Zwischenstop

Mein literarisches Ich macht nun zunächst einmal eine kleine Pause. Nach vielen leichten, aber auch vielen verzweifelten Buchseiten lege ich nun die Füße hoch und mache mir ein Bier auf. Es fühlt sich gut an, wie nach langer Fahrt am Urlaubsort anzukommen und endlich die Spannung und Konzentration loszulassen und zu verschnaufen.
Vielleicht packe ich nach dem Essen das Auto aus und trage die Koffer aufs Zimmer oder erst am nächsten Morgen. Vielleicht ist es schöner, jetzt eine Weile am Meer zu stehen und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen, solange es noch hell ist.
Es gibt kein Programm für heute Abend, nur das, was ich daraus mache.
Ich kann eine neue Geschichte schreiben, das Blinken des Leuchtturmes zählen oder ich gehe mit Murat einfach einen Döner essen.

Endlich

Wenn ich endlich einmal Zeit habe, dann bestelle ich beim Bofostmann Pferdelasagne, lasse ihn anschließend Sturm klingeln und beschmeiße ihn vom Balkon aus mit Eiswürfeln.
Ich poste im Namen meines Nachbarn eine Freibierparty auf facebook, filme das bunte Treiben und die brennenden Autos und stelle alles wieder ins Netz.
Ich rufe bei Domian auf 1LIVE an und erzähle von meinen Phantasien, mit Angela Merkel zu schlafen.
Ich schneide mir die Fußnägel, schicke die morschen Sicheln ans pathologische Institut und verlange Lösegeld.
Ich beschmiere meine Fenster mit Dreck und bewerbe mich bei Tine Wittler.
Ich tanze nackt auf dem First meines Hauses und singe laut: „Das sind nicht 20 Zentimeter!“
Ich konditioniere meinen Psychiater auf m und m’s und läute solange mit der Glocke, bis er hechelt.

Aber wenn ich erst entlassen werde, dann …

Wenn jetzt Sommer wär‘

Warm und weich liegt die Luft über der Stadt, die Sonne lacht schon den ganzen Tag. Erschöpft steige ich aus dem Auto und da packt es mich. Es weht durch die Gärten und Gassen, mischt sich mit dem stillen Duft von frischen Rasenschnitt. Überall steigen Funken glühender Grillkohle empor und Würstchenzangen klappern. Der Speichel in meinem Mund beginnt zu knistern, grüngelber Senf beißt mich in die Nase, Gerbsäure rinnt durch meine Kehle zu einem Straßenfest der Sinne. Das Leben spielt Soul und ich tanze auf dem Tisch.

PS: Es liegt immer noch Schnee draußen, noch weit und breit kein Sommer in Sicht.

Sturm in der Brandung

Der Jever- Mann
Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall und schaue hinein. Aber Klopf ist nirgends zu sehen. Vorsichtig hebe ich das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig zur Seite. Glück gehabt, er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack, er tut so, als merke er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa hupt schon und fächert mit den Armen. „Wo warst du denn noch?“, will er prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Schon brausen wir los.
Nach zähen und unendlichen Stunden auf der Autobahn, einem Dutzend Fünf Freunde- CDs und ebenso vielen Nutellabrötchen kommen wir endlich am Fähranleger in Rømø an. Seit vor ein paar Jahren ein Sturm einen Laster vom Sylt- Shuttle gepustet hat, fahren wir immer über Dänemark auf unsere Urlaubsinsel. Papa ist da abergläubisch, „wer einen Laster umschmeißt“, sagt er immer, „der macht auch vor einer E- Klasse nicht halt.“
Wir sind spät dran diesmal und der Kapitän trötet bereits dreimal, als Papa endlich die Tickets in der Hand hat und wir auf den Autokutter fahren können. Im Internet zu buchen ist auch nicht so seine Sache. Auf dem völlig überfüllten Deck quetschen wir uns zwischen Fahrräder und Kinderwagen auf eine hölzerne Backskiste. Der Wind pfeift uns um die Ohren und die Abendsonne lächelt müde. Dann brummen die schweren Dieselmotoren los. Das Schiff vibriert wie eine alte Waschmaschine, dunkler Rauch steigt empor, die Möwen stieben von den schiefen Birken im Fahrwasser auf und hoffen auf einen Bissen.
Ich schaue meinen Bruder an, er nickt und schon wuseln wir durch Wolfstatzen- Jacken, Fleece- Pullovern, Softshell- Westen zum Bug. Doch ausgerechnet dort feiern die Kicker vom Team Sylt lautstark das Erreichen des Achtelfinales beim Dana- Cup in Nord- Jütland mit Koffein haltigen Kaltgetränken, Fassbrause und Eistee. Kurzerhand machen wir kehrt und schlängeln uns zum Heck mit den riesigen Propellern. Wir packen unsere Toggo- Lutscher aus und spucken ins aufgeschäumte Wasser. Papa ist sitzengeblieben und muss auf unsere Sachen aufpassen.
Am Inselhafen List fallen mir die Augen zu. Ich träume von Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Erst als Papa mich zudeckt und mir einen Gute- Nacht- Kuss gibt, blinzele ich ihn schlaftrunken an. „Wo sind wir?“, will ich wissen. „Da, wo der Klabautermann auf Kaperfahrt geht“, sagt er lieb. Dann schlafe ich wieder ein. Papa geht zurück ins Wohnzimmer und fällt um wie der Jever- Mann.

Faltiger Autist
Am nächsten Morgen wache ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Endlich kann ich mich um Klopf kümmern. Vorsichtig hole ich ihn aus meinem Rucksack und schaue ihn an. Er scheint noch zu schlafen. Manchmal denke ich, er könnte mich verstehen, wenn er mich anschaut und seinen faltigen Hals reckt. Dann erzähle ich ihm, wie ich einmal das Feuerwehrauto von meinem Bruder im Sand verbuddelt habe, weil ich so eins auch gerne hätte. Oder wie ich Lauf, seinem Hamster, die Füßchen mit Tesafilm umwickelt habe, weil er schneller war als Klopf. Oder dass ich mir kurz vorm Einschlafen heimlich die Bettdecke in den Schlafanzug stopfe, damit ich morgens nicht nass bin. Sonst dürfte ich Klopf nicht behalten, hat Papa gesagt. Dann nickt Klopf immer und gibt mir Recht. Er ist auch der einzige, der weiß, dass ich gerne Leuchtturmwärter werden möchte. So wie Herr Tur Tur auf Lummerland. Das muss schön sein, abends einmal die Wendeltreppe raufsteigen, die Petroleumlampe anzünden und morgens wieder löschen. Keine Nacht darf es ausbleiben, meinen fünften Geburtstag nicht, nicht Weihnachten, und nicht freitags, wenn die Schmutzfrau kommt. Ich muss immer da hoch. Mit Einbruch der Dunkelheit muss das Licht brennen. Es ist eine wichtige Aufgabe. Klopf versteht mich. Papa nennt ihn manchmal faltiger Autist. Ich weiß nicht, was das ist.
Nach dem Frühstück geht Papa mit uns in einen kleinen Laden in der Friedrichstraße. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Spielzeug zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er wieder, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller! Boah, ich habe echt keine Lust mehr und zeige auf mein T- Shirt. I’m the boss steht da. Das zählt nicht, erklärt Papa mir, Papa sei mehr als Chef. Dann will ich doch lieber Leuchtturmwärter werden. Oder faltiger Autist.

Wir lieben die Stürme
Der Wind kurvt mit uns im Slalom um jeden Poller, jeden Anker und jede Boje herum. Er taumelt über rot geklinkerte Wege, braust an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, saust mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und mit uns an Papas Hand wieder hinauf. Auf dem Sandgipfel bleiben wir stehen und staunen: Groß, weit und dunkel erstreckt sich der graue Riese bis zum Horizont. Grollend wirft er seine kalten Arme ans Ufer, als sei er nie weg gewesen. Sein eisiger Atem fegt feuchte Gischt wie eine Horde aufgescheuchter Krabben beim Schulausflug vor sich her, schmeißt Standkörbe um und drückt dicke Kinder die Rutsche wieder hoch. Volleyballnetze stehen steif in der eisigen Brise wie schwer gefüllte Reusen, Klaffmuscheln graben sich tiefer in den Sand. Mein Käppi reißt sich los wie ein wild gewordenes Seeungeheuer, scheucht Thalasso- Wanderer vor sich her und sprengt eine Gruppe Qigong- Tänzer im Dünengras auseinander.
Benommen stolpern wir in die Villa Kunterbunt zum Piratentag. Laut brüllend entern wir die Welt, lotsen unser Boot durch gefährliche Untiefen und an Monster- Riffen vorbei. Wir schießen mit Korken- Kanonen auf Kokosnüsse, schruppen das Deck und pumpen Wasser aus den Kajüten. Wir überstehen die Pest und Skorbut, verlieren dabei alle Zähne und ein Bein. Wir jagen Ratten von Bord, Wale im tiefen Meer und heben auf einer einsamen Insel einen großen Schatz.
Erst bei Sonnenuntergang laufen wir wieder in unseren Hafen ein. In der Kombüse gibt es salziges Pökelfleisch und faules Wasser. Der leuchtende Zyklop blinzelt uns aufmunternd zu. Der Sturm hat sich gelegt.

Du bist nicht mehr mein Freund!
“Matschpatsch” macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Mit dem Plattmacher klopfe ich die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Aber der Stinkstiefel will meinen Kescher dafür haben. „Ich bin nicht mehr dein Freund“, brülle ich, trampele meine Burg selbst kaputt und marschiere los. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. In meinen Eimer sammle ich Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen, er ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Wasser und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel! Mein Bruder wird staunen.

PS: Es handelt es sich hierbei um ältere, überarbeitete Beiträge, sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen.

Deutsche far niente

Manchmal wünsche ich mir, im betreuten Wohnen zu leben. Oder wenigstens im Heim. Die Miete würde irgendein Amt bezahlen müssen, weil ich mein Geld rechtzeitig versoffen hätte.
Ich bekäme regelmäßig Mahlzeiten, ohne mich selber drum kümmern zu müssen. Ich säße den ganzen Tag vorm sonnigen Fenster, bohre in der Nase oder esse Chips und trinke Cola im Bett. Morgens putzen hübsche Pflegepraktikantinnen meine Zähne und waschen mich unten rum mit warmen Wasser und bloßen Händen, während ich auf ihre jungen steifen Brüste starre. Mittags pfurze ich in das frisch gemachte Bett. Sonntags bekomme ich Besuch, Weinbrandpralinen und die Autobild. Dann schicke ich das Pack wieder weg und gucke stundenlang Al Bundy, Raumschiff Enterprise und Tutti- Frutti, ich liebe Erdbeeren. Zur Nachtruhe drehe ich das Radio bis zum Anschlag auf und singe „Dicke“ von Westernhagen. Wenn ich Durst habe, klingele ich nach der Schwester und lasse ich mir meine Tropfen geben. Die Welt ist bunt und schön!

Dreckstage

Manchmal geht es mir richtig gut. Dann läuft die Welt rund und nichts wirft mich aus der Bahn. Der Tag ist hell und warm, die Menschen, denen ich begegne, grüßen mich freundlich. Das Radio spielt Herrenmagazin und ich bin mit der rechten Spur auf der Autobahn zufrieden. Ich pfeife La Paloma an der gelben Ampel, der Basilikum blüht und die Waschküche steht still. Der Papst macht Mittagsschlaf und die deutsche Bank zahlt eine Rekorddividende aus.

Doch manchmal schlingert mein Gemütsglobus wie Bischöfin Käßmann durch Hannover. Dann schmeißt mir das Leben Zitronen ans Fenster und zieht mich an den Haaren. Der Rasen wächst in einer Nacht bis unter die Achseln, das Sommergewitter schwimmt im Cabriolet und das Klopapier ist alle. Das ist sicher kein literarischer Moment, das ist scheiße.

Stockdunkster

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7), Übergangsbinde (Kapitel 8) und Strafstoß (Kapitel 9)

Erst weit nach Mitternacht kommen wir wieder zu Hause an. Murat hat sich zweimal verfahren, der alte Saftsack, er hat eine Orientierung wie eine Grubenlampe. Ich habe mich zweimal übergeben, ich glaube, die Bratwurst ist mir auf den Magen geschlagen. Müde falle ich in mein Bett und krieche unter die Decke. Ich erschrecke, als sich meine eisigen Füße berühren. Sofort krümme ich mich in Embryonalhaltung und schlage mir dabei die Knie unter das zitternde Kinn. Im limbischen System schwappen Endorphine über, Blutdruck und Herzfrequenz sinken impulsiv und reißen mein Bewusstsein mit sich, nur noch die Notstromaggregate laufen. Ich falle in einen wirren und kalten Schlaf, mein Atem rasselt unruhig, meine Pupillen huschen hinter den Lidern hin und her.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kopf zwischen den Schultern eingeklemmt, warte ich an der Haltestelle auf den Bus, der schon seit zwei Stunden überfällig ist. Es ist stockdunkster, nur wenige Autos sind unterwegs. Ich trete von einem Bein aufs andere und fixiere die Kreuzung, aus der er kommen soll. Das winterliche Treiben setzt eben zum Gnadenstoß an, als der Dolmus endlich um die Ecke biegt. Er blendet kurz auf, donnert durch den Schneematsch an mir vorbei und hält etwa 100 m weiter auf dem Seitenstreifen. Verblüfft bleibe ich einige Sekunden wie angewurzelt stehen, stake dann steif den blinkenden, orangenen Lichtern hinterher. Schon am Heck klopfe ich stürmisch auf das Blech, durch die vereisten Scheiben fällt warmes Licht nach draußen. In Höhe der ersten Tür halte ich an und spähe erschöpft hinein. Murat sitzt am Steuer, ich kann ihn gut erkennen trotz seiner Uniform. Er schaltet den Motor aus, die Zielrichtungsanzeige zeigt jetzt Pause. Baff stehe ich da und trommele gegen das Siliciumdioxid, doch der Eingang bleibt vernagelt wie der gegnerische Strafraum für Arminia Bielefeld. Der Osmane schaut auf, zeigt auf seine Taucheruhr und hebt dann beide Hände mit allen ausgestreckten Fingern. Zehn Minuten später bin ich steif gefroren wie ein Eistaucher im Baikalsee. Als die Tür sich endlich öffnet, nestele ich mit klammen Fingern nach meinem Portemonnaie, kaufe mir ein Ticket und taumele zu dem letzten freien Platz. Ein junges Mädchen faltet ihre Beine über einander, ich krieche ans Fenster. Sie schaut mich an und lächelt, ein Hauch von Tosca steigt in meine Nase. Irritiert greife ich in meine Manteltasche, ziehe ein Rauchendchen heraus und beiße ab. Dann geht die Reise los, wie ein Silberfisch gleiten wir durch die Nacht, die Scheibenwischer kratzen dicke Flocken zur Seite und geben den Blick frei in die schwarze Unendlichkeit. Ein dumpfer Knall zerschneidet mit einem Mal das Brummen des Motors, der Bus bremst abrupt und kommt mitten auf dem Zebrastreifen zum Stehen. Tosca rutscht auf ihrem Sitz näher an mich heran, um besser sehen zu können. “Scheiße, scheiße, scheiße”, höre ich Murat sagen. Kurze Zeit später öffnet er mit einem Zischen die vordere Luke und steigt hinaus. Stimmenfetzen wehen herüber, groteske Schatten spielen Fangen, als ein weiterer dumpfer Knall durch die Nacht hallt. Dann ist Ruhe. Endlich tritt der Kutscher mit lautem Poltern und Stampfen wieder ein. In der einen Hand hält er einen toten Schneemann, in der anderen eine doppelläufige Flinte. Der Wind hat aufgehört zu wehen und die Schneeflocken verharren regungslos in der Luft.

Durch einen Spalt in der Tür schiebt sich ein größer werdender Lichtkeil in mein Zimmer. Ich halte den Atem an und kneife die Augen zusammen. Es raschelt und murmelt, dann fällt der Schnappriegel wieder ins Schloss. Die Bratwurst in meinem Magen dreht sich noch einmal um.

Es kommt hier noch schlimmer!

Strafstoß

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6), Gesichtsyoga (Kapitel 7) und Übergangsbinde (Kapitel 8)

Ich sitze in der offenen Beifahrertür und rauche, meine nackten Füße spielen mit dem Gras. Das Ticken des Warnblinkers und das Zirpen der Grillen auf den Feldern sind die einzigen Geräusche, die durch die Stille schleichen. Schon vor zwei Stunden habe ich Murat losgeschickt, von irgend woher ein paar Liter Diesel zu besorgen, damit ich noch rechtzeitig zum Sonntagsspiel zurück bin. Ich drücke die Kippe zu den anderen Knickwinkeln in den großen Porzellanascher, den ich auf das Armaturenbrett gestellt habe. Mein Blick fällt auf die Uhr, die Partie wird bald angepfiffen und Murat ist immer noch nicht wieder da. Was macht der bloß?! Der kann was erleben! Nervös drehe ich am Autoradio, Uli Zwetz berichtet bereits live. Ich brülle die Mannschaftsaufstellung mit, Spucketropfen klatschen von innen an die Windschutzscheibe. Mit zitternden Fingern fische ich die letzte Zigarette aus der Packung, zünde sie mir an, nehme einen großen Schluck aus dem Regal, hänge meinen Schal aus der Tür und singe lauthals die Hymne mit. Plötzlich schaudert es mich und ich denke an die Zeit zurück, als das Stadion noch liebevoll „Alm“ hieß, eine Bretterbude und zugleich eine Festung war und keine Glas- Arena. Der Ball war aus echtem Leder und die Bratwurst groß wie ein Unterarm. Murat und ich kickten oft mit seinem abgewetzten Tango Rosario auf der Straße, ein knarrendes Saba- Radio stand im offenen Fenster und brüllte in unregelmäßigen Abständen „Tor, Tor, Tor“. Die größte und unvergessene Legende aber geschah an einem verregneten März- Samstag, als die arroganten Krachledernen dahoam mit 4:0 untergingen. Ich stand mit Pickeln und Arbeitshandschuhen im Gartentor und habe vor Freude geweint. Vom Pfandgeld aus Opas Keller habe ich mir heimlich die nächste Eintrittskarte gekauft und stand fortan zu jedem Heimspiel auf der Tribüne, habe gejubelt und geschimpft, gestaunt und geflucht wie ein Großer. Am Ende der Saison sind wir trotzdem abgestiegen. Mich aber hatte eine Leidenschaft gepackt, die mich nicht mehr losgelassen hat. Und ausgerechnet heute geht es gegen die Unaussprechlichen aus Telgte- West. Genau deswegen sollte ich auch jetzt auf den vertrauten Betonstufen stehen und meine Mannschaft anfeuern, so lange sie noch auf Gras spielt. Es geht zwar um nix mehr, aber mein Herzblut ist immer noch blau.
Gespannt sauge ich jedes Wort auf, das aus den Boxen klingt. Die Atmosphäre schwappt zu mir herüber und ich hüpfe im Auto, weil ich kein Preuße bin, die Winkekatze überm Tacho spielt verrückt. Noch ein Schluck der schottischen Malzbrause. Der Schiri pfeift grade einen Elfmeter, als ich Murat im Rückspiegel zurückkriechen sehe. Schnell suche ich den Deutschlandfunk mit irgendeinem klassischen Kammerkonzert und ratsche mit den Fingern gelangweilt über das Lüftungsgitter.

Murat sagt kein Wort, als er einen verbeulten Blechtrichter in den Tankstutzen hängt und aus einem schwarzen Gülleeimer selbst gepresstes Rapsöl nachgießt.
„Hast du Zigaretten mit gebracht?“, frage ich giftig.
Er schießt die leere Plaste wütend aufs Feld, „nein“, knurrt er. „Was hörst du denn da eigentlich für einen Rotz?“, will er wissen, „läuft heute nicht Fußball?“
„Warum sagst du das nicht gleich“, kreische ich empört und suche einen anderen Sender. „Alles muss ich selber machen“, sage ich und zeige ihm bedauernd die Flasche, „außer fahren!“

Ich kann es nicht lassen! Hier treibt mich der nächste Wahnsinn!

Übergangsbinde

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6) und Gesichtsyoga (Kapitel 7)

Es dämmert schon, als wir schweigend zurück fahren. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Längst glaubte ich, Ayse vergessen zu haben. Zumindest wollte ich das so, seit ich sie im letzten Herbst einmal an der Kasse im dm- Markt getroffen habe. Wir haben lange süß geplaudert, bis ich bemerkte, dass sie eine große Packung Kondome mit Fruchtgeschmack und ein Döschen Kieselsäuretabletten auf das Band legte. Ab da war es mit der Träumerei aus und vorbei, vergessen und verloren. Nie wieder. Ich brachte keinen Ton mehr heraus und knallte stumm den Trennstab hinter ihre Lustartikel. Verzweifelt griff ich nach einem Karton Slipeinlagen aus dem Sonderangebot und legte es zu meinen Nasenhaarschneider, der Zahnseide und der Anti- Grau- Tönung. Ohne auf mein Wechselgeld zu warten, verließ ich den Ort der trügerischen Eitelkeiten. Aber jetzt merke ich, dass Ayse mir doch wieder durch den Sinn huscht. Tausend kleine schillernde Momente fallen mir ein. Wie ihre dunklen Augen funkeln, ihr Lachen strahlt oder sie ihre langen Haare zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand zwirbelt. Ich denke an die kleinen Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lacht. Die Luft flimmert zart und ihre Nasenflügeln vibrieren ganz sanft, wenn sie spricht. Ich blicke zu Murat und muss husten. Er raucht schon die dritte steuerfreie Tabakfackel, die er Stangenweise von Renzo kauft. Das Zeug qualmt wie ein isländischer Vulkan, die Sicht ist schlecht. Plötzlich taucht dicht vor uns eine riesige Gemüsepfanne in dem Nebel auf. Murat stampft mit beiden Galoschen auf das Bremspedal, reißt hupend das Lenkrad herum und flucht wie ein betrogener, arabischer Kamelhändler. Dann prügelt er ohne zu kuppeln knatschend den zweiten Gang rein und treibt unsere Droschke auf der linken Spur Zentimeter für Zentimeter an den Tiefkühlwagen heran. Aug in Aug mit dem Bofrostmann rauscht er an unserer Ausfahrt vorbei. Ich wische die Scheibe frei.

Über eine schier endlose Landstraße fahren wir nun durch dichten Nebel. Ich suche nach Lichtpunkten in der Dunkelheit, doch selbst die Scheinwerferkegel unseres Rapids werden nach etwa zwei Metern unbarmherzig wie von einem riesigen, schwarzen Maul verschluckt. Die Tankanzeige ist schon lange im zweiten Untergeschoss angekommen und blinkt hektisch. Die Chance, lebend gefunden zu werden, wenn uns jetzt der Sprit ausginge, gleicht einer homöopathischen Hochpotenz. Ich taste nach dem Reservekanister hinter meinem Sitz, um festzustellen, dass ich ihn im Heizungskeller vergessen habe. Nervös hält Murat auf einer kleinen Anhöhe an. Ich drehe das Radio stumm, gehe nach hinten, setze mich auf die Laderaumkante und lausche Minuten lang mit spitzen Ohren der Finsternis. Hier und da glaube ich, etwas zu hören, aber es ist zu weit entfernt um herauszufinden, was es ist. Mit einem Mal werden die Geräusche lauter. Es ist, als habe jemand eine Tür geöffnet. Schweres, dumpfes Grollen wabert zu uns herüber. Dann erkenne ich den Rhythmus: Es ist Smoke on the water von Deep Purple! Ich peile den Kurs der Musik an, aber das ist hoffnungslos unter diesen Bedingungen. Vorsichtig lässt Murat den Wagen den Hügel hinunter rollen, es gibt eh nur zwei Richtungen: Die, aus der wir gekommen sind und die, in die wir fahren. Wie beim Blinde Kuh- Spiel tapsen wir voran, der lauter werdenden Musik entgegen. Nach endlosen Minuten, die langsam wie Adventssonntage im Nieselregen verrinnen, biegen wir auf einen Schotterparkplatz ein und stellen den Wagen ab. An einem Gebäude flackert im staubigen Fenster blass- grau ein Open– Schild, Fetzen von Child of vision wehen uns entgegen. Wir gehen hinüber, öffnen die Tür und betreten einen zum Bersten gefüllten Wirtsraum. Dichte Rauchschwaden schlagen uns entgegen. Wir schieben uns durch das Menschengetümmel, quetschen uns nahe der Theke zwischen tump dreinblickende Treckerköpfe und blicken uns stumm um. Tropfkerzen verhüllen Flaschen mit grotesken Mänteln, Kunstblumen blühen wie frisch verliebt und Häkeldeckchen auf den verharzten Tischen erstrahlen in Persilweiß. Graue Greise gehen hüftsteif die steilen Stufen zu den moosgrün gefliesten Toiletten hinab und kommen als windelnasse Jungspunde wieder herauf. Es wirkt, als seien die, die noch Frittenfett im Tank ihres Strich- 8er hatten, heute Abend in die Stadt gefahren. Alle anderen sind noch hier: der Horn bebrillte Bürgermeister in Cordhose, der blasse Vorsitzende der Taubenzüchter, der pralle Schatzmeister vom Kaninchenzuchtverein „Deutsche Riesen“, die gesamte örtliche Bewegungssportgruppe -Abteilung Ausdruckstanz- und die aktive Frauengemeinschaft von den Weight Watchers. Erinnerungen an den wild gewordenen Mob auf der Messe werden in mir wach. Auf einer kleinen Bühne spielt eine Band guten, alten Rock. Und wir mittendrin.

„Was trinkt ihr?“, fragt uns eine blondierte Zapfhenne hinter dem Tresen, die nach Tosca riecht. „Ein Guinness“, schreie ich durch den Bassdschungel. „Was ist das denn? Das kenne ich nicht!“ „Dann bring mir ein Pils. Habt ihr das?“ Ich warte nur noch darauf, ein Wicküler zu bekommen und in DM bezahlen zu können. Kurze Zeit später stellt sie mir einen großen Glashumpen auf den Tisch und für Murat ein Wasser, er muss ja noch fahren. Sie macht ein X und ein U auf den Deckel. „Habt ihr auch was zu essen?“, frage ich sie. „Da musst du hinten raus, da wird gegrillt!“ Draußen ist nicht viel los, eine Frau in weißer Kittelschürze hinter einer Biergartengarnitur dreht grade Würstchen und riesige Fleischlaken um. Ich bestelle eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. „Hausgemacht“, wie sie extra betont. Bei der  Portion, die ich bekomme, hätten selbst alle Hunde aus dem Tierasyl noch mitessen können und wären satt geworden. Mit einem Wagenrad großen Teller gehe ich wieder hinein. Murat ist eingeschlafen, die Band spielt Dr. House is dead und ich frage mich, ob er an der Portion gestorben ist oder ob er hier vor Ort erschossen wurde, weil er nicht aufaß? Ich nehme grade den letzten Schluck von meiner obergärigen Kaltschale, als mir Tosca schon das nächste Einmachglas vor die Nase setzt.

Am nächsten Mittag bricht die Sonne grell durch die Ritzen der Jalousien und zeichnet Streifenmuster auf die vergilbte Blumentapete der Wirtsschänke. Ich schäle mein schmerzendes Knautschgesicht von der klebrigen Tischplatte und blicke auf. Anscheinend hat die Party gestern noch lange getobt. Überall liegen umgeworfene Stühle herum und leere Flaschen rollen über den Boden. Im Humpen vor meiner Nase ist eine Pferdebremse ertrunken, auf meinem Deckel stehen jetzt fünf X und ein U. Durch die offene Tür sehe ich die Metzgersgattin auf der Terrasse den Grill schruppen. Ich stoße Murat an, der mit einem Ohr im Kartoffelsalat auf meinem Teller liegt. „He“, rufe ich entrüstet, „wer soll das denn noch essen?“ Die Fleischersfrau schaut misstrauisch herüber, schnappt sich einen Reisigbesen und marschiert entschlossen auf uns zu. Schnell schiebe ich Murat den Deckel unter die Nase, „zahl du schon mal, ich warte am Auto auf dich!“ Grade als ich mich draußen an einer Konifere vorm Eingang erleichtere, stürmt Murat heraus. Die eine Hand umklammert eine verstaubte Flasche Chivas Regal, die ich eben noch hinter der Theke glaubte gesehen zu haben, und die andere einen original Atika- Aschenbecher, mit dem er den ganzen Abend geliebäugelt hat. Meine Augen leuchten. Schweren Schrittes trommelt die geprellte Kittelschürze hinter ihm her, ihr Atem rasselt wie Hui Buh in Ketten. „Schnell“, ruft er, „der letzte Bus fährt!“ Mühsam verstaue ich mein Gemächt, wische mir die Hände an der öligen Hose ab und springe auf den Beifahrersitz, als auch schon der Feudel gegen die Hecktür donnert.
Der Motor heult auf, der Donnerbesen faucht, wirbelnde Kiesel prasseln gegen die hölzerne Fassade des Saloons, dann schwänzelt der Rapid vom Hof. „Gib mir fünf“, sagt Murat. Und die kriegt er, als nach 100 Metern auch der letzte Tropfen Diesel aufgebraucht ist.

Was geschieht dann? Werden wir entkommen? Lest hier weiter!

Gesichtsyoga

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5) und Gleicheitrige (Kapitel 6)

Noch am gleichen Abend stelle ich Murat meine neue Geschäftsidee vor und zeige ihm meine Notizen in der Chinakladde. Er ist sofort hellauf begeistert, meint aber, wir müssten diesmal „solider“ an die Sache herangehen. Großzügig lade ihn zu der Unternehmermesse ein, unter der Bedingung, dass er meinen Deckel bei Renzo bezahlt und den Laden auf Vordermann bringt. Schließlich hat er ja auch seine Kehrwoche nicht eingehalten. Er zieht eine Augenbraue hoch, schielt mich an wie Angela Merkel bei der Damenwahl, stimmt dann aber zu. Ein schlauer Kopf, mein Murat.
Am Samstag schließen wir das Geschäft schon mittags. An der Tankstelle kaufe ich noch ein Duftbäumchen und zwei Dosen Haake- Beck, während Murat volltankt und nach dem Öl schaut. Ich setze mich schon mal und suche im Radio die Vorberichtserstattung der Fußball- Bundesliga. Mit einer Packung Knistertabak und zwei Dosen Efes kommt Murat aus der Kassensauna zurück. Wir stoßen euphorisch auf unseren neuen Coup an und dieseln Richtung Autobahn los. Es ist stickig und die Fensterkurbeln drehen an beiden Türen einfach durch. Murat schwitzt hinterm Steuer, als sei Biblis A kurz vor der Endabschaltung doch noch geschmolzen. Ich biege den Ventilator ein Stück weiter zu mir. Den letzten Kilometer geht es nur noch Meterweise vorwärts, frustrierte Coffee to go- Becher säumen die Straße. Endlich rücken wir auf Platz Eins der Karawane der Parkwilligen vor, als Murat plötzlich seine Mokassins hart auf die Bremse haut. Der Wagen nickt tief vor einem Männchen in Warnweste und Sicherheitsschuhen ein, das Arm wedelnd vor unserem schnaubenden Kühlergrill steht. Ich pralle mit dem Kopf an die rotierende Windmaschine, die mir eine tiefe Blitznarbe in die Stirn schneidet und stoße einen unverzeihlichen Fluch aus. Grüne Lichtblitze sirren umher, prallen aber an der massiven Karosserie unseres Rapids ab. Der selbstständige Parkplatzeinweiser taumelt, tritt dann bleich an die Seitenscheibe und will schon einmal 5€ kassieren. Ich klopfe mein Testsieger- Shirt ab, zucke mit den Schultern und schaue Murat an. Er pflückt einen klammen Schein aus seiner Hosentasche, öffnet die Tür einen Spalt weit und reicht ihn hinaus. Ein kühler Windstoß schwappt herein. Das Parkticket könnten wir von der Steuer absetzen, ruft der Wegelagerer uns fröhlich zu. Ehe ich ihn mit dem Imperius- Fluch gefügig machen kann, gibt Murat auch schon wieder Gas und rauscht den Weg an den langen Messeblechhallen vorbei. Direkt vor dem Haupteingang quetscht er sich auf einen Frauenparkplatz zwischen zwei Twingos. Durch die großzügige Kofferraumtür stolzieren wir nach draußen. Die Sonne lacht uns zu, wir lachen uns an, umarmen uns und gehen unter bewunderten Blicken auf dem roten Teppich zum Portal. Auf einmal huscht Ayse an uns vorbei und verschwindet ebenso plötzlich im Getümmel. Mir stockt der Atem, zittrig nestele ich nach dem Einlassticket, reiche Murat seines und sprinte hinterher. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf falschen Wegen wandele und im Fluss der zeitgleichen Eventausstellung „Einfach Frau sein“ schwimme. Panisch versuche ich noch umzudrehen, doch ich werde vom immer dichter werdenden Strom mitgerissen in den Dschungel der pastell- farbenen Begehrlichkeiten von Schmuck, Parfüm, Dessous, Wellness und Fitness, Haartrends, Dekorieren, Urlaub, Essen und Trinken und Trennungsberatung. Die letzte Welle spuckt mich direkt in einen Pulk blondierter Perückenschafe und Beratungsopfer, die am Stand der Weight Watchers Flyer, Ernährungstipps und Punktetabellen studieren. Mitgeschleifte Ehemänner in Fußball- Trikots starren abseits an einem Bierstand auf einen winzigen Fernseher, auf dem das Livespiel um den Spitzenplatz grade angepfiffen wird. Ich erkenne Renzo und will ausscheren, kann aber keinen Halt finden und werde weiter ins Innere des Plüschtempels geschoben und auf einen mintblauen Stapelstuhl gedrückt. Die Vorsitzende des Anorexie- Verbandes „Rund war die Frau“, die einer Brausestange Konkurrenz machen könnte, hält einen Multimedia- Vortrag zum Thema „Ich esse meine Suppe nicht“ und projiziert ein verzerrtes, dünnes Kerlchen auf Wand und Decke. Diät-Assistentinnen mit der eingefrorenen Mimik eines Tauschbildes reichen grüne Tees und stille Wasser zu gedünstetem Rohkostschnitzel auf einem ungeschälten Wildreismantel. Ayse ist eh verschwunden, denke ich mir und mache ich mit den Händen ein tolles Schattenbild (ein Murmeltier!), bis ich mit Süßstoffwürfeln beworfen werde. Fluchend flüchte ich hinter einen Vorhang, als ein schriller Schrei das Gebet zerreißt und von den kalten Metallwänden jäh zurückgeworfen wird. Entsetzt drehe ich mich um und blicke in Ulla Popkens nackte Augen. Noch ehe ich sie zu ihrer Figur beglückwünschen kann, bekomme ich einen Seegraskorb um die Ohren geschlagen. Pröbchen, Rabattgutscheine, Traubenzucker, bedruckte Einkaufswagenchips, Feuerzeuge und Kugelschreiber purzeln wild umher. Es sieht aus wie in Wacken am dritten Tag des Open Air- Festivals. Der übergewichtige Modeirrtum jagt mich trampelnd aus dem Zelt. Erst am Ha-Ra- Stand kann ich sie abschütteln, indem ich mich durch ein Nest damenbärtiger doppelter X- Chromosomenträger in die erste Reihe drängele. Eine gefühlte Halbzeit später schleiche ich mit einem revolutionären neuen Putzsystem mehr und einem gefühlten Monatsverdienst weniger von dannen. Erschöpft lasse ich mich in einen Massage- Sessel fallen. Das schwarze Leder klebt schwer auf meinem durchschwitzten Shirt. Geschickt streife ich mit der Hacke meine Schuhe ab, werfe 5 Euro in den Automatenschlitz und massiere meinen geschundenen Kiefer. Ich schaue auf meine Uhr und will grade die Zwischenergebnisse auf meinem Handy abrufen, als mich vier stählerne Hände von hinten packen. Zwei stiernackige PEZ- Gesichter nicken mit offenen Mündern und schiefen Nasen zur Tür. Eine Traube geifernder Weiber umkreist mich schnell, klatscht in die Hände und skandiert synchron „Ausziehen!“ Ich denke an meine Popeye- Unterwäsche und lasse mich ohne Widerstand hinausbegleiten.
Draußen steht die Sonne schon tief, ein verführerischer Bratwurstduft liegt in der warmen Abendluft. Bargeldlos, barfuß und blinzelnd folge ich ihm über den Parkplatz, bis ich in der Ferne Murat erkenne, der quatschend mit Ayse auf der Ladekante von unserem Wagen sitzt. Ich schleiche mich geduckt an und versuche, mir mein Geld aus dem Handschuhfach zu angeln. Im Radio laufen die letzten Minuten des heutigen Spieltages, es geht in allen Stadien hin und her. Als die Bayern in der Nachspielzeit einen ungerechtfertigten Elfmeter geschenkt bekommen, schlage ich fluchend aufs Blech. Plötzlich tauchen neben mir irgendeine Drahtbürste von den Gewichtsguckern und die Hand geflochtene Picknicktasche aus der Umkleidekabine auf. Die beiden Tuppertanten steigen in ihren Twingo und brausen mit meiner Deckung davon. Im letzten Moment kann ich mich mit einem kühnen Sprung unter unseren Renault retten. Durch den Unterboden muss ich dumpf den Torjubel der sprachdefizitären Südstaatentruppe mit Migrationshintergrund hinnehmen und stoße mir fast den Kopf vor lauter Zorn. Dann stellt Murat, der Banause, noch vor dem Schlusspfiff auf einen türkischen Sender um und trällert verliebt mit Ayse Tarkan´s einzigen Hit. Jetzt stoße ich mir den Kopf. Auf ein Mal steht Murat wie ein Strauß da, schaut kopfüber durch seine Beine hindurch und sieht meine Füße unter der Stoßstange heraus ragen. Ich schäle mich unter dem Wagen hervor, „alles klar“, sage ich, wische mir die öligen Hände an der neuen Jeans ab, „der Zylinder ist wieder dicht! Wir können weiter! Pass aber diesmal besser auf!“ Murat schaut mich an wie ein Playmobil- Sultan und ein winziges Lächeln huscht über Ayse´s Gesicht.
Nächste Woche ist wieder Messe, diesmal „Mann sein“. Da gehe ich sicher hin, Gina Wild gibt Autogramme!

Doch vorher führt uns unser Weg noch hierhin

Gleicheitrige

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4) und Kassensturz (Kapitel 5)

Am nächsten Mittag will ich grade zum Imbiss rüber frühstücken, als das Telefon klingelt. Irgend so ein Muttibügler von meiner Bank bietet mir gleich am nächsten Morgen beim Filialleiter ein Gespräch „zur Überbrückung meines Finanzengpasses“ an. Als wenn ich nicht arbeiten müsste! Doch dafür hat der Kopfgeldjäger kein Verständnis und verweist mich spröde auf meinen Kontostand im vierstelligen Soll.

Tags drauf betrete ich in aller Herrgottsfrühe um 9.30 Uhr den Marmorpalast in der Innenstadt. Die Schlipsfressen und Kostümmäuse eilen emsig hin und her, holen Formulare aus Apothekerschränken, kopieren doppelseitige Diagramme, tippen Zahlenkarawanen in den Computer, schütteln mit dem Kopf und kritzeln Formeln auf einen Notizklotz. Weit und breit kein einziger Kunde zu sehen, da hätte ich auch im Laden bleiben können. Trotzdem dauert es geschlagene 15 Minuten, bis einer dieser Blattwender auf mich aufmerksam wird. Nach einem Umweg am Wasserspender vorbei steht er jetzt grinsend vor mir. Die Sakkoschwuchtel tackert zweimal mit dem Kugelschreiber und lässt ihn dann in der Brusttasche seines Nadelstreifenkittels verschwinden. Ich könnte ihm gleich eine reinhauen für so viel Arroganz. Mit einem lauten Knall lege ich ihm einen abgewetzten Jutebeutel auf den Mahagonitresen. „Vollmachen“, sage ich, „sonst fliegt dein GTI in die Luft!“ Mein Daumen spielt dabei nervös mit der Schlüssel- Fernbedienung von unserem Geschäftswagen. Der hobbylose Geldazubi glotzt mich mit großen Augen an, sein Fluchtkinn zittert dabei. Westerwelle dicke Pickel bilden sich auf seiner Stirn, platzen auf und drücken zähen Eiter aus zerfurchten Kratern. Ich grinse ihn an und zeige darauf, „das sollten Sie mal behandeln lassen! Das sieht scheiße aus!“ Mit schweiß nassen Pfoten betatscht er seine schüttere Haarlichtung. „Ich habe einen Termin mit eurem Herrn Ackermann, seine Zeit ist sicher auch Geld!“, setze ich meiner Forderung jetzt Nachdruck und scheuche ihn mit einer wischenden Handbewegung zu der Schuss sicheren Glastür im hinteren Teil des Tempels. Seine schwarzen Lackschühchen bewegen sich nur mühsam rückwärts, bis ich auf die Fernbedienung drücke und fröhlich „Peng!“ rufe. Dann drehen sie sich um und rennen. Keine zwei Minuten später sitze ich entspannt bei einem Kaffee an der Front. Der graue Finanzminister referiert etwas von nötigen Investitionen, Sicherheiten, aktuellem Zinsniveau, Renditen und Riestern. Seine goldene Uhr spiegelt das einfallende Sonnenlicht dabei wild durch den Raum, ich schaue neugierig hinterher. Als ich grade in meinen Muckefuck puste, bleibt mein verschwommener Blick an einem Bild an der Wand hängen. Oma Eusebia drischt grade mit ihrem Nudelholz auf den armen Lupo ein. Mir schießt mein alter Spitzname wieder durch den Sinn. Murat hat ihn mir gegeben, weil ich wie sie keiner Bank traute und mein Geld lieber in einem Sparstrumpf unter der Matratze aufbewahrte. Stattdessen war ich so doof, die Knete beim Hütchenspiel in Amsterdam zu verzocken. Ich könnte heute noch schwören, beschissen worden zu sein. „Depotumschichtung“ und „Hedgefonds“ brabbelt der Dukatenscheißer mit der gewichtigen Rolex durch den Park von Fuxholzen.

“Leihen?”, schreit Eusebia, “Dir? Nein, mein Lieber! Wenn du Geld haben willst, musst du es verdienen!” “Aber Oma, es ist doch nur, weil … Lupinchen hat Geburtstag!”, stammelt Lupo. Aber Oma Cholerika kennt kein Erbarmen und jagt ihren nixnutzen Enkel zum Haus heraus. Der arme Kerl will nur noch zurück in seinen Mäuseturm, springt in sein Auto und braust davon. Nichts wie weg!

Der Dukatenesel im Ledersessel mir gegenüber holt währenddessen zum alles entscheidenden Schlag aus, jetzt müssten wir das Griechenlandpaket fest schnüren. Als ich dem Währungskommissar unseren Renault Rapid als Sicherheit in Aussicht stelle, quasi als Schuldenbremse, schwillt ihm der Krawattenhals. Rot wie die erste Periode einer Novizin nestelt er an dem engen Knoten herum und röchelt nach Luft. Ich schnappe mir einen Flyer mit Freikarten für die Existenzgründermesse von seinem Glastisch, lege ihm meine Visitenkarte als Ersatz hin, gehe zur Tür und rufe die Drückerkolonne herbei.

Draußen am Imbiss wartet schon ein hellenisches Fleischfrühstück auf mich. Der Bofrostmann ist auch da und bestellt sich ein Wasser. Ich lade ihn ein, er hat mir mal das Leben gerettet.  Renzo schreibt alles auf meinen Deckel. Gut gelaunt fahre ich nach Hause. Das Radio spielt „Einfach sein“.

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Wortgeflecht

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2) und Strebergarten (Kapitel 3)

„Nun komm schon, du alter Schisser“, rufe ich Murat zu, „wovor hast du Angst? Da springt keiner raus und packt dich!“ Vorsichtig wie ein Fahranfänger tritt er Schritt für Schritt neben mich. „Buh!“, mache ich, noch ehe er einen Blick in das Fass werfen kann. Murat springt drei Meter rückwärts. Kreidebleich steht er im Türrahmen, sein verwaschenes „I love N Y“ – Shirt klebt klamm auf seiner Haut. Er starrt mich mit Melonen großen Augen an, als wäre ich ein 3 – Zentner- Blindgänger aus dem 2. Weltkrieg. „Na, dann muss ich eben alleine ….“, lache ich auf, halte dann aber inne. „Murat! Sche-Herz!“, rufe ich und halte harmlos meine Hände nach oben. Zögerlich tapst nach er vorne und lugt misstrauisch über den Beckenrand. Dumpf klappt sein Kinn nach unten, als er die bunten Plastikbausteine erblickt, kleine ekstatische Stromimpulse durchzucken seinen Körper. Begeistert greift er bis zu den Ellenbogen hinein, wühlt drin herum und schaufelt schließlich einen achter Leuchtstein nach oben. Sofort rennt er nach hinten und kramt laut in einer Klappkiste nach einer 4,5 Volt – Flachbatterie. Stolz, als habe das Osmanische Heer Wien doch noch eingenommen, kehrt er im Schein der mattgelben Soffitte zurück. „Sie brennt sogar noch“, sagt er mit breiter Brust, „weißt du noch, was wir damit alles gebaut haben?!“ „Na klar“, rufe ich glückselig zurück, „du hast den Stein als Scheinwerfer in mein Polizeiauto gebaut!“ Murat umschließt den Noppenquader sanft in der hohlen Faust und linst hinein, „willst du auch mal?“, fragt er. Vorsichtig blinzele ich durch den Spalt zwischen seinen Fingern, sie riechen nach Marlboro und Hammelfleisch. „Dann war er eines Tages weg, Mama hatte gesaugt“, sage ich mit erdrückter Stimme. Murat versteift, schaut verlegen zu Boden und lässt die Hand sinken. „Was ist?“, will ich wissen. „Weißt du, das war …“, stammelt er, „das war … nicht der Staubsauger. Ich habe ihn versteckt, weil ich auch einen haben wollte!“ Dann hält er mir den Lichtwürfel hin, „hier, er gehört dir!“ Ich blicke ihn an und muss ihn einfach umarmen, „komm, wir schauen, ob wir noch einen finden!“ Gemeinsam stoßen wir hinab bis zum Grund der hölzernen Trommel, rühren und rieseln winzige Einer, blaue Vierer und breite Achter, zerbrochene Fenster und Räder ohne Reifen und sogar einen noch selteneren fluoreszierenden Sechser empor. Schließlich schütten wir die ganze Litfasssäule aus und kramen fieberhaft herum. Dann materialisiert sich der Glimmblock überraschend wie von selbst aus den unendlichen Weiten der Legogalaxien. Ganz unerwartet liegt er da, als sei er nie weg gewesen. Ich jubele glucksend in mich hinein und Murat strahlt wie ein kleiner Junge am Weltspartag, dem ein greiser Filialleiter für seine gesammelten 47 Kupferstücke einen schielenden Plüschhasen überreicht. Vergnügt bauen wir unsere große Feuerwache mit Hubschrauberlandeplatz und Garage für den Notarztwagen nach den originalen Aufbauanleitungen von 1982 wieder auf. Beschwingt geht Murat zum Radio und schaltet es ein, Udo Jürgens steht im Neon hellen Treppenhaus. Keiner von beiden war schon einmal in New York. Dann, wie auf ein verabredetes Kommando, singen wir beide mit: „Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n!“ Schlagartig vermisse ich meinen Keinohrhasen und verstumme. Murat dreht das Radio leiser, zündet sich eine Zigarette an und bläst den teerhaltigen Fall- Out zur Decke, von wo sich der giftige Niederschlag langsam über uns senkt. Draußen dämmert es inzwischen, Nieselregen rinnt mäandernd die Schaufensterscheibe hinunter. Unten bildet er dicke Pfützen, die sich dann wie Lemminge vom Marmorsims stürzen. Jeder Tropfen reißt ein blutiges Stück aus meiner Leber. Unwillkürlich taste ich nach der Narbe auf meinem rechten Oberbauch. Mit dem Fingernagel spiele ich an der Borke und schaue schmerzverzerrt aus dem Fenster. Passanten huschen mit Schirmen von Dach zu Dach, in der Mitte des kleinen Platzes tritt der Brunnen über die Ufer. Ein altes Kaugummi taumelt in den Wogen. Der Regen nimmt zu, peitscht es wild umher und drückt es immer wieder komplett in die schlammige Brühe, bis die Springflut es mitreißt und in den Strom schleudert. Prustend und schnaubend taucht es nach bangen Sekunden wieder auf. Haltlos saust der Beißbrocken jetzt in einem wahnsinnigen Tempo dahin, überholt einen Kronkorken und einen durchweichten Aldi-Prospekt. Plötzlich ragt ein umgeknickter Ast gefährlich ins tosende Wasser, ein rechtsdrehender Strudel öffnet gierig seinen Schlund, Wellen türmen sich Zentimeter hoch auf. Mit der Verzweiflung eines zum Tode verurteilten Gefangenen gelingt es ihm in allerletzter Sekunde, sich an einer mitströmenden Pommesschale festzuklammern und an Bord zu klettern. Mit rasselndem Atem schaut das Schmatzstück in den schwarzen Himmel, Wolken huschen vorbei wie der Berufsverkehr auf der Hauptstraße. Erschöpft rutscht es an der bunten Kunststoffgabel herunter und landet in einem ranzigen Mayonnaiserest. Es hört das leise Gurgeln des herannahenden Gullys nicht.
Unerwartet schwillt das Gluckern zu einer donnernden Toilettenspülung an. Ein Wind bläst mir steif ins Gesicht, ich blicke mit dem Schrecken eines überraschten Liebhabers auf. Meine Gedanken zerplatzen wie Seifenblasen im Kinderzimmer, als ich Ayse in der offenen Tür stehen sehe. Sie hält eine völlig durchnässte Kuchenpappe in ihren Händen. Dicke Fäden tropfen ihr von ihrer Nase und aus den Haaren. Dann hält sie uns das Gebäckpaket entgegen, „alles Gute zur Eröffnung“, sagt sie, lächelt süß wie Paris Hilton in Gummistiefeln und ich kann gar nichts dagegen tun.

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Das Résumé für alle Frustrierten und Einarmigen, für Neurotiker und Vollpfosten

Oft ist ein Jahreswechsel Zeit für ein Résumé. Was hat mir das vergangene Jahr gebracht? Was habe ich erlebt, was ist ausgeblieben? Was hat sich erfüllt und was nicht?
Dabei ist das alles weitgehend wurscht. Es ist durch, die Gelegenheiten sind verpasst oder verronnen, der Drops ist gelutscht. Einzig die Blechdose im Auto erinnert noch an das zitronig- fruchtige Aroma. Jetzt kullert sie im Kofferraum umher oder klimpert im Handschuhfach bei jedem ostdeutschen Schlagloch. Die Werkstatt berechnet für das komische Klappern 365€ Euro plus Steuern und legt einen schweren Stein in die Dose.

Deshalb habe ich einen 5- Punkte- Plan ausgearbeitet. Die Reihenfolge ist nicht bindend. Nur sollte man sich dran halten.

1. Schmeiß den alten Ballast über Bord! Schmücke den Baum ab! Beziehe die Betten neu. Bringe den Müll raus. Tau den Kühlschrank ab. Mach so Platz für neue Erfahrungen und Pizza.

2. Halte dich an keine Diät, sondern schlemme am Leben. Diäten sind Genussarmut.

3. Beachte die Ignoranten nicht. Höre nicht auf die Stummen, sprich nicht mit den Tauben. Flieg nicht mit den Gänsen. Gackere nicht mit den Hühnern. Sei nur du selbst. Sei dein Freund und dein Vertrauter.

4. Umarme deine Zukunft. Erinnerungen sind schwere Anker, die Träume am Segeln hindern.

5. Nimm dir nichts vor! Lass dich überraschen. Live long and prosper! Jetzt!

Verkorkt

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1) und Space Invaders (Kapitel 2)

Baff stand ich da und grübelte. Ich versuchte, mich an besagten Abend zu erinnern, aber meine Synapsen waren noch verkorkt. Sie ließen keinen Gedanken an irgendetwas, das vor heute lag, zu. So sehr ich mich auch anstrengte, es war nur ein hohles Pfeifen und Sausen da, als bliese der Sensenmann sein Willkommenslied auf der Schalmei. Mir wurde heiß, Schweiß tropfte von meiner faltigen Stirn und verwischte die Tinte auf der Karte. Suchend bohrte sich mein Blick hindurch und fand auf der Rückseite ein abgedrucktes Rezept der Trippa. Ich würgte sofort, spuckte ein paar warme Brocken aus und rannte zum Haus, hielt aber schon auf halbem Weg an der Magnolie an und düngte sie reichlich. Sie sah schon ganz verkümmert aus. Mit einem Kanonenschlag flog mein Hirnkorken in den weiten Kosmos, eine Raumfähre musste ein riskantes Ausweichmanöver einleiten. Der gestrige Abend war wieder lebendig, Carlottas Lachen klang in meinen Ohren nach. Plötzlich schlängelten sich Scheinwerfer den Weg zu meiner Mühle hoch. Das wandernde Licht schleuderte meinen Schatten an die Hauswand. Panik breitete sich aus. Ich angelte einbeinig nach meinem Schlappen, schlug die Tür hinter mir zu und starrte in den Spiegel. Rauchen und Fleisch fressen bestrafte Gott an mir sichtbar doppelt, der Suff tat sein Übriges. Dann parkte draußen ein Auto, kurze Zeit später klopfte es. Ich gefror und merkte, dass überall im Haus das Licht brannte. Eine plausible Ausrede schien so fern wie Arminia Bielefeld vom Wiederaufstieg und so wartete ich darauf, dass der böse Wolf meine Strohhütte einfach um pustete. Es klopfte noch einmal. Ich hielt die Luft an, bis die Venen hervortraten. Eine Bande hinterhältiger Mücken nutzte meine Wehrlosigkeit schamlos aus. Ich wünschte mich auf die Autobahn in ein Stauende und dass ein Betonlaster hinein rast, mich zerkrümelt und meinen Organspendeausweis hinfällig macht. Eine zarte Stimme rief meinen Namen, dann knirschte es, Schritte entfernten sich, ein Motor sprang an und verschwand in der Dunkelheit. Fauchend atmete ich aus, mir war speiübel. Ich schleppte mich zu meinem Bett und wälzte mich unruhig hin und her. Der Mond war bleich und stumm, die Stille drückend.

Die Geschichte setzt sich hier fort

Hautnah

Die Sonne stand schief am Himmel, die Stadt versank in rosarot. Die Luft war warm und zart, Gewittertierchen tanzten im Abendlicht. Ich fuhr mit dem Auto in die Einfahrt, stellte den Motor ab, drehte das Radio lauter und schloss die Augen. Vorsichtig zitterten sanfte Klänge in meinen Ohren, dann brüllte der Bass aus den Boxen, dass die Blumen auf der Wiese mit den Köpfen nickten. Frau Amsel setzte einen Notruf ab. Bunte Lichtwellen durchzogen meine Welt und entführten mich auf eine Reise.

Ich stand in der offenen Haustür und lauschte der Stille, hinten im Garten konnte ich die Ameisen schmatzen hören. Die Zypressen am Horizont hatten noch ihre Schlafanzüge an, das Dorf erwachte erst langsam. Ich liebte diese jungfräuliche Morgenluft, die mir ein Abenteuer versprach und nach Olivenöl, Chianti und getrockneten Tomaten schmeckte. Ich ging zum Schuppen, schob die Vespa nach vorne, setzte meinen Rucksack auf den Rücken und fuhr knatternd und knirschend den Kiesweg entlang. Unten am Tor zog ich die Corriere della sera aus dem Kasten, steckte sie in meine Manteltasche und fuhr weiter. Ich wohnte etwas abseits des Dorfes in einer kleinen alten Sägemühle. Hierhin hatte ich mich meine Expedition mit meinem Wohnmobil geführt. Hier hielt ich an und blieb. Hier packte ich meinen Koffer aus und stellte meine Staffelei auf. Wie schon einmal, als ich in jungen Jahren in Mailand Kunst studieren wollte. Dann starb mein Vater und ich kehrte zurück nach Deutschland. Ich wischte mir mit dem Handrücken eine Mücke aus dem Auge. Das Dorf lag vor mir, die letzte Kurve genoss ich wie in Zeitlupe. Marktfrauen trugen frisches Obst und Gemüse aus dreirädigen Rollermobilen zu ihren Ständen. Alte Männer saßen vor ihren Häusern und spielten. Junge Ragazzi standen zusammen und zählten einen Batzen Geldscheine. Als ich um die Ecke brummte, hob Don Pascale die Hand und winkte mich zu ihm herüber. Er hatte sich in all den Jahren als echter Freund erwiesen. Die Dorfgemeinschaft hatte mich anfänglich misstrauisch beäugt, aber er hatte es durchgesetzt, dass ich als Tedesco die Mühle kaufen konnte. „Ciao, caro amico“, begrüßte er mich. Ich umarmte ihn, nickte den Anderen zu und setzte mich. Ich erzählte ihm von dem neuen Wasserrad, das mir ein Holzbaumeister aus Torino nach alten Plänen, die ich hinter einem Küchenschrank gefunden hatte, angefertigt hat. Bald würde die Mühle wieder in altem Glanz erstrahlen. Seine Augen leuchteten. Er war dort geboren und so war es mir um so mehr Ehre, seine alte Erinnerung wieder aufzubauen und mir gleichzeitig einen Traum zu verwirklichen. Er kam jede Woche mindestens einmal vorbei, immer verbunden mit einer Einladung zum Essen. Heute mache seine Frau Elena die berüchtigten Trippa alla fiorentina. Nach ihrem fantastischen Saltimbocca alla romana beim letzten Mal zögerte ich keine Sekunde und sagte zu. Wir verabredeten uns zum Mittagessen und ich schlenderte noch ein Weilchen über den Markt. Ich kaufte mir eine Schale Oliven und ein Stück Schafskäse bei Franco. Er war eigentlich Schlosser und half mir bei der Restaurierung. Die alte marode stählerne Antriebswelle hatte er wieder zum Laufen bekommen. Wir beratschlagten uns noch ein wenig, naschten Bruschette und feixten gestikulierend.
Als ich mich zum Gehen umdrehte, stand sie plötzlich hautnah vor mir, lächelte mich an und ich wusste sofort, dass dieser Tag völlig aus den Fugen gerät. Ihre Haare glänzten kupfern in der Sonne wie frische Maroni und umspielten zart ihre Wangen wie Wellen eine Muschel. Ihre grünen Augen ließen Zucchinis in den Auslagen erblassen. Es donnerte in meinem Kopf. Nervös nestelte ich an meiner Brille, die auf einmal auf den Nasenflügeln und hinter den Ohren drückte. Plötzlich stand Don Pascale neben ihr, legte seine Arme um diesen Engel und stellte mir seine Nichte Carlotta vor, sie studiere in Milano. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir fehlten deutsche und italienische Wörter für diesen Moment. Kurzatmig stellte ich mich vor. Sie lächelte mich an und reichte mir ihre Hand. Adriano Celentano brüllte in meinem Hinterkopf Dinge, die ich hier jetzt nicht wirklich wiedergeben möchte. Als ich sie hölzern berührte, durchschlug mich der Blitz wie 1771 den jungen Werther, als er sagte: Ich habe so viel und die Empfindung an ihr verschlingt alles. Ich habe so viel und ohne sie wird mir alles zu Nichts. Im Original, nicht in irgendeiner lausigen Plenzdorf– Interpretation. Der Himmel verdunkelte sich schlagartig, als ich sie wieder los ließ. „Wir müssen gehen“, sagte Don Pascale, „la mamma ist bestimmt schon so weit.“ Ich schaute auf und nickte. Carlotta hakte sich bei uns unter. Mamma Elena war eine Herzens gute Frau. Sie liebte das Leben, gutes Essen und guten Wein. Keinen Abend, den ich bei ihr und Don Pascale verbrachte, kam ich nüchtern nach Hause. So sollte es auch diesmal wieder sein. Der Rotwein gelierte süß in meinem Rachen und als ich mich weit nach Mitternacht verabschiedete, ratterte die Mühle in meinem Kopf schon. Erinnerungen und Hoffnungen gerieten zwischen die steinernen Mahlräder, ich hatte Kastanien braune Haare auf der Zunge. Irritiert sank ich in mein Bett. Der Mond rief unablässlich Carlottas Namen, in der schwülen Stille summte eine Mücke.

Die Musik im Auto verstummte. Ich schlug die Augen auf, zertrümmerte den Blut gierigen Zweiflügler auf meinem Arm und ging ins Haus. Es roch nach Leberkäse und Bratkartoffeln.

PS: Diese Geschichte setzt sich hier fort

Der Fisch stinkt vom Kopf her

Dieses ist eine Geschichte mit den 45 TAGS (Schlagwörter) meines treuen Lesers, Herrn Teddy. TAGS sind Wörter, die in  Geschichten und Artikeln am häufigsten auftauchen und in einer sogenannten Cloud („Schlagwortwolke“, bei mir heißt es „Tag-Links“) das Navigieren nach Themen oder Begriffen erleichtern sollen.

Herr Teddy hatte Berlin einfach satt. Das ganze Politikgeschwafel hing ihm einfach zum Hals raus. Da machte keine Partei eine Ausnahme, weder die CDU, die SPD noch die Piratenpartei. Das Demokratieverständnis dieser ganzen Eierköpfe und Promotionslügner glich einem verlogenen Fortsetzungsroman von Dieter Bohlen’s „Nichts als die Wahrheit“. So beschloss Herr Teddy, der Hauptstadt den Rücken zu kehren und landete über Umwege im beschaulichen Dörfchen Trebbin unweit von Potsdam. Hier gingen die Tiere zum Grasen auf die Weide und zum Scheißen hinters Haus. Hier war das Überleben noch echtes Abenteuer, ohne Auto, ohne Bahn und ohne Verkehr. Hier spielte der Kornwulf abends auf seiner Schalmei, Franzl Fuchs und Regenwurm tanzten zu seiner Musik und Ritter Wollhelm erzählte Mo, dem Friseur, Geschichten von früher über Trabants, die endlich nach zehn Jahren Wartezeit rostig ausgeliefert wurden. Herr Teddy vergaß schnell seine Sorgen, er dachte nicht mehr an all das, was ihn in Berlin so gestört hatte. Hier fühlte er sich frei, ohne Überwachung und ohne die Gesellschaft all jener, die für ein Foto auf der Titelseite der Berliner Morgenpost oder für eine Sondersendung nach den Morgennews dem Tod im Gegenzug für eine gewonnene Wahl den Koalitionspartner und den eigenen Parteivorsitzenden opfern würden. Er schloss die Augen. Kinder tollten im Hintergrund, ein Tag, wie der erste des Sommers ging zu Ende. Wieder daheim in seiner kleinen Kate setze er sich ans Internet vor seinen Computer, öffnete seinen Blog und überlegte. Er wusste nicht genau, wohin ihn sein weiterer Weg treiben würde, zu einer einzelnen Kurzgeschichte, einem Kinderbuch oder gar einem ganzen Roman. Er spürte nur wieder diesen unwiderstehlichen Drang zu schreiben. Er kam viel zu selten dazu, fand er. Meistens fraß ihn sein neuer Job beim Dorfblättchen doch auf. Abends war er dann viel zu müde oder die Kinder noch nicht im Bett. So blieben ihm im Monat nur wenige Stunden, bei einem guten Song und einem Glas Rotwein seiner heimlichen Leidenschaft zu frönen. Schon seit über einem Monat hatte er nichts Aktuelles veröffentlicht. Ihm fehlte die Lust und die Zeit dazu im Allgemeinen. Doch heute Abend war es zu einem unerwartetem Intermedium gekommen: Auf YouTube sah er in einem Video eine Statistik, das es in Brandenburg prozentual mehr Querulanten als in Sachsen gibt. „Wie sehr diese alte Redewendung doch stimmt“, dachte Herr Teddy und lehnte sich zufrieden zurück.

Ich tue, was ich machen kann

Manchmal weiß ich nicht, was ich noch machen soll. Ich tue schon mein bestes, aber das reicht bisweilen einfach nicht. Ach, wie soll ich das erklären?! Also, es gibt Arbeit und es gibt Freizeit. Beide unterscheiden sich in vielen Punkten von einander. Arbeit hält mich von meiner Freizeit ab. Arbeit ist ein ewig gleicher Trott, ein Murmeltiertag, eine Zeitschleife, in der nichts anderes passiert, als die vergangenen Jahre auch. Hochgerechnet schon tausendsechshundert Mal bin ich den selben verschissenen Weg zum Büro schon gefahren. Baustellen im frühen Planfeststellungsverfahren bremsen mich auf die Geschwindigkeit einer Wanderdüne herab. Seit der Mondlandung soll dieser Teil der Autobahn ausgebaut werden. Eine greise Fledermaus und zwei Grottenolme haben hier bisher erfolgreich verhindert, was in Stuttgart nicht gelingt. Auf der Einfädelspur zieht feixend ein Gurkenlaster an mir vorbei und drängelt sich vor mich. Ich schlage aufs Lenkrad, hupe gestikulierend und quetsche mich ohne zu blinken auf den verengten Fahrstreifen zwischen schwarze Limousinen mit LED- Tagfahrlicht und silbernen Buchstaben-Nummern-Koordinaten auf dem Heck. Im zähen Stop and Go geht es voran, Küblböck hat mir immer ein paar Meter voraus. Dann muss ich abfahren. Auf der Abbiegespur gebe ich Gas, versuche noch gleichzuziehen und dem Bazi den längsten Finger zu zeigen, als ich abrupt abbremsen muss, weil ein Bofrostlaster ausschert. Nur Idioten auf der Straße und bei der Arbeit geht es mit Idioten weiter. Lauter Verrückte, ohne Lust und Motivation. Dummheit hat mehr Doppelkonsonanten als sie IQ besitzen und Diät mehr Vokale als ihr BMI beträgt! Aber Schuld haben immer die anderen! Wie mir das Gejammer aus den Ohren heraus hängt!

In meiner Freizeit denke ich so etwas nicht. Da möchte ich den warmen Wind hauchen spüren, das Meer rauschen hören und die salzige Luft schmecken. Ich möchte in das Backfischbrötchen beißen und mir das T-Shirt mit Remoulade bekleckern. Da möchte ich in Weidenkörben nach Muscheln kramen, mir einen Kescher kaufen und schwarze Möwen vor der Sonne zählen. Ich ziehe mir die Schuhe aus und laufe barfuß am Strand entlang und springe über Wellen. Und erst, wenn die Nacht von unten durch den Horizont bricht, falle ich mit Sand in den Haaren und schmutzigen Füßen ins Bett.

Bratkartoffelverhältnis

Ich drückte mein Gesicht dicht an die klebrige Busscheibe. Ein Dutzend toter Fliegen pappte daran wie an einem Leimstreifen. Der Kloß in meinem Hals war so groß wie ein Fußball, und ich wusste, dass das, was kommt, nie mehr so sein wird wie das, was war. Ich wusste nicht, was ich einmal werden wollte, aber jetzt wollte ich nur bei dir bleiben. Hier ging ein fantastisches Abenteuer zu Ende. REM spielte ein letztes Mal für uns Loosing my religion und ich verlor die Vision eines kleinen Jungen, der von der großen Liebe träumte. Ich suchte vergebens deinen Blick irgendwo da draußen und schluckte den Ball hinunter. Der Meeresspiegel stieg dadurch und drückte Salzwasser in meine Augen. Es brannte. Wut schnaubend und grollend setzte sich der Bus in Bewegung. Mit jedem Meter zurück in die verregnete Heimat wuchs die Sehnsucht, an diesen Ort zurück zu kehren und in Leidenschaft an etwas zu glauben, das so schön war wie du. Es gab nur eine Handvoll Momente in all den Jahren danach, in denen ich annähernd dachte, jemandem wie dir wieder zu begegnen. Aber keine einzige hat mich so verzaubert wie du.

Jetzt stehe ich hier auf Block 3. Das letzte Heimspiel einer völlig verschissenen Saison geht zu Ende. Abgeschlagen auf Platz 18 versinkst du in den Niederungen vorsokratischer Balltändelei. Wir waren mehr als ein Jahrzehnt auf dem Olymp, häufig auf schmalem Grat und kurz vor dem Fall. Manchmal schlugen wir die Großen, die leichtgläubig meinten, uns fressen zu können. Oft schlugen wir uns selbst. Ich habe dich bejubelt und beschimpft, dich bestaunt und verflucht. Ich habe mir schnarrende Übertragungen im Radio angehört und stand auf der Südtribüne immer hinter dir, einmal sogar mit OP- Hemd unterm Trikot und Braunüle im Handrücken. Ich habe legendäre Partien gesehen auf Schnee bedecktem Platz und ich hatte Pipi in den Schuhen im Hochsommer. Manchmal denke ich sehnsuchtsvoll an unsere erste Begegnung zurück, als wir Bonanza – Jungs mit einem muffigen Tennisball auf der Straße kickten. Ich stand mit Pickeln und Arbeitshandschuhen im Gartentor und habe 11 Buden kassiert, genau wie du an diesem Nachmittag. Mein Spitzname „Alter Finne“ war geboren.

In meinem Herzen sind deine Buchstaben eintätowiert, in meinem Garten weht stolz deine Fahne, auf meinem Auto kleben treu deine Farben. Und in meinem Hals habe ich wieder diesen Kloß. Ich kann nicht glauben, dass du jetzt gehst. Schwer verwundet liegst du auf dem Sterbebett. Die Ärzte haben keine Hoffnung mehr und schalten die Infusionen ab.

Arminia, keine einzige hat mich so verzaubert wie du.

Sündenbock

Immer ich! Ich bin es leid. Dabei habe ich gar nichts damit zu tun! Ich war überhaupt nicht da! Ich kann es nicht gewesen sein! Aus, Schluss, basta!
Aber dann steht eines Tages dieser Mann vor meinem Haus. Ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Klemmbrett unterm Arm. Neben sich hat er einen dunklen Lederkoffer abgestellt. Mit einem merkwürdigen Gefühl öffne ich die Tür. Er hält mir gleich seinen Dienstausweis knapp vor die Brille und stellt mir seltsame Fragen. Ob ich hier wohnen würde. Und wo ich denn am 3. Mai gewesen wäre? Moment, das ist doch noch nicht so lange her. Genau, er sei schon einmal dagewesen und obwohl das Auto in der Einfahrt stand, habe niemand aufgemacht. Das sei doch mein Wagen? Mir sei doch klar, dass der TÜV abgelaufen ist? Ich müsste mit empfindlichen Strafen rechnen, das wüsste ich doch, oder?
Erschrocken wie Thomas Gottschalk nach der verlorenen Saalwette starre ich ihn an. So langsam platzt mir die Wutschnur. Ich greife nach dem Schuhlöffel auf der Fensterbank. Plötzlich vibriert der Boden und ein Getöse durchschneidet die warme Frühlingsluft, als starte in meinem Flur ein Viertakt- Rasenmäher. Die Sonne kneift die Augen zu, als sich ein dunkler Schatten auf den Rasen senkt und meine Magnolie abknickt. Im nächsten Moment markieren rote Laserpunkte meine empfindlichsten Körperstellen und eine vermummte GSG9- Spezialeinheit überwältigt mich auf dem Treppenabsatz. Mein Kopf schlägt dumpf auf die Kokosmatte, die mich stur willkommen heißt. Roter Dicksaft kriecht aus meiner Nase und mischt sich mit der eingetrockneten Blutspende des Bofrostmannes vom vergangenen Herbst zu einer negativen Kreuzprobe. Kabelbinder ratschen und ich werde brutal in den Flur gestoßen. Der schwarze Mann tritt neben mich und hält mir die neue Kehrverordnung unter die Nase. „Darf ich jetzt?“ fragt er.