Aller Laster Anfang

Irgendwann hat es begonnen. Es war gar nicht so geplant, sondern es fiel mir eher in den Schoß, obwohl ich gar nicht saß. Keiner kann es bezeugen, weil keiner dabei war und ich selbst weiß ja auch nicht, wie und warum es geschah. Auf einmal war es halt da, als wäre es das schon immer gewesen. Und ich war glücklich und zufrieden damit, denn es fühlte sich gut an.

Doch eines Tages war es genauso plötzlich weg, wie es gekommen war. Ich suchte überall, in allen Schubladen, Skizzenbüchern und Schränken, sogar im Keller, in den ich eigentlich wegen der Spinnen nur höchst ungerne hinuntergehe. Ich war verzweifelt, gab Suchanzeigen in der überregionalen Zeitung auf und klebte Zettel an die Laternen in meiner Straße. Aber was ich auch anstellte, es blieb verschwunden.

Erst, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, klingelte es an meiner Tür und grinste mich an, als wollte es sagen: „Da bin ich wieder! Hast du mich vermisst?“ Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder ihm die Tür vor der Nase zuschlagen sollte. Wie angewurzelt stand ich einfach da und starrte es an. Es ahnte wohl, dass jetzt nicht die Zeit für belanglose Worte war und schwieg.

Minutenlang geschah nichts. Nur es und ich stumm auf dem Treppenabsatz.

„Ich hätte mich gerne von dir verabschiedet“, sagte ich schließlich, „aber wenn der Hund tot ist, begräbt man ihn besser!“ Dann nahm ich es ein letztes Mal in den Arm, ging, ohne mich umzudrehen und auf eine Antwort zu warten, ins Haus zurück und schloss hinter mir die Tür.

Klotz und die Frauen

Nachts, wenn alles schläft

Manche mochten Klotz für einen schwierigen Menschen halten. Andere hätten ihn am liebsten in einer geschlossenen Anstalt gesehen. Dabei war er ein friedlicher Geselle, der noch nie eine Fliege totgeschlagen hat. Klotz war allenfalls etwas eigen: Er sammelte keine Treuepunkte, hörte deutsche Schlager, züchtete Unkraut in den Fugen des Bürgersteiges und hängte schon am Dreikönigstag ausgepustete Eier in das Apfelbäumchen im Vorgarten. Im Laufe der Zeit hatte er sich sogar angewöhnt, rückwärts zu sprechen und er beherrschte es inzwischen so gut, dass die Leute oft nicht wussten, ob es ein seltener, finnischer Dialekt war oder aber ein heidnischer Fluch. Doch genau das machte ihnen Angst.

Dabei versuchte Klotz nur, das Monster zu zähmen, das sich hinterlistig als Normalität tarnte und überall auf ihn lauerte.

Eines Nachts, als er sich wieder einmal unruhig hin- und herwälzte und im Schlaf Primzahlen murmelte, wachte er erschrocken auf. Erst ganz leise, dann immer lauter hörte er, wie jemand seinen Namen rief. Panisch sprang er auf, riss seine Jacke vom Haken und strich, ohne zu wissen wohin, durch die Straßen des Viertels. Irgendetwas Unerklärliches und Sonderbares ging mit ihm vor. Er entschlüsselte die Tarifzonen an der Bushaltestelle, studierte die Angebote am LIDL und gaffte durch die Schaufenster beim Bäcker. Er zählte die Autos auf dem Parkplatz und stellte sich vor, wie er morgens auf dem Weg zur Arbeit im Stau stehen würde.

Wieder zu Hause schnitt er sieben Scheiben Fleischwurst ab, eine für jeden Wochentag, und schob sie in einem Napf vor die Tür. Dann legte er sich zurück ins Bett und wartete auf die Bestie. Er war klatschnass geschwitzt.

 

Alles hat ein Ende

Der Sonntagmorgen lag noch müde in den Federn, als es bei Klotz Sturm läutete. Er hatte überhaupt keine Lust aufzustehen, doch da draußen schien jemand zu sein, der genauso hartnäckig und atheistisch war wie er. Nach dem sechsten Klingeln hatte er sich endlich mühsam hochgerappelt und schlurfte in seinen Lammfellpuschen zur Haustür. Gerade, als er durch den Spion lugte, klapperte der Postschlitz und ein roter Umschlag plumpste direkt vor seine Füße. Klotz schauderte, denn der letzte Brief, den er bekommen hatte, war vom Anwalt seiner Frau, die ihm mitteilen ließ, sie wolle sich scheiden lassen, weil er so unemphatisch sei. Seitdem verirrte sich ab und zu bestenfalls eine Speisekarte vom Pizzalieferdienst zu ihm, die er sorgfältig abheftete, nachdem er die Preise in eine Excel-Tabelle eingegeben hatte.

Zögerlich hob er das Kuvert auf und öffnete es.

Mein lieber Herr Klotz, es tut mir leid, Sie in Ihrem gewohnten Tagesablauf zu stören, aber seitdem ich Sie das erste Mal gesehen habe, gehen Sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Noch nie bin ich einem Mann begegnet, wie Sie einer sind. Jedes Mal, wenn Sie an meinem Laden vorbeilaufen, packt mich der Wunsch, sie anzusprechen, doch mir fehlte bislang der Mut. Bitte nehmen Sie mir meinen unbeholfenen Versuch, Sie endlich kennen zu lernen, nicht übel!

 Klotz schluckte und kippte das Flurfenster. Offensichtlich stammten diese Zeilen von einer Frau, wie er aufgrund der geschwungenen, nach links geneigten Buchstaben schloss, die sich wie in einem Strickmuster eng umschlangen.

Verwundert las er weiter:

Darum möchte ich Sie bitten, morgen um 17 Uhr zum alten Marktplatz zu kommen. Und bringen Sie doch wieder etwas von dieser leckeren Fleischwurst mit!

Hochachtungsvoll, G.

  

Abendmahl

Als Klotz am nächsten Tag die Tür öffnete, schüttete es derart, dass er auf dem Absatz kehrt machte, in den Keller ging und seine Gummistiefel holte. Sorgfältig faltete er seinen Hosenaufschlag zusammen, schlüpfte hinein und verschnürte das Bändchen mit einer Doppelschleife. Nasse Füße wären jetzt das Letzte, was er gebrauchen könnte. Dann zog er seinen schweren Dufflecoat an, steckte den Brief in eine Tasche und stülpte sich, bevor er hinaustrat, die Kapuze bis über die Nase. Trotzdem lief ihm das Wasser bereits an der Gartenpforte den Nacken hinunter bis in die Unterhose. Aber er wäre nicht Klotz, wenn er noch einmal umdrehen würde, nur um einen Schirm zu holen oder sich die Anglerhose anzuziehen. Außerdem wollte er sich nicht verspäten, denn er war insgeheim schon ein bisschen neugierig, was die gestrigen, verwirrten Zeilen bedeuten sollten.

Also ging er ungeachtet aller Widrigkeiten zum Metzger und kaufte einen ganzen Kringel Fleischwurst.

Exakt auf die Sekunde um 17.00 Uhr stellte sich Klotz genau in die Mitte des Marktplatzes, das Wetter kotzte sich inzwischen richtig aus. Vom Regen gepeitscht und vom Wind durchgeschüttelt drehte er sich, den suchenden Blick umherschweifend, einmal im Kreis. Doch außer ihm war weit und breit niemand zu sehen. Jeder, der noch ein Fünkchen Verstand besaß, hatte längst die Flucht ergriffen oder irgendwo unter einer Brücke Deckung bezogen.

Nur Klotz stand dort wie gemeißelt eine viertel Stunde lang, den Brief in der einen, die Wurst in der anderen Hand.

Dann zog er die Pelle ab, biss hinein und ging wieder heim.

Das Leben ist eine Parkbank, dachte er, hart und beschissen.

 

 Prost Leben oder: Gesundheit!

Zu Hause angekommen quälte sich Klotz aus den gluckernden Stiefeln, wrang seine Socken aus und ließ sich ein Bad ein, als es an der Tür klingelte.

»Falsche Zeit, falscher Ort«, murmelte er, maß eineinhalb Kappen Schaumbad ab und schüttete sie in den Wasserstrahl. Sofort entstanden weiße, weiche Knisterberge, die sich schnell bis zum Wannenrand auftürmten. Dann legte er ein Handtuch über den Heizkörper, überprüfte gewissenhaft die Temperatur mit einem Thermometer, mischte noch ein wenig Heißes dazu und zog sich aus.

Es klingelte wieder.

Klotz schaltete ungerührt das Radio ein und stieg zunächst mit einem Zeh ganz vorsichtig in die Wanne.

Es klopfte.

Nun wurde Klotz doch nervös, schließlich erforderte diese Prozedur ein Höchstmaß an Konzentration. Kletterte er zu hastig hinein, könnte er sich leicht verbrühen. Dauerte sie hingegen zu lange, bestand die Gefahr, dass die Schaumdecke zusammenfiel und er von vorne beginnen müsste. Es stand also viel auf dem Spiel.

»Ich bin nicht da!«, rief er unwirsch, stellte auch den zweiten Fuß hinein und lauschte. Kaum dachte er, er hätte die bösen Geister tatsächlich mit diesem einfachen Bauerntrick verscheucht, als plötzlich ein milchig-verzerrtes Gesicht am Badezimmerfenster erschien und noch einmal klopfte.

Der nackte Klotz erschrak, taumelte, rutschte, spritzte, ruderte, wankte und schwankte, ächzte, stöhnte, schaukelte und packte im letzten Moment den rettenden Wannengriff.

Dann blickte er unter sich: Die schöne Schaumdecke war völlig zerrissen! Nur noch einzelne, lose Schollen trieben lustlos umher.

»Herr Klotz, ich hatte vor lauter Aufregung doch tatsächlich den Feigensenf vergessen und bin schnell zurückgegangen. Nur deshalb habe mich verspätet! Verzeihen Sie mir?«

Und da geschah es:

Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Klotz auf. Es kribbelte, es kitzelte, es berauschte ihn in einer Art und Weise, die er gar nicht kannte und vor der ihn seine Mutter immer gewarnt hatte.

Aber vielleicht hatte er sich auch bloß erkältet? Man hörte ja so viel!