn man sonst nichts zu tun hat. Also Augen wieder zu und loslassen, Leinen loslassen. Der Wind schiebt mich sanft in meinem Boot aufs Meer. Die Wellen kräuseln sich nur leicht wie verwachsene Rentnerdauerwelle. Ich schaukele mit, sinke in mich hinein. Meine Gedanken lassen den Stress und die Hektik des Tages los, befreunden sich mit der Stille und dem kleinen Kind in mir, das diesen Sommer am liebsten auf einem Abenteuerspielplatz verbringen möchte. Im wilden Ritt, mit einem gellenden „Juchee“, auf der Affenschaukel den riesigen Hügel hinab, die Beine angezogen, bis zum Ende dengeln und soweit zurück, dass der Kuckuck staunt. Das Fahrrad liegt umgeworfen im Gras, die Hose ist grün auf den Knien, die Hände sind schmutzig wie nach der Töpferstunde.
Ruhe. Die Zeit verstreicht, der Atem verklingt, die Sonne küsst den Horizont.

Hautnah

Die Sonne stand schief am Himmel, die Stadt versank in rosarot. Die Luft war warm und zart, Gewittertierchen tanzten im Abendlicht. Ich fuhr mit dem Auto in die Einfahrt, stellte den Motor ab, drehte das Radio lauter und schloss die Augen. Vorsichtig zitterten sanfte Klänge in meinen Ohren, dann brüllte der Bass aus den Boxen, dass die Blumen auf der Wiese mit den Köpfen nickten. Frau Amsel setzte einen Notruf ab. Bunte Lichtwellen durchzogen meine Welt und entführten mich auf eine Reise.

Ich stand in der offenen Haustür und lauschte der Stille, hinten im Garten konnte ich die Ameisen schmatzen hören. Die Zypressen am Horizont hatten noch ihre Schlafanzüge an, das Dorf erwachte erst langsam. Ich liebte diese jungfräuliche Morgenluft, die mir ein Abenteuer versprach und nach Olivenöl, Chianti und getrockneten Tomaten schmeckte. Ich ging zum Schuppen, schob die Vespa nach vorne, setzte meinen Rucksack auf den Rücken und fuhr knatternd und knirschend den Kiesweg entlang. Unten am Tor zog ich die Corriere della sera aus dem Kasten, steckte sie in meine Manteltasche und fuhr weiter. Ich wohnte etwas abseits des Dorfes in einer kleinen alten Sägemühle. Hierhin hatte ich mich meine Expedition mit meinem Wohnmobil geführt. Hier hielt ich an und blieb. Hier packte ich meinen Koffer aus und stellte meine Staffelei auf. Wie schon einmal, als ich in jungen Jahren in Mailand Kunst studieren wollte. Dann starb mein Vater und ich kehrte zurück nach Deutschland. Ich wischte mir mit dem Handrücken eine Mücke aus dem Auge. Das Dorf lag vor mir, die letzte Kurve genoss ich wie in Zeitlupe. Marktfrauen trugen frisches Obst und Gemüse aus dreirädigen Rollermobilen zu ihren Ständen. Alte Männer saßen vor ihren Häusern und spielten. Junge Ragazzi standen zusammen und zählten einen Batzen Geldscheine. Als ich um die Ecke brummte, hob Don Pascale die Hand und winkte mich zu ihm herüber. Er hatte sich in all den Jahren als echter Freund erwiesen. Die Dorfgemeinschaft hatte mich anfänglich misstrauisch beäugt, aber er hatte es durchgesetzt, dass ich als Tedesco die Mühle kaufen konnte. „Ciao, caro amico“, begrüßte er mich. Ich umarmte ihn, nickte den Anderen zu und setzte mich. Ich erzählte ihm von dem neuen Wasserrad, das mir ein Holzbaumeister aus Torino nach alten Plänen, die ich hinter einem Küchenschrank gefunden hatte, angefertigt hat. Bald würde die Mühle wieder in altem Glanz erstrahlen. Seine Augen leuchteten. Er war dort geboren und so war es mir um so mehr Ehre, seine alte Erinnerung wieder aufzubauen und mir gleichzeitig einen Traum zu verwirklichen. Er kam jede Woche mindestens einmal vorbei, immer verbunden mit einer Einladung zum Essen. Heute mache seine Frau Elena die berüchtigten Trippa alla fiorentina. Nach ihrem fantastischen Saltimbocca alla romana beim letzten Mal zögerte ich keine Sekunde und sagte zu. Wir verabredeten uns zum Mittagessen und ich schlenderte noch ein Weilchen über den Markt. Ich kaufte mir eine Schale Oliven und ein Stück Schafskäse bei Franco. Er war eigentlich Schlosser und half mir bei der Restaurierung. Die alte marode stählerne Antriebswelle hatte er wieder zum Laufen bekommen. Wir beratschlagten uns noch ein wenig, naschten Bruschette und feixten gestikulierend.
Als ich mich zum Gehen umdrehte, stand sie plötzlich hautnah vor mir, lächelte mich an und ich wusste sofort, dass dieser Tag völlig aus den Fugen gerät. Ihre Haare glänzten kupfern in der Sonne wie frische Maroni und umspielten zart ihre Wangen wie Wellen eine Muschel. Ihre grünen Augen ließen Zucchinis in den Auslagen erblassen. Es donnerte in meinem Kopf. Nervös nestelte ich an meiner Brille, die auf einmal auf den Nasenflügeln und hinter den Ohren drückte. Plötzlich stand Don Pascale neben ihr, legte seine Arme um diesen Engel und stellte mir seine Nichte Carlotta vor, sie studiere in Milano. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fehlten deutsche und italienische Wörter für diesen Moment. Kurzatmig stellte ich mich vor. Sie lächelte mich an und reichte mir ihre Hand. Adriano Celentano brüllte in meinem Hinterkopf Dinge, die ich hier jetzt nicht wirklich wiedergeben möchte. Als ich sie hölzern berührte, durchschlug mich der Blitz wie 1771 den jungen Werther, als er sagte: Ich habe so viel und die Empfindung an ihr verschlingt alles. Ich habe so viel und ohne sie wird mir alles zu Nichts. Im Original, nicht in irgendeiner lausigen Plenzdorf– Interpretation. Der Himmel verdunkelte sich schlagartig, als ich sie wieder los ließ. „Wir müssen gehen“, sagte Don Pascale, „la mamma ist bestimmt schon so weit.“ Ich schaute auf und nickte. Carlotta hakte sich bei uns unter. Mamma Elena war eine Herzens gute Frau. Sie liebte das Leben, gutes Essen und guten Wein. Keinen Abend, den ich bei ihr und Don Pascale verbrachte, kam ich nüchtern nach Hause. So sollte es auch diesmal wieder sein. Der Rotwein gelierte süß in meinem Rachen und als ich mich weit nach Mitternacht verabschiedete, ratterte die Mühle in meinem Kopf schon. Erinnerungen und Hoffnungen gerieten zwischen die steinernen Mahlräder, ich hatte Kastanien braune Haare auf der Zunge. Irritiert sank ich in mein Bett. Der Mond rief unablässlich Carlottas Namen, in der schwülen Stille summte eine Mücke.

Die Musik im Auto verstummte. Ich schlug die Augen auf, zertrümmerte den Blut gierigen Zweiflügler auf meinem Arm und ging ins Haus. Es roch nach Leberkäse und Bratkartoffeln.

PS: Diese Geschichte setzt sich hier fort

Ich tue, was ich machen kann

Manchmal weiß ich nicht, was ich noch machen soll. Ich tue schon mein bestes, aber das reicht bisweilen einfach nicht. Ach, wie soll ich das erklären?! Also, es gibt Arbeit und es gibt Freizeit. Beide unterscheiden sich in vielen Punkten von einander. Arbeit hält mich von meiner Freizeit ab. Arbeit ist ein ewig gleicher Trott, ein Murmeltiertag, eine Zeitschleife, in der nichts anderes passiert, als die vergangenen Jahre auch. Hochgerechnet schon tausendsechshundert Mal bin ich den selben verschissenen Weg zum Büro schon gefahren. Baustellen im frühen Planfeststellungsverfahren bremsen mich auf die Geschwindigkeit einer Wanderdüne herab. Seit der Mondlandung soll dieser Teil der Autobahn ausgebaut werden. Eine greise Fledermaus und zwei Grottenolme haben hier bisher erfolgreich verhindert, was in Stuttgart nicht gelingt. Auf der Einfädelspur zieht feixend ein Gurkenlaster an mir vorbei und drängelt sich vor mich. Ich schlage aufs Lenkrad, hupe gestikulierend und quetsche mich ohne zu blinken auf den verengten Fahrstreifen zwischen schwarze Limousinen mit LED- Tagfahrlicht und silbernen Buchstaben-Nummern-Koordinaten auf dem Heck. Im zähen Stop and Go geht es voran, Küblböck hat mir immer ein paar Meter voraus. Dann muss ich abfahren. Auf der Abbiegespur gebe ich Gas, versuche noch gleichzuziehen und dem Bazi den längsten Finger zu zeigen, als ich abrupt abbremsen muss, weil ein Bofrostlaster ausschert. Nur Idioten auf der Straße und bei der Arbeit geht es mit Idioten weiter. Lauter Verrückte, ohne Lust und Motivation. Dummheit hat mehr Doppelkonsonanten als sie IQ besitzen und Diät mehr Vokale als ihr BMI beträgt! Aber Schuld haben immer die anderen! Wie mir das Gejammer aus den Ohren heraus hängt!

In meiner Freizeit denke ich so etwas nicht. Da möchte ich den warmen Wind hauchen spüren, das Meer rauschen hören und die salzige Luft schmecken. Ich möchte in das Backfischbrötchen beißen und mir das T-Shirt mit Remoulade bekleckern. Da möchte ich in Weidenkörben nach Muscheln kramen, mir einen Kescher kaufen und schwarze Möwen vor der Sonne zählen. Ich ziehe mir die Schuhe aus und laufe barfuß am Strand entlang und springe über Wellen. Und erst, wenn die Nacht von unten durch den Horizont bricht, falle ich mit Sand in den Haaren und schmutzigen Füßen ins Bett.

Dreizack

Der Wind hängt schwer in den Segeln. Tief sticht der Bug in die schwarze See. Die Mannschaft wimmelt emsig auf Deck. Ratten huschen durch ihre Beine auf der Suche nach einer Mahlzeit. Die Sonne versinkt soeben am Horizont, die Nacht kündigt sich trüb und kalt an.
Unten in seiner Kajüte rollt der Kapitän eine Seekarte auf seinem wuchtigen Tisch aus und zähmt die Widerspenstige mit einem Tintenfass und einem schweren Goldring. Unruhig geht er hin und her. Die halbe Mannschaft ist an Skorbut erkrankt. Doch seit auch sein Steuermann und Freund Bartolomeu fiebernd mit dem Leben ringt, hat er kein Auge mehr zugetan. Übermüdet streckt er sich. Dann beugt er sich über die Karte und guckt sich die bisherige Route skeptisch an. Ihm fehlt der Anhalt, wo genau sie sich befinden. Er ist ein großartiger Seemann und hervorragender Taktiker in jeder Schlacht, die Mannschaft nennt ihn deswegen ehrfürchtig Neptun, aber mit der astronomischen Navigation an Sonne und Sternen steht er auf Kriegsfuß. Verzweifelt nimmt er noch einmal den Stechzirkel und schlägt einige Bögen auf der Karte von ihrer letzten bekannten Position aus. An der Stelle, an der er ein kleines Kreuz einzeichnet, ist die Karte im Umkreis von 200 Seemeilen blau. Verzweifelt stützt er den Kopf in die Hände. Sein einziger Vertrauter in dieser Misere ist der Smutje Mo und der ist dem Alkohol zugetan wie der Teufel der sündigen Seele. Wütend wischt er die Karte mit einem Bärenhieb vom Tisch, als es an der Tür klopft. „Ja“, brummt er. Mo poltert aufgeregt in die Kajüte, „Käp’tn“, stammelt er, „kommen Sie schnell!“ Noch ehe er eine Antwort bekommt, stürmt Mo auch schon wieder an Deck. Der Kapitän stampft hinterher. Im Dämmerlicht der heranbrechenden Nacht stolpert er über Holzstücke und Metallteile, die überall auf den Planken herum liegen. Die Mannschaftstraube verstummt und gibt eine Gasse frei, als sie ihren Kommandanten bemerken. Sechs mastdicke Arme halten dabei den tobenden Steuermann in Schach. „Was ist hier los?“ Keiner der Maaten wagt es zu sprechen. Mit einem lauten Krachen zertritt der Kapitän eine Backskiste. Dann endlich traut sich Mo: „Er hat in seinem Fieberwahn die letzten Fässer mit Trinkwasser zerschlagen!“ „Hängt den dreckigen Wichtel auf!“, ist Neptuns erster Impuls zu sagen. Doch dann besinnt er sich, vielleicht ist Bartolomeu der einzige, der sie noch retten kann. „Bringt ihn nach unten und gebt ihm von dem, was noch übrig ist, zu essen und zu trinken!“, knurrt er und stiert dabei jeden mit dem kalten Blick eines Henkers an. Angstvoll schauen die Männer zur Seite, keiner sagt ein Ton. Jeder weiß, dass er selbst statt des Steuermannes am Mast hängen könnte, wenn er sich dem Befehl des Kapitäns widersetzt. Neptun dreht sich um und verschwindet wortlos nach Achtern zum Steuerrad. Er scheucht den Rudergänger fort, übernimmt seinen Platz und starrt in die Dunkelheit. Lange steht er da, unbeweglich wie eine Galionsfigur. „Zum Klabauter!“, murmelt er plötzlich und spuckt ins Wasser, erst jetzt bemerkt er den aufziehenden Sturm. Schon brechen hohe Wellen über dem Schiff zusammen. Die Mannschaft hat mit Neptun schon viele Abenteuer überstanden, aber jetzt sehen sie den Sensenmann schon blinzeln. Zum Segel reffen und Abwettern ist es zu spät. Kurzentschlossen stellt Neptun das Schiff in den Wind. Es bäumt sich auf wie ein verwundeter Stier. Dumpf knarren die Masten unter der Last. Die Taue sind bis zum Zerreißen gespannt. Die Winschen jammern und ächzen, die Spanten bellen hungrig. Mit einem lauten Schlag reißt sich das Rahsegel am Fockmast los. Mit letzter verzweifelter Kraft klettert Afonso, sein Bootsmann, den Mast hoch und schafft es, das Segel loszuschneiden. Peitschend frisst der Sturm sein erstes Opfer. Afonso schaut hinterher, als ein Blitz krachend den Nachthimmel für einen kurzen Augenblick erleuchtet. „Land!“, schreit er, „“Land in Sicht!“ Ungläubig rennen die Männer zur Reling und starren aufs Meer. Doch in der Dunkelheit können sie nichts erkennen. Neptun brüllt: „Auf eure Posten!“ und nimmt Kurs in die Richtung, die ihm Afonso gezeigt hat. Das Schiff dreht sich nur störrisch, immer wieder driftet es ab. Dann endlich tauchen tatsächlich Schatten in der Dunkelheit auf. Langsam schieben sie sich näher. Gaffend und feixend stehen die Männer zusammen. Plötzlich bekommt das Schiff Schlagseite. Wie von einem riesigen Seeungeheuer getreten sackt es zur Seite. Wer sich nicht halten kann, wird umhergewirbelt oder von Bord geschmissen. Neptun reißt das Ruderrad herum, er muss das Schiff wieder in den Wind stellen, damit es sich aufrichtet. Schon rollt die nächste Welle heran und droht das Schiff zu zerschlagen. Im letzten Moment greift der Wind in die klammen Segel, hievt es in die Höhe und schiebt es vor der Welle her. Es gelingt Neptun, das Schiff in den Windschatten der Insel zu manövrieren. Dann läuft es knatschend und knirschend auf Grund auf. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Erschöpft starrt Neptun in die Dunkelheit.

Potpourri

Das wollte ich schon länger mal machen: Eine Geschichte schreiben, in der alle meine Schlagwörter („Tag-Links“, siehe am rechten Rand) mindestens einmal vorkommen. Ich probiere es mal alphabetisch!

Es ist Heiligabend. Soeben öffne ich das letzte Törchen vom Adventskalender. Was ist das denn? Ich traue meinen Augen nicht: Ein kleines Schokoladenauto. Und wer steigt grade aus? Der Bofrostmann! Wo will der denn so spät hin? Will der etwa noch Tiefkühl- Brötchen ausliefern? Wo denn? Hier in dieser unwirtlichen Gegend, mitten am Deich? Hier gehen die Eier zu Ende, die Frauen spielen Fußball und Haare wachsen am Horizont! Was in aller Welt hat der hier verloren? Leise schleiche ich ihm nach. Das gespenstische Licht des Mondes verzerrt die Schatten der Hühner im Garten von Kapitän Ahab zu einer Karawane Fleisch fressender Saurier. Plötzlich bleibt der Bofrostmann stehen und blickt sich misstrauisch um. Ich zucke zusammen. Hat er mich gesehen? Dämonisch sieht er aus, als würde er Kinder fressen. Ich fürchte um mein Leben, als er einige Schritte auf mein Versteck zugeht. Sein eisiger Atem stirbt in der klirrenden Kälte, kaum dass er sein Maul verlässt. „Ich bin ein Mann“ , denke ich, „zum Sterben ist jetzt keine Zeit!“ und laufe weg. Meine Schritte hallen in der Dunkelheit wie die Schläge des Belzebubs zum Altweiberfasching auf dem glühenden Amboss. Atemlos renne ich zum Meer. „Heiliges Murmeltier, steh mir bei“, schreie ich. Der graue Riese schmeißt unbarmherzig seine kalten Arme nach mir und spült Muscheln um meine Füße. Unsichtbare Möwen schreien durch die Nacht. Meine Nase saugt den salzigen Odem des Todes ein, in den Ohren knistert es nach zertretenem Playmobil. Das Radio in meinem Kopf spielt Julis „Woanders zu Hause“. Dann ist plötzlich Ruhe. Kognitiver Stromausfall. Unendliche Stille. Das Meer schweigt, als habe Neptun Mittagsschlaf verordnet und drohe jedem, der dieses Gesetz missachtet, mit einer Einzelstunde Eurythmie. Mit meinen Zehen presse ich den Sand in meinen Schuhen immer wieder zusammen, bis sich ein kleiner Damm darin bildet. Die Welt um mich herum ist stumm, wie in der Schule beim Englisch- Unterricht, mucksmäuschen still. Selbst die Segel eines trüben, vorüberziehenden Seelenverkäufers halten sich an das unausgesprochene Redeverbot. Ich fröstle.
Mit lautem Getöse poltert die Brandung Ruptus artig wieder los, glitschig wie Seife prescht sie mir ihre klamme Gischt ins Antlitz. Ich muss spucken und kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, brennt die Sonne, obwohl es eben noch stockfinster war. Bis zu den Knien eingegraben stehe ich am Strand, es ist heller Tag. Hinter mir entdecke ich eine schimmernde Tür. Das Wasser frisst gierig ihren Rahmen und drückt an die Buhnen.

Das Leben ist wie die Flut an Weihnachten“ , denke ich, „was die Welle nicht reißt, das reißt der Wichtel!“
In der Tür drehe ich mich noch einmal um und blicke ein letztes Mal zum Ende der Welt. Der Wind bläst mir ins Gesicht, das hält die Windschutzscheibe nicht.

Meine Perle und ich

Da liegt sie nun. Ich stehe einen Moment nackt vor dem Bett und schaue sie an. Dann gehe ich leise ins Bad. Unter der Dusche lasse ich mir das Wasser auf den zerschundenen Rücken prasseln. Ich schließe die Augen und sehe die Szenen von gestern Nacht wieder vor mir: Als ich nach der Arbeit nach Hause kam, wartete sie schon. Ich hatte Blumen mitgebracht und stellte sie auf den Küchentisch. Im ganzen Haus roch es nach frischer Farbe, die Maler konnten noch nicht lange weg sein. Es war schön, die Wohnung jetzt nach Wochen langer Renovierungsphase so zu sehen. Für alle hat das Einschränkungen bedeutet. Tagsüber waren die Handwerker da und abends waren wir einfach zu erschöpft und zu erschlagen, um noch einen Spaziergang am Meer zu machen und den Sand auf der Haut zu spüren. Ich war früher zurück als sonst. Die Sonne stand glühend am Horizont. Durch das offene Fenster konnte ich hören, wie die Wellen an den Strand schlugen und die Möwen riefen. Die Luft war noch warm und Himmel blau. Es war perfekt.
Ich nahm mir die Eis kalte Flasche Krombacher vom Kopfkissen, schmiss die Schmutzwäsche von meiner auf die andere Seite, schaltete den Fernseher ein und legte mich in voller Montur aufs Bett: Bundesliga- Rückrundenstart. Mit meiner Perle der Natur.

Wir lieben die Stürme

Fortsetzung von Der Jever- Mann (Kapitel 1), Faltiger Autist (Kapitel 2), Du bist nicht mehr mein Freund! (Kapitel 3), Zauberpuste (Kapitel 4) und Die Augen gucken mit (Kapitel 5)

Kapitel 6 (ursprünglicher Beitrag vom 16.02.2010. Ich war so frei, ihn zu verschieben!)

„Matschpatsch“ macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Die Schippe habe ich gegen den Plattmacher getauscht, klopfe damit die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. Ich marschiere los, sammle Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen. Mein Eimer ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Meer und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel!

ENDE

Zauberpuste

Fortsetzung von Der Jever- Mann (Kapitel 1), Faltiger Autist (Kapitel 2) und Du bist nicht mehr mein Freund! (Kapitel 3)

Kapitel 4

Am nächsten Morgen werde ich davon geweckt, dass Papa verzweifelt seine Reisetasche sucht. Durch die Schlitze der Jalousie sehe ich, wie er auf dem Balkon fündig wird. Er entdeckt den zerfetzten Kicker, flucht dreimal laut und gibt mir und meinem Bruder in Abwesenheit die rote Karte. Das heißt: Kein Eis heute und kein Fernsehen vor dem Schlafen gehen mehr. Ich husche schnell zurück in mein Bett und kneife die Augen zusammen. Was ist, wenn er Klopf entdeckt? Das würde bestimmt rote Karte bedeuten bis ich zehn bin, oder hundert. Und nie wieder Delfino- Eis und Wickie gucken. Ich stupse meinen Bruder an, der zieht sich die Decke über den Kopf. Ich trete die Flucht nach vorn an, kneife mir den Schnippel zu und renne zum Klo, um zu sehen, was Papa vorhat. Kurz vor dem Bad bleibe ich wie angewurzelt stehen: Er greift tief in die Tasche und zieht ein angefressenes Salatblatt heraus. Ich stoße mir plötzlich das Knie und fange an zu weinen. Papa legt die Tasche zur Seite und tröstet mich. Dabei linse ich über seine Schulter und sehe, wie Klopf sich unter dem Kleiderschrank verkrümelt. Mit Zauberpuste tut das Knie auch schon nicht mehr weh.
Schlaftrunken kommt mein Bruder aus unserem Zimmer. „Was ist denn hier los?“, will er wissen. „Ich habe mich gestoßen“, sage ich, ehe sich Papa an die verschwundene Reisetasche und den Kicker erinnern kann.

“Was wollt ihr heute machen?“, fragt er nach dem Frühstück. „Shoppen“, antworten wir aus einem Mund und klatschen uns ab. Widerstand ist zwecklos, das weiß auch Papa, weil wir uns sonst ständig streiten oder über Langeweile klagen. Trotzdem packt er die Strandmuschel, die Liegedecke und das Beachball- Spiel zusammen und verstaut alles in unsere Salewa- Rucksäcke. Die geschmierten Brötchen und den aufgebrühten Tee trägt er in einem Stoffbeutel mit Delial- Aufdruck.
Im einzigen Laden hat das ehemals samtweiße Holzpaneel bereits einen bahama- beigen Ton angenommen. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Playmobil zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller!
Boah, ich habe echt keine Lust mehr und kaufe mir einen Zungenmalerlutscher und saure Colabonbons und gehe mit ihm an den Strand.

Und es hört nicht auf, sondern geht noch weiter!

Der schwarze Teich

Still lag er da, kleine Wellen schwappten ans Ufer. Ein Treppe führte noch einige Stufen hinein, ehe sie im Dunklen verschwanden. Hohes Schilf und Seerosen säumten sein Ufer. Stolz reckten weiße und rosa Blüten empor wie riesige Lauschteller am Observatorium. Wortlos zwitscherten Vögel, auf der steinernen Bank machten große Waldameisen immer wieder Rast auf ihrem Jakobsweg. Irgendwo im Wald rappten ein paar Schafe, der Feuerkorb war erloschen.
Schwarz lag er da, der tiefe Teich.

Elternabend

Grundschule, Dienstag Abend zeitgleich mit dem DFB- Pokalspiel. Das hätte kein Mann so geplant. Zumindest keiner mit Verstand und Anstand. Da muss Mann Prioritäten setzen. Habe ich dann auch. Deswegen sitze ich auf einem viel zu kleinem Stuhl zwischen lauter Drahtbürsten mit Hartz IV- Fingernägeln.

Beim Thema „Klassenfahrt“ signalisiert mein Handy brummend „Tor“. Ich huste in die Innentasche meiner Jacke und schaue verstohlen auf das Display. Mist. Vielleicht schaffe ich es ja noch zur zweiten Halbzeit in die Sportsbar!

Klassenfahrt? Jop! Machen wir!
Insel? Auch!
Welche? Wie welche? Welche kostet Zeit! Insel reicht doch! Ich muss ja heute noch nicht die Fähre buchen!

Brmmm, brmmm zappelt meine Tasche wieder. Tor!!

„Fuck!“
„War das eine Wortmeldung, Herr Murmeltiertag?“
„Äh, ja! Fakten! Ich finde, wir sollten uns an Fakten halten und nicht über das Wetter im September 2011 diskutieren! Hell wird es am Tag werden und Schnee wird es nicht geben!“
Uh! Damit habe ich nicht gerechnet. Diese Diskussion dauert länger als die Halbzeitpause.

Beim Wiederanpfiff waren wir bei TOP 2 von 7: „Gesundes Frühstück“
Ach du scheiße! „Chips und Cola, fertig!“, entrutscht es mir.
16 Wasserwellen und Kosmetikabos starren mich mit gekalkten Augen an.
Die Luft wird dünn im Strafraum. Ich strauchele, als habe mir Frings grade von hinten in die Beine gegrätscht. Ungebremst schlage ich mit dem Gesicht mitten auf den Elfmeterpunkt.

Brmmm, brmmm durchzuckt es mich wieder. Dann durchdringen gellende Töne die Arena: „Piep Piep Piep! Verkehrsunfall in der Schlossallee. Sonderrechte zugelassen!“

Ich rappele mich auf, „Einsatz in Manhattan!“, rufe ich und laufe zur Tür hinaus.

„Papa? Wie findest du den neuen Klingelton? Hab ich dir drauf gemacht! Und darf ich noch Fußball gucken?“
„Na klar, aber nur mit Chips und Cola!“

Und das tue ich auch jetzt!

Stromabwärts

Da ist er dahin, der rote Faden
Einfach auf und davon
Er tanzt auf den Wellen.

Er wird immer schneller,
bleibt an einem Stein hängen,
reißt sich wieder los.

Wild wirbelt er umher,
singt und springt
und träumt.

Er plätschert vor sich hin,
schaut sich um und trödelt
genussvoll.

Das ist schön: Die Zeit vertrödeln
Nicht eilen oder hetzen
Da sein.

Wieder nimmt er Fahrt auf
Ein umgestürzter Baum
ragt gefährlich ins Wasser.

Geschickt duckt er sich
Prustend und schnaubend
taucht er wieder auf.

Dann gelingt es ihm,
sich an einem mitströmenden
Papierboot festzuklammern.

Mit letzter Kraft klettert er an Bord
Matt rutscht er am Mast herunter
Geschafft.

Das erste Mal
kann er sich ein Weilchen
von der Reise erholen.

Er schaut in den Himmel,
sieht, wie die Wolken vorbeihuschen,
wie er mit den Möwen fliegt.

Dann rappelt er sich auf
und schaut gespannt
über die Reling seines kleinen Rettungsbootes.

In einem wahnsinnigen Tempo
zieht alles dahin,
Landschaft, Zeit und Schiff.

Er hört das Rauschen und Gurgeln
des herannahenden Wasserfalls nicht …

Ruhe

Ich möchte die Sonne am Horizont zischend und brodelnd im Meer verschwinden hören. Ich möchte ihrer stillen Lebendigkeit lauschen.
Wie mit dem Kopf halb unter Wasser, wenn ich zwischen Playmobil- Booten der Kinder in der Badewanne liege. Nur Augen und Nase schauen noch heraus. In den Ohren knistert Badeschaum, Hitzeschwaden steigen aus dem Wasser empor. Alle Geräusche verschwinden. Ich schließe meine Augen.
In meinem Kopf entsteht eine Musik aus einem vergangenen Jahrhundert. Unter der heißen Sonne prescht das riesige Schiff über das weite Meer. Die Masten stöhnen und ächzen unter der Last des Windes in den Segeln. Der Bug sticht tief in die Wellen, Gischt spritzt hoch empor. Der Kapitän blinzelt ins helle Licht, brüllt den Matrosen ein paar Befehle zu. Schon kurze Zeit später liegt das Schiff wieder ruhiger in der See. Der Kapitän geht zurück unter Deck.
Ich tauche auf und öffne die Augen. Mein Badezimmer schwimmt. Ich ziehe mich an, mache die Moby Dick- CD aus und schließe die Tür zum Kinderzimmer. Endlich Ruhe!

Stille Sehnsucht

Direkt am Meer. Dort, wo die Sonne untergeht. Da stehe ich auf dem Deich, schaue den Möwen beim Scheißen zu. Der Wind pfeift mir um die Nase. Hier oben ist das Gefühl der Freiheit näher als das der Kälte. Die Luft riecht nach Salz und Fisch.
In der Nacht wird die Stille hörbar: Das Rauschen des Meeres, das metallische Schlagen der Segel am Mast, das Knallen der Fahnen im Wind, das Klingen der Glocken auf den Schiffen und Booten, das dumpfe Stöhnen der sich spannenden Taue. Lichter am Horizont blinzeln zu mir herüber. Die Flut drückt Wellen an den Strand, spült Muscheln und Tang immer ein Stückchen näher an den Deich.
Stille Sehnsucht nach Sand in den Schuhen, Krabbenkuttern und Kiefernwäldern, Leuchttürmen und Lachsbrötchen, Dünen und Dorschen.