Augenblick

Wenn es um mich herum wieder einmal rundgeht, schließe ich die Augen und beginne in meiner Phantasie zu wandern.
An manchen Tagen auf so einer Reise bin ich 14 Jahre alt und fiebere dem ersten Mal entgegen, an anderen bin ich 52 und wäre gerne 14. Ich kann der Held am Vormittag sein, dann ein kurzes Schläfchen halten und am Abend von einer rothaarigen Fee gerettet werden. Ich laufe durch das endlose Watt, spüre die Sonne auf meiner Haut oder liege im grünen Gras und höre das Laub rauschen. Nichts stört, nichts zwickt oder drückt.

Meistens aber fehlt mir die Zeit zum Träumen. Von der weiten Welt und den kleinen Augenblicken. Von einem Karmann Ghia Cabriolet, einem eigenen Atelier, einem Haus am Meer mit Olivenbäumen im Garten oder von der großen Liebe, die mich noch einmal küsst.
Manchmal, wenn ich daran denke, habe ich Angst, es zu verpassen, weil ich die Augen zu habe. Dann wünsche ich mir, die Erde wäre eine Scheibe, mit einem Zaun am Horizont, damit ich nicht falle.

Weißichdochauchnicht

Manchmal da glaube ich, es wäre schön, noch einmal auszugehen und Menschen zu treffen. Doch irgendwie hält mich etwas davon ab, das zu tun. Die Zeit schleicht dahin und ich treffe keine Entscheidung, sondern warte ab, was passiert. Aber was soll geschehen? Es wird mich niemand abholen und mit vorgehaltener Waffe in die Kneipe schleifen.

Ich gucke auf die Uhr und denke mir: »Später!«

In der Zwischenzeit bummele ich herum, esse, trinke, gehe an den Rechner, höre Musik, mache die Wäsche oder schaue fern. Vielleicht rufe ich sogar jemanden an, lege dann aber schnell wieder auf oder bin irgendwie doch froh, dass keiner abhebt. Dabei möchte ich eigentlich los, drehe aber im Kopf Kurzfilme, wie der Abend wohl laufen würde. Es könnte niemand da sein, den ich kenne, es könnte ausverkauft sein oder regnen. Sicherheitshalber checke ich alle Vorhersagen und bin erleichtert, wenn ich irgendwo eine Niederschlagswahrscheinlichkeit von 5% entdecke, und sei es erst in zwei Tagen und in Hessen. Nein, dann lieber nicht, dann bleibe ich besser daheim. Beim letzten Mal, und das ist keine drei Jahre her, bin ich so nass geworden, dass der Kinoabend ins Wasser gefallen ist. Nein, dass soll mir diesmal nicht passieren. Und trotzdem gibt es da diesen klitzekleinen Gedanken, es könnte ja doch schön werden und ich verpasse etwas, ich alter Stubenhocker. Morgen ist Samstag, ich hab keine Termine und Verpflichtungen und kann ausschlafen. Aber irgendwie hängt mir der Arbeitstag noch in den Knochen und ich bin so schlapp, dass ich sofort ins Bett gehen könnte.

„Ach komm, jetzt lass dich nicht so hängen“, sage ich zu mir selbst, „schlafen kannst du genug, wenn du tot bist!“

Und dann stelle ich mir dieses aufregende Gefühl vor, wenn SIE auch da ist. Wir unterhalten uns so angeregt wie beim ersten Mal und fahren zusammen nach Hause. Vielleicht ist es einer der letzten warmen Tage in diesem Jahr, morgen regnet es wieder und die Chance ist vorbei. Ich weiß ja sogar, dass SIE heute Abend da ist. Wovor habe ich Angst? Genau davor, dass es nicht so wird. Dass der Zauber nur eine Illusion war und sich nicht wiederholen lässt. Und dafür soll ich jetzt noch aus dem Haus gehen? Wo kann ich denn überhaupt parken? Da ist doch sicher alles besetzt und ich muss wieder so weit laufen. Warum holt mich keiner ab? Warum ruft keiner an? Dabei hätte ich grade heute Lust. Lust auf Kribbeln im Bauch und Sex im Kopf. Dann erinnere ich mich, dass genau das meine ganz alte Falle ist. Das hat doch noch nie geklappt und spielt sich nur in meiner Phantasie ab. Am Ende schleiche ich wieder benommen und alleine nach Hause. Wie jedes Mal. Das lohnt sich nicht. Da esse ich lieber noch ein paar Chips und trinke ein Bier auf dem Sofa. Das ist spontane Bedürfnisbefriedigung und funktioniert immer, ohne Wenn und Aber. Diese Strategie hat mich noch nie im Stich gelassen, sie ist zuverlässig wie Wahlversprechen der CSU. Doch wer wählt die schon? Soll ich oder soll ich nicht? Ich kann mich nicht entscheiden.

Ich muss es auch nicht mehr, es ist Viertel vor zwölf, SIE ist sicher schon weg.

PS: Dieser Text ist rein literarischer Art, er trifft NICHT mich zu.

So nicht

Es ist nicht so, dass ich nichts mehr zu sagen hätte, seit mein erster Roman Quergefönt erschienen ist. Ganz um Gegenteil, oft habe ich den ganzen Kopp voller Worte und weiß nicht, wohin damit. Dann aber ermahnt mich der gierige Autor in mir, daraus ein zweites Buch zu machen. Doch nicht alles kann ich Murat oder meinem knurrigen Ich-Erzähler in die Schuhe schieben, schließlich habe ich einen guten Ruf zu verlieren. Als Franco Bollo und als Mensch, der sich dahinter verbirgt.

Deswegen habe ich mich entschlossen, den kleinen, persönlichen und ebenso fiesen wie bösen Text, den ich eigentlich vorgesehen hatte, bis auf weiters verschlossen zu halten und stattdessen eine entfallene Szene aus dem Kapitel „Eisbärsalat“ preiszugeben, die eine Abrechnung mit meiner alten Englischlehrerin ist. Namen und Orte sind frei erfunden, entbehren aber möglicherweise nicht autobiografischer Wahrheiten. Sicher ist sicher.

Ganze Generationen von hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern und -autoren haben sich wie ich in den frühen 80er Jahren durch einen völlig dilettantischen Englischunterricht gequält und wissen dabei bis heute nicht, was Pink Floyd heißt. Es hält sich ja hartnäckig das Gerücht, es bedeute rosa Verhütung. Doch selbst meine knöcherne und verklemmte Lehrerin konnte oder wollte das Rätsel nicht auflösen, was ja eher für diese Übersetzung spricht.
Das arme Ding hieß Frau Kornfeld und ihre Eltern hatten sie offensichtlich wegen ihrer Klugscheißerei schon als Blag satt. In einer kalten Winternacht ließen sie sie auf einem kahlen Getreideacker zurück und machten sich flink von dannen. Sie verhüteten fortan lieber mit der Hand, lebten glücklich und entspannt ohne sie und genossen die Ruhe.

Knapp einhundert Jahre später aber trug mich diese mental zurückgebliebene Ährenspindel mit der sexuellen Ausstrahlung eines Melkschemels aus nichtigsten und niedrigsten Gründen regelmäßig ins Klassenbuch ein. Einmal schmiss sie mich sogar aus dem Unterricht, bar jeder pädagogischen Kompetenz und jedes Verantwortungsbewusstseins.
»Ich hätte geworfen!«, erzählte das verlogene Aas meinen Erziehungsberechtigten, als sie am Abend vor unserer Haustür stand.
Natürlich habe ich geworfen, nur leider nicht getroffen, sonst hätte der Kartenständer nicht den Physiklehrer zuerst erwischt. Die dumme Sau hatte ich erst später auf meiner To-do-Liste.
Mein Papa war da echt cool, »Englisch- und Sachkundepauker braucht kein Mensch«, sagte er zu ihr, »der eine ist sich zu fein, um Scheiße zu sagen, der andere zu doof zum Hinunterspülen!«

Bedauerlicherweise war diese Unterhaltung meiner weiteren Karriere an dieser Penne nicht wirklich zuträglich, auch wenn ich ihm in der Sache heute noch recht geben muss. Wozu gibt es denn den Google-Übersetzer, Siri oder Leo?

Durchgangszug

Es gibt Tage, die huschen ohne Halt in Windeseile an mir vorbei, als gäbe es kein Morgen. Abends frage ich mich dann, wo sie geblieben sind.
Es gibt aber auch Tage, die bleiben schon morgens einfach liegen und schlafen aus. Erst am späten Nachmittag erwachen sie und mir wird plötzlich klar, dass ich immer noch nicht gefrühstückt habe, der Kühlschrank leer ist und die Bäckereien längst geschlossen sind. Und dann frage ich mich, warum mich keiner geweckt hat?!

Zwischenstop

Mein literarisches Ich macht nun zunächst einmal eine kleine Pause. Nach vielen leichten, aber auch vielen verzweifelten Buchseiten lege ich nun die Füße hoch und mache mir ein Bier auf. Es fühlt sich gut an, wie nach langer Fahrt am Urlaubsort anzukommen und endlich die Spannung und Konzentration loszulassen und zu verschnaufen.
Vielleicht packe ich nach dem Essen das Auto aus und trage die Koffer aufs Zimmer oder erst am nächsten Morgen. Vielleicht ist es schöner, jetzt eine Weile am Meer zu stehen und mir den Wind um die Nase wehen zu lassen, solange es noch hell ist.
Es gibt kein Programm für heute Abend, nur das, was ich daraus mache.
Ich kann eine neue Geschichte schreiben, das Blinken des Leuchtturmes zählen oder ich gehe mit Murat einfach einen Döner essen.

Angstwut

Manchmal ist in meinem Kopf so wenig Platz, dass ich alles, was nicht niet- und nagelfest ist, bei eBay verkaufe, aktiv vergesse oder gnadenlos wegwerfe. Selbst Geschichten, die gestern erst geschehen sind, können heute schon Ballast sein, der mich abhält, nach vorne zu schauen und den Aufstieg auf den Olymp zu schaffen. Nur selten passiert es mir dabei, dass ich doch das eine oder andere Stückchen davon gerne wieder hätte. Aber das hat mich nie wirklich gestört, denn es ereignen sich ja täglich neue Überraschungen, die mir den Kopf zumüllen. Und deswegen finde ich es sinnvoller zu vergessen. Wo soll ich auch hin mit dem alten Rotz in meiner kleinen Einzimmerwohnung der Erinnerungen? Da müssen manche Sachen eben auf der Strecke bleiben.
Es ist wie auf einer Party: Die Gäste kommen und gehen, der Alkohol fließt in Strömen, wir rauchen Kette und reden über Fußball. In der Küche stapeln sich durchweichte Pizzakartons und braune, angetrunkene Flaschen reihen sich dichtgedrängt an­ei­n­an­der wie Arminiafans in der Südkurve. Irgendwann schütten wir uns einen Schlummerschluck zusammen, pflücken die Zigarettenfilter aus dem trüben Gesöff, exen die Brühe und legen uns auf den Boden zum Pennen. Am nächsten Morgen dröhnt der Schädel wie ein Bohrhammer und die Knochen tun weh, als hätten wir unter einem Elefanten geschlafen. Das Bad ist für eine Woche unbewohnbar, aber zum Pissen im Stehen reicht es. Abends kommen ein paar neue Freunde zum Restetrinken und wir kotzen gemeinsam in die Regenschirmkanne. In der Erinnerung war es trotzdem ein rundum gelungenes Fest.

Ich mag es einfach, wenn die Dinge noch eine Ordnung und Bezug zueinander haben. Ich will mich darauf verlassen können, dass Bier seit 1516 nur mit bestem Hopfen, Hefe, Malz und Wasser gebraut ist. Deswegen verdränge ich die Realität, dass es Sorten gibt, die besser im Süßwarenregal stünden und nach bunter Zuckerwatte schmecken. „Pfui, wer so etwas trinkt, der wählt auch Trump“, sagt mein Wirt immer und ergänzt dann, nach einer kleinen andächtigen Pause: „Der letzte Schluck sollte ein Herforder sein.“ Da hat er Recht. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Pils, aber nicht an meine erste Kola.

Und das ist genau das, was ich meine: Es gibt so viele Dinge, die es sich gar nicht zu merken lohnt. Das, was ich darüber hinaus noch rauskehre, bis die Hirnstube leer ist wie ein ostdeutscher Supermarkt vor der Wende, sind unwichtige Kollateralschäden. Was gestern war, ist vorbei und kommt nicht wieder. Nur weil mich einmal der Blitz beim Scheißen im Wald getroffen hat, so hat es doch tausend Mal vorher Spaß gemacht und ich muss deswegen nicht grundlegend mein Leben ändern. Und wenn die Uhr auf Winterzeit umgestellt wird, geht zwar die Sonne eher unter, aber nicht gleich die ganze Welt. Ich habe sogar eine Stunde länger Zeit, neues Bier zu kaufen. Es spielt auch überhaupt keine Rolle, ob ich gestern irgendetwas hätte tun können. Wichtig ist einzig und allein nur, ob ich es getan habe.
Ich hasse dieses ewig wiederkehrende Lied in meinem Kopf, weil es mich verrückt macht. Jeden Tag schießen mir hundert Momente durch den Gedankenwald, wie es zum Beispiel wäre, wenn ich ihr genau jetzt sagen würde, dass ich Lust hätte, sie zu vögeln und einen Augenblick später verfluche ich mich dafür, dass ich es tat. Was geht mir das auf die Nüsse! Das darf doch wohl nicht wahr sein. Kann denn niemals etwas perfekt sein? Muss denn immer alles im Fluss sein? Ich will mich manchmal einfach nur hinsetzen und zur Ruhe kommen, bis die Dinge so bleiben, wie sie sind und sich nichts mehr verändert. Aber nein, stattdessen rast schon wieder die nächste Katastrophe mit überhöhter Geschwindigkeit die abschüssige Kurve hinab.

Gerne würde ich einmal glauben, dass alles so seine Richtigkeit hat. Doch nur zu oft packen mich Gefühle von Zweifel und Unsicherheit. Versagensängste klopfen penetrant wie der Bofrostmann an meine Tür. Beim letzten Mal hat er mir einen überteuerten Tiefkühl- Adventskalender angedreht und mich dabei angeschaut wie Klaus Kinski. Ich konnte drei Wochen lang nur mit großem Licht schlafen und habe bei der nächsten Sitzung meine Psychologin mit einer gefrorenen Laugenstange bedroht. Erschrocken meinte sie, ich solle meine Angstwut doch einmal aufmalen. Ich schnappte mir die Farben und knallte ihr ein Happening aus Rot und Schwarz schwungvoll auf die Leinwand, so dass Pollock kleinlaut um einen Praktikumsplatz bei mir gebettelt hätte. Dabei sang ich laut Dicke von Westernhagen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie ich ihre nackten Brüste mit bloßen Händen anmale und ihr ein Geweih auf den knackigen Arsch schmiere. Doch die alte Kuh kroch nur tiefer und tiefer in ihren Ohrensessel, blätterte in der roten Medikamentenliste und telefonierte. Als meine Musik verstummte, nahm ich mir ein Cuttermesser und schlitzte sie langsam auf. Der erste Stich durchdrang das straff gespannte Gewebe mit dem leisen Geräusch wie ein Reißverschluss, dann färbte sich die Klinge blutrot und zeichnete wie von selbst ein Satanskreuz. Ich setzte mich still davor, rauchte und betrachtete genussvoll mein Werk, bis ein Sondereinsatzkommando die Praxis stürmte und die völlig zerstörte Leinwand beschlagnahmte.

Wie lange mag das wohl her sein? Ich weiß es nicht! Vielleicht ist es auch nie geschehen, wer kann es wissen? Vergangenheit ist wie eine alte Sendung Aktenzeichen xy, unaufklärbar, ewig her und nicht mehr zu ändern. Also brauche ich mir keinen Kopf darum zu machen, was damals war oder nicht. Es reicht, wenn ich mich an meinen Namen erinnere. Zum Glück habe ich ja zwei, falls ich den einen doch einmal vergessen sollte …

Sturm in der Brandung

Der Jever- Mann
Ich gehe noch einmal in den Garten hinaus, hinten zum Stall und schaue hinein. Aber Klopf ist nirgends zu sehen. Vorsichtig hebe ich das Holzhäuschen hoch und schiebe das Stroh ein wenig zur Seite. Glück gehabt, er ist auch diesmal in seinem Lieblingsversteck. Schnell stopfe ich ihn in meinen Rucksack, er tut so, als merke er es gar nicht. Dann renne ich zum Auto. Papa hupt schon und fächert mit den Armen. „Wo warst du denn noch?“, will er prompt wissen. „Ich habe nur Klopf auf Wiedersehen gesagt“, flunkere ich. Schon brausen wir los.
Nach zähen und unendlichen Stunden auf der Autobahn, einem Dutzend Fünf Freunde- CDs und ebenso vielen Nutellabrötchen kommen wir endlich am Fähranleger in Rømø an. Seit vor ein paar Jahren ein Sturm einen Laster vom Sylt- Shuttle gepustet hat, fahren wir immer über Dänemark auf unsere Urlaubsinsel. Papa ist da abergläubisch, „wer einen Laster umschmeißt“, sagt er immer, „der macht auch vor einer E- Klasse nicht halt.“
Wir sind spät dran diesmal und der Kapitän trötet bereits dreimal, als Papa endlich die Tickets in der Hand hat und wir auf den Autokutter fahren können. Im Internet zu buchen ist auch nicht so seine Sache. Auf dem völlig überfüllten Deck quetschen wir uns zwischen Fahrräder und Kinderwagen auf eine hölzerne Backskiste. Der Wind pfeift uns um die Ohren und die Abendsonne lächelt müde. Dann brummen die schweren Dieselmotoren los. Das Schiff vibriert wie eine alte Waschmaschine, dunkler Rauch steigt empor, die Möwen stieben von den schiefen Birken im Fahrwasser auf und hoffen auf einen Bissen.
Ich schaue meinen Bruder an, er nickt und schon wuseln wir durch Wolfstatzen- Jacken, Fleece- Pullovern, Softshell- Westen zum Bug. Doch ausgerechnet dort feiern die Kicker vom Team Sylt lautstark das Erreichen des Achtelfinales beim Dana- Cup in Nord- Jütland mit Koffein haltigen Kaltgetränken, Fassbrause und Eistee. Kurzerhand machen wir kehrt und schlängeln uns zum Heck mit den riesigen Propellern. Wir packen unsere Toggo- Lutscher aus und spucken ins aufgeschäumte Wasser. Papa ist sitzengeblieben und muss auf unsere Sachen aufpassen.
Am Inselhafen List fallen mir die Augen zu. Ich träume von Knicklichtern, Taschenlampen, Gartenfackeln und Grillen am Strand. Erst als Papa mich zudeckt und mir einen Gute- Nacht- Kuss gibt, blinzele ich ihn schlaftrunken an. „Wo sind wir?“, will ich wissen. „Da, wo der Klabautermann auf Kaperfahrt geht“, sagt er lieb. Dann schlafe ich wieder ein. Papa geht zurück ins Wohnzimmer und fällt um wie der Jever- Mann.

Faltiger Autist
Am nächsten Morgen wache ich mit den ersten Sonnenstrahlen auf. Endlich kann ich mich um Klopf kümmern. Vorsichtig hole ich ihn aus meinem Rucksack und schaue ihn an. Er scheint noch zu schlafen. Manchmal denke ich, er könnte mich verstehen, wenn er mich anschaut und seinen faltigen Hals reckt. Dann erzähle ich ihm, wie ich einmal das Feuerwehrauto von meinem Bruder im Sand verbuddelt habe, weil ich so eins auch gerne hätte. Oder wie ich Lauf, seinem Hamster, die Füßchen mit Tesafilm umwickelt habe, weil er schneller war als Klopf. Oder dass ich mir kurz vorm Einschlafen heimlich die Bettdecke in den Schlafanzug stopfe, damit ich morgens nicht nass bin. Sonst dürfte ich Klopf nicht behalten, hat Papa gesagt. Dann nickt Klopf immer und gibt mir Recht. Er ist auch der einzige, der weiß, dass ich gerne Leuchtturmwärter werden möchte. So wie Herr Tur Tur auf Lummerland. Das muss schön sein, abends einmal die Wendeltreppe raufsteigen, die Petroleumlampe anzünden und morgens wieder löschen. Keine Nacht darf es ausbleiben, meinen fünften Geburtstag nicht, nicht Weihnachten, und nicht freitags, wenn die Schmutzfrau kommt. Ich muss immer da hoch. Mit Einbruch der Dunkelheit muss das Licht brennen. Es ist eine wichtige Aufgabe. Klopf versteht mich. Papa nennt ihn manchmal faltiger Autist. Ich weiß nicht, was das ist.
Nach dem Frühstück geht Papa mit uns in einen kleinen Laden in der Friedrichstraße. Postkarten mit Zackenrand erzählen Legenden aus Wilhelminischen Zeiten. Dutzende Stocknägel mit Strandkorbmotiven und Insel- Silhouetten reihen sich in kleinen, offenen Schächtelchen. Leuchttürme in allen Größen von der F- bis zur A- Jugend, Schneekugeln, Bernsteinfigürchen, Buddelschiffe und ganze Kutterflotten verteidigen ihre Regalwand gegen eine Korblandschaft aus plüschigen Wattwürmern, Möwen und Seehunden fernöstlicher Produktion. Papa versucht ständig, unser eigenes Taschengeld zu sparen. Wir hätten genug Spielzeug zu Hause. Aber eben keinen Riesenkraken, der Wasser spritzen kann! Dann meint er wieder, das Wellenbrett sei zu groß, das kriegten wir in keinen Koffer rein. Oder die Ritterfestung sei zu teuer, das Aufblaskrokodil zu gefährlich. Muscheln, Seesterne und Kescher hätten wir noch vom letzten Urlaub zu Hause, im Keller! Boah, ich habe echt keine Lust mehr und zeige auf mein T- Shirt. I’m the boss steht da. Das zählt nicht, erklärt Papa mir, Papa sei mehr als Chef. Dann will ich doch lieber Leuchtturmwärter werden. Oder faltiger Autist.

Wir lieben die Stürme
Der Wind kurvt mit uns im Slalom um jeden Poller, jeden Anker und jede Boje herum. Er taumelt über rot geklinkerte Wege, braust an Juckpulverbüschen, Knallerbsensträuchern und kahlen Kiefern vorbei, saust mit Schwung über eingegrabene Paletten die Dünentäler hinunter und mit uns an Papas Hand wieder hinauf. Auf dem Sandgipfel bleiben wir stehen und staunen: Groß, weit und dunkel erstreckt sich der graue Riese bis zum Horizont. Grollend wirft er seine kalten Arme ans Ufer, als sei er nie weg gewesen. Sein eisiger Atem fegt feuchte Gischt wie eine Horde aufgescheuchter Krabben beim Schulausflug vor sich her, schmeißt Standkörbe um und drückt dicke Kinder die Rutsche wieder hoch. Volleyballnetze stehen steif in der eisigen Brise wie schwer gefüllte Reusen, Klaffmuscheln graben sich tiefer in den Sand. Mein Käppi reißt sich los wie ein wild gewordenes Seeungeheuer, scheucht Thalasso- Wanderer vor sich her und sprengt eine Gruppe Qigong- Tänzer im Dünengras auseinander.
Benommen stolpern wir in die Villa Kunterbunt zum Piratentag. Laut brüllend entern wir die Welt, lotsen unser Boot durch gefährliche Untiefen und an Monster- Riffen vorbei. Wir schießen mit Korken- Kanonen auf Kokosnüsse, schruppen das Deck und pumpen Wasser aus den Kajüten. Wir überstehen die Pest und Skorbut, verlieren dabei alle Zähne und ein Bein. Wir jagen Ratten von Bord, Wale im tiefen Meer und heben auf einer einsamen Insel einen großen Schatz.
Erst bei Sonnenuntergang laufen wir wieder in unseren Hafen ein. In der Kombüse gibt es salziges Pökelfleisch und faules Wasser. Der leuchtende Zyklop blinzelt uns aufmunternd zu. Der Sturm hat sich gelegt.

Du bist nicht mehr mein Freund!
“Matschpatsch” macht es immer wieder. Ich greife mit den Händen in das trübe Wasserloch, das ich mit einem kleinen Deich vom Meer abgetrennt habe. Mit dem Plattmacher klopfe ich die Mauern fest. Auf einer Seite habe ich so viel Sand heraus gebuddelt, dass ein richtiger Berg entstanden ist. Aus beiden Fäusten lasse ich die Matschepampe von weit oben darauf fallen. Es sieht aus, als hätte ein ganzer Möwenschwarm nur auf diesen einen Fleck geschissen und ich sehe aus wie ein paniertes Schnitzel. Ich weiß schon selbst nicht mehr, ob ich überhaupt eine Badehose anhabe.
Ich beauftrage meinen Bruder aufzupassen, so lange ich Muscheln suche. Aber der Stinkstiefel will meinen Kescher dafür haben. „Ich bin nicht mehr dein Freund“, brülle ich, trampele meine Burg selbst kaputt und marschiere los. Papa hat mir erklärt, dass da, wo viel kleines schwarzes Holz an den Strand gespült wird, ich auch Bernsteine und Haifischzähne finden kann. In meinen Eimer sammle ich Krebspanzer, Seesterne und kräftige Herzmuscheln zum Kämpfen, er ist bald randvoll. Ich schmeiße tote Quallen zurück ins Wasser und laufe weiter. Endlich habe ich eine Stelle gefunden. Erst bohre ich mit dem Bockermann in dem Prütt herum, dann schiebe ich ihn mit dem ganzen Fuß hin und her. Schließlich lasse ich mich auf die Knie fallen und siebe mit den Händen. Alles, was gelb oder honigfarben ist, lecke ich ab. Harz schmeckt man doch! Ich finde ein altes Gummibärchen, eine geschliffene Glasscherbe und einen Feuerstein, sogar ein noch eingepacktes Campino- Bonbon. Es ist weich und salzig. Plötzlich scheucht mich eine große Welle auf und schmeißt meinen Eimer um. Erschrocken greife ich nach dem Henkel. Meine Schätze flüchten dabei mit dem rückfließenden Wasser: Bernsteine so groß wie Kiesel und Haifischzähne so scharf wie Säbel! Mein Bruder wird staunen.

PS: Es handelt es sich hierbei um ältere, überarbeitete Beiträge, sozusagen alter Wein in neuen Schläuchen.

Fangschuss

Eine dicke Schneedecke verhüllte die Landschaft. Oma Nada war gestern Abend in den nahen Wald gegangen, um Holz für den Kamin zu holen und jetzt war sie schon eine ganze Nacht da draußen. Opa Slavko schaute stirnrunzelnd durch das vereiste Küchenfenster hinaus auf das Feld, dann schnürte er sich die Stiefel, zog den dicken Mantel an, schulterte die Flinte und sagte zu mir: „Komm, Junge!“

Meine Augen staunten runder als mein Mund, mein ganzer Kopf war Kreis und mir wurde schwindelig. „E- E- Echt?!“, stammelte ich.

„Ja“, knurrte der Alte und ging zur Tür hinaus.

Hektisch stopfte ich meine Füße in die hohen Schuhe, warf mir meine abgewetzte Jacke über die Schultern und stürmte hinterher. Opa hatte schon die Lichtung erreicht, er scheuchte einen Schwarm Raben auf und verschwand dann zwischen den dunklen Bäumen. Ich stampfte schnaubend durch die hüfttiefen Stollen, die er im Schnee hinterlassen hatte, immer wieder den Blick zum leeren Horizont gerichtet. Die unendliche Eiseskälte wälzte sich mir erbarmungslos entgegen und fraß bereits meine Zehen auf, als ein Schuss wie ein Kanonenschlag durchs Tal grollte. Unten im Dorf schauten die greisen Bewohner stumm und verängstigt auf und eilten zurück in ihre Häuser. Ich warf den Kopf in den Nacken und schrie verzweifelt gegen die Angst an, die mich packte und würgte, die mich schüttelte und schlug. Dann sank ich bibbernd zusammen, schlug die steifen Finger vors Gesicht und schluchzte.

„Ein Junge weint nicht“, brummte plötzlich eine raue Stimme und warf mir einen toten Hasen in meine Grube, „nimm und komm. Es wird bald Nacht“, sagte Opa Slavko.

„Und Oma?“, krächzte ich.

„Der Herr gibt und der Herr nimmt“, murmelte er und reichte mir seine Hand.

Weitere Geschichten von Opa Slavko gibt es hier, hier und hier.
Sie beschreiben kleinen Szenen, die noch nicht in einen Erzählrahmen eingebettet sind, also keine zeitliche oder dramaturgische Reihenfolge zu einander haben.

Im Grunde

Im Grunde meines Herzens bin ich Pazifist. Ich habe den Kriegsdienst verweigert und schlage Spinnen schmerzfrei mit nur einem Hieb mit dem Schlappen tot. Andere Leute saugen sie ein und dann hoffen sie wie verschüttete Bergarbeiter Tage lang auf Rettung. Eingeschlossen in ständiger Dunkelheit, ohne Nahrung und Toilette verharren sie in stickiger Luft, sich selbst verdauend, bis sich ihre acht schwarzen Beine krümmen. Das ist sicher kein schöner Moment für eine Spinne. Für mich als Arachnophobiker auch nicht, wenn ich dann den Staubsaugerbeutel wechsele.
Im Grunde meines Herzens bin ich ein zuverlässiger Mensch. Ich komme immer eine halbe Stunde zu spät und räume nie das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Ich schüttele die Betten nicht auf und schraube die Zahnpastatube nicht zu. Ich weiß nicht, wann der Müll abgeholt wird oder die Klopapierrolle alle ist. Ich erinnere mich nicht an meinen Hochzeitstag oder wann die Lindenstraße läuft.
Ich weiß auch nicht, was das Affentheater gestern Abend sollte, immer müsstest du mir alles doppelt und dreifach sagen und nie würde ich das kaufen, was auf dem Einkaufszettel stünde. Ich weiß auch nicht, was die Polizei seit heute Morgen von mir will, wann ich dich das letzte Mal gesehen hätte und warum mein Schlappen so blutig sei.
Wie gesagt, im Grunde meines Herzens bin ich Pazifist. Und jetzt sauge ich erst einmal.

Der Müller und die undankbaren Esel

Es war einmal ein rechtschaffender Müller, der hatte drei Esel, einen Faulen, einen Frustrierten und einen Fetten. Der faule Esel blieb schon morgens einfach liegen, der Frustrierte zählte immer wieder seine grauen Haare und der Fette fraß von früh bis spät. Dennoch kümmerte sich der Müller um sie, so gut er konnte, und obwohl sie ihm nicht von Nutzen waren, verlor er nie ein böses Wort über sie.

An einem Abend aber ging der Müller noch einmal zum Stall, um den Eseln frisches Stroh und Wasser zu bringen, weil er es am Tag vor lauter Arbeit versäumt hatte. Als er vor der Türe stand, da hörte er, wie sie ihr schlechtes Leben beklagten. Ihm sei so langweilig, stöhnte der Erste. Der Zweite schimpfte, sogar die Zebras hätten Streifen und der Dritte schmatzte, das Futter mache dick. Da fasste der Müller einen Entschluss und schlich sich wieder ins Haus.

Gleich am nächsten Tag führte er die drei Graurücken ins Dorf auf den Markt. Den faulen Esel verschenkte er an einen Wanderzirkus, den frustrierten Esel tauschte er bei einem Schrankenwärter gegen ein altes Kursbuch der Deutschen Bahn und den Fetten verkaufte er dem Koch des Königs.
Zufrieden kehrte der Müller in seine Mühle zurück, mahlte ein Dutzend Säcke Korn, schaute noch einmal in den leeren Stall, lächelte und ging zu Bett.

In dieser Nacht stand der Mond schon hoch am Firmament, als die Zirkuswagen endlich stoppten und der faule Esel angeleint wurde. Seine Hufe schmerzten ihm von dem weiten Weg und er war müde. Er wollte sich schlafen legen, aber der Boden war hart und kalt, und der wilde Wind wirbelte Stock und Stein hin und her, dass es nur so krachte.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Auch der frustrierte Esel konnte nicht schlafen. Jede Stunde schnaubte ein tonnenschwerer Dampfzug an dem kleinen Bahnhäuschen vorbei. Der Kessel qualmte, die Räder ratterten, schaurige Schatten tanzten über die wackelnden Wände und dicker, dunkler Rauch fraß gierig alle Farben auf. Der Esel hustete, kniff die Augen zu und zitterte am ganzen Leib.
Er sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Dem fetten Esel erging es auch nicht besser als seinen beiden Verwandten. Der Koch hatte ihn eigentlich sofort schlachten wollen, aber der Narr des Königs band eine Möhre an einen Faden, knotete das andere Ende an seinen Schellenstab und lockte das Giermaul in den Thronsaal. Dort saß der König mit seinem Hofstaat bei einem Festmahl. Als der Esel das frische Obst und die vielen Leckereien auf den langen Tischen sah, lief ihm das Wasser im Maul zusammen und er glaubte, er sei eingeladen mitzuessen und wollte sich setzen. Aber die feine Gesellschaft verhöhnte und verspottete ihn und jagte ihn zum Tor hinaus.
Hungrig lag er nun am Teichufer, sehnte sich zurück in seinen Stall und dachte: “Oh je, was bin ich doch für ein dummer Esel gewesen!”

Das Jahr wechselte die Farben und auch der nächste Sommer kam und ging. Die große Ernte war eingefahren und der Müller hatte viel zu tun. Als endlich alles Korn gemahlen war, lud er die schweren Säcke auf seinen Karren, schnürte sich ein kleines Proviantpaket und machte sich auf die lange Reise zum Markt.

Auf halbem Wege kam er an einer Wiese vorbei. Ein Zirkus brach grade seine Zelte ab, tannengroße Männer stemmten riesige Stoffrollen auf einen Wagen, ein klitzekleiner Kerl brüllte Kommandos und bunte Vogelfrauen führten Pferde in ihre Boxen. Der Müller blinzelte gegen die Sonne und schaute dem munteren Treiben eine ganze Weile zu, als er schließlich den faulen Esel erblickte. Er lag im schmutzigen Staub und starrte in den Himmel.
Da ging der Müller zu ihm, streichelte sein Fell und sagte: “Steh auf, du alter Esel und hilf mir, ich habe viel zu tragen!”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Zirkusdirektor den Preis, den er verlangte, spannte den faulen Esel vor den Karren, teilte seinen Proviant mit ihm und so marschierten sie los.

Es war längst Nachmittag geworden, als sie an ein kleines, verrußtes Bahnhäuschen kamen. Sie hielten an und lauschten den seltsamen Klängen aus der Ferne, als sich plötzlich scheppernd die Schranken senkten. Der Boden begann, laut zu grollen und zu grummeln und dichter Qualm hüllte sie ein. Der Müller und der faule Esel klammerten einander fest und wagten kaum zu atmen, als mit einem Mal ein Eisenross mit glühenden Augen fauchend an ihnen vorbeidonnerte. Erst nach langen, bangen Minuten war der Spuk beendet und es wurde wieder hell um sie herum. Sie schauten auf und da stand vor ihnen auf dem Weg der frustrierte Esel mit gesenktem Kopf.
Als der Müller ihn erkannte, ging er zu ihm, klopfte sein Fell sauber und sagte: “Sieh nicht alles so schwarz, du alter Esel und hilf uns, das Mehl zum Markt zu bringen.”
Das Langohr tat wie ihm geheißen. Der Müller zahlte dem Schrankenwärter den Preis, den er verlangte, stieg auf des frustrierten Esels Rücken, teilte seinen Proviant mit ihm und so trotteten sie zu dritt weiter.

Schließlich gelangten sie zum Schloss des Königs. Ihre Reise war anstrengend, der Durst plagte sie und so beschlossen sie, im Park ein wenig zu rasten und sich am Teich zu erfrischen. Als sie nun auf dem Steg saßen und verschnauften, kam mit einem Mal der fette Esel aus dem Dickicht gradewegs auf sie zugestoffelt. Er schmatzte und kaute auf einer Rübe herum. Der hölzerne Anleger bog sich bedrohlich in der Mitte durch, er knackte und knarzte, er schwankte und schaukelte, ehe er vollends entzweibrach. Der Müller und die beiden Esel konnten sich noch mit einem beherzten Sprung ans Ufer retten, der fette Esel aber platschte wie ein Komet ins Nass. Entsetzt schrie und strampelte er um sein Leben. Mit vereinten Kräften gelang es den drei Wanderern, ihn an Land zu ziehen. Japsend rang der fette Esel nach Luft und das Wasser triefte nur so aus seiner grauen Mähne. Erst jetzt erkannte er, wer ihn soeben vor dem sicheren Tod gerettet hatte.
“Guter Müller”, flehte er, “nehmt mich mit. Ich kann in diesem Schlosse nicht länger sein. Der Koch will mich schlachten und zu Salami verarbeiten, sobald ich fett genug bin!”
“Alles, was recht ist, lieber Esel”, antwortete der Müller, “der Weg ins Dorf ist nicht mehr weit. Wenn du unseren restlichen Proviant trägst, dann will ich wohl mit dem Koch reden.”
Der fette Esel jedoch schüttelte nur mit dem Kopf, “das ist mir zu schwer, das schaffe ich nicht!”
Da ging der Müller zu ihm, streichelte ihm über das Fell und sagte: “Wenn du bleibst, wie du bist, wirst du nicht werden, wie du möchtest, du sturer Esel!”

Sodann gab der Müller seinen beiden Gefährten ein Zeichen, jeder schulterte sein Gepäck und sie zogen weiter ihres Weges.

Der faule und der frustrierte Esel aber halfen dem Müller fortan, wo sie nur konnten und verloren nie wieder ein schlechtes Wort.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Übergangsbinde

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5), Gleicheitrige (Kapitel 6) und Gesichtsyoga (Kapitel 7)

Es dämmert schon, als wir schweigend zurück fahren. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Längst glaubte ich, Ayse vergessen zu haben. Zumindest wollte ich das so, seit ich sie im letzten Herbst einmal an der Kasse im dm- Markt getroffen habe. Wir haben lange süß geplaudert, bis ich bemerkte, dass sie eine große Packung Kondome mit Fruchtgeschmack und ein Döschen Kieselsäuretabletten auf das Band legte. Ab da war es mit der Träumerei aus und vorbei, vergessen und verloren. Nie wieder. Ich brachte keinen Ton mehr heraus und knallte stumm den Trennstab hinter ihre Lustartikel. Verzweifelt griff ich nach einem Karton Slipeinlagen aus dem Sonderangebot und legte es zu meinen Nasenhaarschneider, der Zahnseide und der Anti- Grau- Tönung. Ohne auf mein Wechselgeld zu warten, verließ ich den Ort der trügerischen Eitelkeiten. Aber jetzt merke ich, dass Ayse mir doch wieder durch den Sinn huscht. Tausend kleine schillernde Momente fallen mir ein. Wie ihre dunklen Augen funkeln, ihr Lachen strahlt oder sie ihre langen Haare zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand zwirbelt. Ich denke an die kleinen Grübchen auf ihren Wangen, wenn sie lacht. Die Luft flimmert zart und ihre Nasenflügeln vibrieren ganz sanft, wenn sie spricht. Ich blicke zu Murat und muss husten. Er raucht schon die dritte steuerfreie Tabakfackel, die er Stangenweise von Renzo kauft. Das Zeug qualmt wie ein isländischer Vulkan, die Sicht ist schlecht. Plötzlich taucht dicht vor uns eine riesige Gemüsepfanne in dem Nebel auf. Murat stampft mit beiden Galoschen auf das Bremspedal, reißt hupend das Lenkrad herum und flucht wie ein betrogener, arabischer Kamelhändler. Dann prügelt er ohne zu kuppeln knatschend den zweiten Gang rein und treibt unsere Droschke auf der linken Spur Zentimeter für Zentimeter an den Tiefkühlwagen heran. Aug in Aug mit dem Bofrostmann rauscht er an unserer Ausfahrt vorbei. Ich wische die Scheibe frei.

Über eine schier endlose Landstraße fahren wir nun durch dichten Nebel. Ich suche nach Lichtpunkten in der Dunkelheit, doch selbst die Scheinwerferkegel unseres Rapids werden nach etwa zwei Metern unbarmherzig wie von einem riesigen, schwarzen Maul verschluckt. Die Tankanzeige ist schon lange im zweiten Untergeschoss angekommen und blinkt hektisch. Die Chance, lebend gefunden zu werden, wenn uns jetzt der Sprit ausginge, gleicht einer homöopathischen Hochpotenz. Ich taste nach dem Reservekanister hinter meinem Sitz, um festzustellen, dass ich ihn im Heizungskeller vergessen habe. Nervös hält Murat auf einer kleinen Anhöhe an. Ich drehe das Radio stumm, gehe nach hinten, setze mich auf die Laderaumkante und lausche Minuten lang mit spitzen Ohren der Finsternis. Hier und da glaube ich, etwas zu hören, aber es ist zu weit entfernt um herauszufinden, was es ist. Mit einem Mal werden die Geräusche lauter. Es ist, als habe jemand eine Tür geöffnet. Schweres, dumpfes Grollen wabert zu uns herüber. Dann erkenne ich den Rhythmus: Es ist Smoke on the water von Deep Purple! Ich peile den Kurs der Musik an, aber das ist hoffnungslos unter diesen Bedingungen. Vorsichtig lässt Murat den Wagen den Hügel hinunter rollen, es gibt eh nur zwei Richtungen: Die, aus der wir gekommen sind und die, in die wir fahren. Wie beim Blinde Kuh- Spiel tapsen wir voran, der lauter werdenden Musik entgegen. Nach endlosen Minuten, die langsam wie Adventssonntage im Nieselregen verrinnen, biegen wir auf einen Schotterparkplatz ein und stellen den Wagen ab. An einem Gebäude flackert im staubigen Fenster blass- grau ein Open– Schild, Fetzen von Child of vision wehen uns entgegen. Wir gehen hinüber, öffnen die Tür und betreten einen zum Bersten gefüllten Wirtsraum. Dichte Rauchschwaden schlagen uns entgegen. Wir schieben uns durch das Menschengetümmel, quetschen uns nahe der Theke zwischen tump dreinblickende Treckerköpfe und blicken uns stumm um. Tropfkerzen verhüllen Flaschen mit grotesken Mänteln, Kunstblumen blühen wie frisch verliebt und Häkeldeckchen auf den verharzten Tischen erstrahlen in Persilweiß. Graue Greise gehen hüftsteif die steilen Stufen zu den moosgrün gefliesten Toiletten hinab und kommen als windelnasse Jungspunde wieder herauf. Es wirkt, als seien die, die noch Frittenfett im Tank ihres Strich- 8er hatten, heute Abend in die Stadt gefahren. Alle anderen sind noch hier: der Horn bebrillte Bürgermeister in Cordhose, der blasse Vorsitzende der Taubenzüchter, der pralle Schatzmeister vom Kaninchenzuchtverein „Deutsche Riesen“, die gesamte örtliche Bewegungssportgruppe -Abteilung Ausdruckstanz- und die aktive Frauengemeinschaft von den Weight Watchers. Erinnerungen an den wild gewordenen Mob auf der Messe werden in mir wach. Auf einer kleinen Bühne spielt eine Band guten, alten Rock. Und wir mittendrin.

„Was trinkt ihr?“, fragt uns eine blondierte Zapfhenne hinter dem Tresen, die nach Tosca riecht. „Ein Guinness“, schreie ich durch den Bassdschungel. „Was ist das denn? Das kenne ich nicht!“ „Dann bring mir ein Pils. Habt ihr das?“ Ich warte nur noch darauf, ein Wicküler zu bekommen und in DM bezahlen zu können. Kurze Zeit später stellt sie mir einen großen Glashumpen auf den Tisch und für Murat ein Wasser, er muss ja noch fahren. Sie macht ein X und ein U auf den Deckel. „Habt ihr auch was zu essen?“, frage ich sie. „Da musst du hinten raus, da wird gegrillt!“ Draußen ist nicht viel los, eine Frau in weißer Kittelschürze hinter einer Biergartengarnitur dreht grade Würstchen und riesige Fleischlaken um. Ich bestelle eine Bratwurst mit Kartoffelsalat. „Hausgemacht“, wie sie extra betont. Bei der  Portion, die ich bekomme, hätten selbst alle Hunde aus dem Tierasyl noch mitessen können und wären satt geworden. Mit einem Wagenrad großen Teller gehe ich wieder hinein. Murat ist eingeschlafen, die Band spielt Dr. House is dead und ich frage mich, ob er an der Portion gestorben ist oder ob er hier vor Ort erschossen wurde, weil er nicht aufaß? Ich nehme grade den letzten Schluck von meiner obergärigen Kaltschale, als mir Tosca schon das nächste Einmachglas vor die Nase setzt.

Am nächsten Mittag bricht die Sonne grell durch die Ritzen der Jalousien und zeichnet Streifenmuster auf die vergilbte Blumentapete der Wirtsschänke. Ich schäle mein schmerzendes Knautschgesicht von der klebrigen Tischplatte und blicke auf. Anscheinend hat die Party gestern noch lange getobt. Überall liegen umgeworfene Stühle herum und leere Flaschen rollen über den Boden. Im Humpen vor meiner Nase ist eine Pferdebremse ertrunken, auf meinem Deckel stehen jetzt fünf X und ein U. Durch die offene Tür sehe ich die Metzgersgattin auf der Terrasse den Grill schruppen. Ich stoße Murat an, der mit einem Ohr im Kartoffelsalat auf meinem Teller liegt. „He“, rufe ich entrüstet, „wer soll das denn noch essen?“ Die Fleischersfrau schaut misstrauisch herüber, schnappt sich einen Reisigbesen und marschiert entschlossen auf uns zu. Schnell schiebe ich Murat den Deckel unter die Nase, „zahl du schon mal, ich warte am Auto auf dich!“ Grade als ich mich draußen an einer Konifere vorm Eingang erleichtere, stürmt Murat heraus. Die eine Hand umklammert eine verstaubte Flasche Chivas Regal, die ich eben noch hinter der Theke glaubte gesehen zu haben, und die andere einen original Atika- Aschenbecher, mit dem er den ganzen Abend geliebäugelt hat. Meine Augen leuchten. Schweren Schrittes trommelt die geprellte Kittelschürze hinter ihm her, ihr Atem rasselt wie Hui Buh in Ketten. „Schnell“, ruft er, „der letzte Bus fährt!“ Mühsam verstaue ich mein Gemächt, wische mir die Hände an der öligen Hose ab und springe auf den Beifahrersitz, als auch schon der Feudel gegen die Hecktür donnert.
Der Motor heult auf, der Donnerbesen faucht, wirbelnde Kiesel prasseln gegen die hölzerne Fassade des Saloons, dann schwänzelt der Rapid vom Hof. „Gib mir fünf“, sagt Murat. Und die kriegt er, als nach 100 Metern auch der letzte Tropfen Diesel aufgebraucht ist.

Was geschieht dann? Werden wir entkommen? Lest hier weiter!

Gesichtsyoga

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3), Wortgeflecht (Kapitel 4), Kassensturz (Kapitel 5) und Gleicheitrige (Kapitel 6)

Noch am gleichen Abend stelle ich Murat meine neue Geschäftsidee vor und zeige ihm meine Notizen in der Chinakladde. Er ist sofort hellauf begeistert, meint aber, wir müssten diesmal „solider“ an die Sache herangehen. Großzügig lade ihn zu der Unternehmermesse ein, unter der Bedingung, dass er meinen Deckel bei Renzo bezahlt und den Laden auf Vordermann bringt. Schließlich hat er ja auch seine Kehrwoche nicht eingehalten. Er zieht eine Augenbraue hoch, schielt mich an wie Angela Merkel bei der Damenwahl, stimmt dann aber zu. Ein schlauer Kopf, mein Murat.
Am Samstag schließen wir das Geschäft schon mittags. An der Tankstelle kaufe ich noch ein Duftbäumchen und zwei Dosen Haake- Beck, während Murat volltankt und nach dem Öl schaut. Ich setze mich schon mal und suche im Radio die Vorberichtserstattung der Fußball- Bundesliga. Mit einer Packung Knistertabak und zwei Dosen Efes kommt Murat aus der Kassensauna zurück. Wir stoßen euphorisch auf unseren neuen Coup an und dieseln Richtung Autobahn los. Es ist stickig und die Fensterkurbeln drehen an beiden Türen einfach durch. Murat schwitzt hinterm Steuer, als sei Biblis A kurz vor der Endabschaltung doch noch geschmolzen. Ich biege den Ventilator ein Stück weiter zu mir. Den letzten Kilometer geht es nur noch Meterweise vorwärts, frustrierte Coffee to go- Becher säumen die Straße. Endlich rücken wir auf Platz Eins der Karawane der Parkwilligen vor, als Murat plötzlich seine Mokassins hart auf die Bremse haut. Der Wagen nickt tief vor einem Männchen in Warnweste und Sicherheitsschuhen ein, das Arm wedelnd vor unserem schnaubenden Kühlergrill steht. Ich pralle mit dem Kopf an die rotierende Windmaschine, die mir eine tiefe Blitznarbe in die Stirn schneidet und stoße einen unverzeihlichen Fluch aus. Grüne Lichtblitze sirren umher, prallen aber an der massiven Karosserie unseres Rapids ab. Der selbstständige Parkplatzeinweiser taumelt, tritt dann bleich an die Seitenscheibe und will schon einmal 5€ kassieren. Ich klopfe mein Testsieger- Shirt ab, zucke mit den Schultern und schaue Murat an. Er pflückt einen klammen Schein aus seiner Hosentasche, öffnet die Tür einen Spalt weit und reicht ihn hinaus. Ein kühler Windstoß schwappt herein. Das Parkticket könnten wir von der Steuer absetzen, ruft der Wegelagerer uns fröhlich zu. Ehe ich ihn mit dem Imperius- Fluch gefügig machen kann, gibt Murat auch schon wieder Gas und rauscht den Weg an den langen Messeblechhallen vorbei. Direkt vor dem Haupteingang quetscht er sich auf einen Frauenparkplatz zwischen zwei Twingos. Durch die großzügige Kofferraumtür stolzieren wir nach draußen. Die Sonne lacht uns zu, wir lachen uns an, umarmen uns und gehen unter bewunderten Blicken auf dem roten Teppich zum Portal. Auf einmal huscht Ayse an uns vorbei und verschwindet ebenso plötzlich im Getümmel. Mir stockt der Atem, zittrig nestele ich nach dem Einlassticket, reiche Murat seines und sprinte hinterher. Erst jetzt bemerke ich, dass ich auf falschen Wegen wandele und im Fluss der zeitgleichen Eventausstellung „Einfach Frau sein“ schwimme. Panisch versuche ich noch umzudrehen, doch ich werde vom immer dichter werdenden Strom mitgerissen in den Dschungel der pastell- farbenen Begehrlichkeiten von Schmuck, Parfüm, Dessous, Wellness und Fitness, Haartrends, Dekorieren, Urlaub, Essen und Trinken und Trennungsberatung. Die letzte Welle spuckt mich direkt in einen Pulk blondierter Perückenschafe und Beratungsopfer, die am Stand der Weight Watchers Flyer, Ernährungstipps und Punktetabellen studieren. Mitgeschleifte Ehemänner in Fußball- Trikots starren abseits an einem Bierstand auf einen winzigen Fernseher, auf dem das Livespiel um den Spitzenplatz grade angepfiffen wird. Ich erkenne Renzo und will ausscheren, kann aber keinen Halt finden und werde weiter ins Innere des Plüschtempels geschoben und auf einen mintblauen Stapelstuhl gedrückt. Die Vorsitzende des Anorexie- Verbandes „Rund war die Frau“, die einer Brausestange Konkurrenz machen könnte, hält einen Multimedia- Vortrag zum Thema „Ich esse meine Suppe nicht“ und projiziert ein verzerrtes, dünnes Kerlchen auf Wand und Decke. Diät-Assistentinnen mit der eingefrorenen Mimik eines Tauschbildes reichen grüne Tees und stille Wasser zu gedünstetem Rohkostschnitzel auf einem ungeschälten Wildreismantel. Ayse ist eh verschwunden, denke ich mir und mache ich mit den Händen ein tolles Schattenbild (ein Murmeltier!), bis ich mit Süßstoffwürfeln beworfen werde. Fluchend flüchte ich hinter einen Vorhang, als ein schriller Schrei das Gebet zerreißt und von den kalten Metallwänden jäh zurückgeworfen wird. Entsetzt drehe ich mich um und blicke in Ulla Popkens nackte Augen. Noch ehe ich sie zu ihrer Figur beglückwünschen kann, bekomme ich einen Seegraskorb um die Ohren geschlagen. Pröbchen, Rabattgutscheine, Traubenzucker, bedruckte Einkaufswagenchips, Feuerzeuge und Kugelschreiber purzeln wild umher. Es sieht aus wie in Wacken am dritten Tag des Open Air- Festivals. Der übergewichtige Modeirrtum jagt mich trampelnd aus dem Zelt. Erst am Ha-Ra- Stand kann ich sie abschütteln, indem ich mich durch ein Nest damenbärtiger doppelter X- Chromosomenträger in die erste Reihe drängele. Eine gefühlte Halbzeit später schleiche ich mit einem revolutionären neuen Putzsystem mehr und einem gefühlten Monatsverdienst weniger von dannen. Erschöpft lasse ich mich in einen Massage- Sessel fallen. Das schwarze Leder klebt schwer auf meinem durchschwitzten Shirt. Geschickt streife ich mit der Hacke meine Schuhe ab, werfe 5 Euro in den Automatenschlitz und massiere meinen geschundenen Kiefer. Ich schaue auf meine Uhr und will grade die Zwischenergebnisse auf meinem Handy abrufen, als mich vier stählerne Hände von hinten packen. Zwei stiernackige PEZ- Gesichter nicken mit offenen Mündern und schiefen Nasen zur Tür. Eine Traube geifernder Weiber umkreist mich schnell, klatscht in die Hände und skandiert synchron „Ausziehen!“ Ich denke an meine Popeye- Unterwäsche und lasse mich ohne Widerstand hinausbegleiten.
Draußen steht die Sonne schon tief, ein verführerischer Bratwurstduft liegt in der warmen Abendluft. Bargeldlos, barfuß und blinzelnd folge ich ihm über den Parkplatz, bis ich in der Ferne Murat erkenne, der quatschend mit Ayse auf der Ladekante von unserem Wagen sitzt. Ich schleiche mich geduckt an und versuche, mir mein Geld aus dem Handschuhfach zu angeln. Im Radio laufen die letzten Minuten des heutigen Spieltages, es geht in allen Stadien hin und her. Als die Bayern in der Nachspielzeit einen ungerechtfertigten Elfmeter geschenkt bekommen, schlage ich fluchend aufs Blech. Plötzlich tauchen neben mir irgendeine Drahtbürste von den Gewichtsguckern und die Hand geflochtene Picknicktasche aus der Umkleidekabine auf. Die beiden Tuppertanten steigen in ihren Twingo und brausen mit meiner Deckung davon. Im letzten Moment kann ich mich mit einem kühnen Sprung unter unseren Renault retten. Durch den Unterboden muss ich dumpf den Torjubel der sprachdefizitären Südstaatentruppe mit Migrationshintergrund hinnehmen und stoße mir fast den Kopf vor lauter Zorn. Dann stellt Murat, der Banause, noch vor dem Schlusspfiff auf einen türkischen Sender um und trällert verliebt mit Ayse Tarkan´s einzigen Hit. Jetzt stoße ich mir den Kopf. Auf ein Mal steht Murat wie ein Strauß da, schaut kopfüber durch seine Beine hindurch und sieht meine Füße unter der Stoßstange heraus ragen. Ich schäle mich unter dem Wagen hervor, „alles klar“, sage ich, wische mir die öligen Hände an der neuen Jeans ab, „der Zylinder ist wieder dicht! Wir können weiter! Pass aber diesmal besser auf!“ Murat schaut mich an wie ein Playmobil- Sultan und ein winziges Lächeln huscht über Ayse´s Gesicht.
Nächste Woche ist wieder Messe, diesmal „Mann sein“. Da gehe ich sicher hin, Gina Wild gibt Autogramme!

Doch vorher führt uns unser Weg noch hierhin

Kassensturz

Fortsetzung von Freu Dich nicht zu spät! (Kapitel 1), Abstelltraum (Kapitel 2), Strebergarten (Kapitel 3) und Wortgeflecht (Kapitel 4)

An einem dunklen und lausigen Abend sitze ich mit unserer Geldkassette in unserer kleinen Küchennische. Heute ist ein besonders schwarzer Freitag. Keine Menschenseele hat sich in unseren Laden verirrt, den wir vor etwa drei Wochen eröffnet haben. Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und drehe ihn um. Im Dunklen kullern ein paar Silberlinge herum und eine Handvoll Kupfer hockt um einen kleinen geknickten Zettel. Sonst nix. Ich nehme ihn heraus und falte ihn auf. In seiner krakeligen Schrift hat Murat etwas notiert, das jede Grundschuh (!)- Referendarin zum freiwilligen Exil im analphabetischen Neustrelitz getrieben hätte. Ich rufe ihn kurzerhand an. Besetzt. Dann wähle ich die Nummer seines Bruders. Irgendwo in Istanbul geht einer dran. Ich höre gutturales Geschnatter und ein rasselndes Dönermesser. „Murat“, schreie ich gegen einen Flachbildschirm an, der im Hintergrund die türkischen Top40 plärrt, „bist du das?“ Es rappelt furchtbar und röchelt wie eine Klospülung in der Sommerdürre. Eine Männerstimme ruft seinen Namen rüber zum europäischen Teil der Stadt. „Efendim?“, kräht es durch die Leitung. Plötzlich ist der Draht still. Entnervt schleudere ich den Telefonknochen auf den Tisch, knülle den Zettel und versenke ihn über Bande in der Rundablage. Ich mache mir ein Efes- Bier auf, das einzige Gesöff, das ich in diesem Imbiss hier finde. Herb rinnt es meinen Bosporus hinunter und bringt im Marmarameer eine griechische Thunfischflotte auf, die verbittert Gegenwehr leistet. Kaum haben sich die Wellen ein wenig geglättet, stoße ich kräftig ins Nebelhorn. Der tranige Nachgeschmack lässt mich schwindeln. Rudernd suche ich Halt an der dämlichen Rattangarderobe, die uns Murats Eltern stolz zur Einweihung geschenkt haben. Wie ein angeschlagener Boxer umklammere ich das gebeizte Peddigrohrmöbel und taumele damit schwankend hin und her. Das Kilo schwere magische Auge an der goldenen Panzerkette, das darin baumelt und uns vor bösen Blicken und Wasserrohrbrüchen schützen soll, gerät in hektische Rotation und trifft mich hart an der Schläfe. Mein rechtes Auge schwillt ohne Nachzudenken spontan zu und ich pralle mit dem Schädel auf den Glastisch. Der Krümelsauger poltert herum und starrt giftig auf die Unordnung. Hyperventilierend schnappe ich nach Luft. Unbeeindruckt und erbarmungslos zählt mich die Schwarzwälder Kuckucksuhr über der Tür an, erst das Piepsen der Eieruhr bewahrt mich in letzter Sekunde vor dem endgültigen Knockout. Noch benommen stemme ich mich in der zweiten Runde empor und greife nach dem Henkel der Geldkassette. Blind vor Schmerz verpasse ich erst der Jackensäule einen schnellen Jab und schließlich dem Meisterwerk taiwanischer Uhrmacherei einen tödlichen Uppercut. Der Kleiderständer sackt in sich zusammen wie ein Osterfeuer und der heimische Vogel piepst ein letztes Mal, ehe er im dichten Qualm erstickt.
Ich gönne mir einen weiteren Schluck Efes, schüttele mich und drücke die Wahlwiederholungstaste. Aus der Küchenschublade klingelt irgendein Asi- Rapper mit abgebrochener Baumschule vom Typ Sido, Bushido oder wie die Hackfressen heißen. Ich habe Murat schon tausend Mal erklärt, dass er sich damit in den falschen Gegenden jede Menge Ärger einhandeln kann, wenn sein Handy klingelt und er es nicht dabei hat. Wie will er mich dann anrufen, damit ich ihn aus der Scheiße wieder raushole? Soweit denkt der Muselmann wieder einmal nicht und jetzt haben wir den Salat. Es sieht hier aus wie Hulle, er hat Kehrwoche, treibt sich rum und ich muss zusehen, wie ich den Laden über Wasser halte.

Wie geht es weiter? Das erfahrt ihr hier!

Immer wieder Murmeltiertag

Ich wache durchgeschlafen auf. Es ist sechs Uhr. Der Radiowecker spielt ein Lied von Herbert Grönemeyer, der nichts mehr sehen kann, der arme Sack. Ich kann ihn nicht mehr hören und schmeiße den Brüllwürfel ins winterliche Lipperland. Raus aus den Federn. Ich suche meinen zweiten Socken und stolpere über den Wäschekorb ins Bad. Es ist saukalt da draußen. Es ist jeden Tag saukalt. Und nicht nur da. Irgendein Schlumpf hat über Nacht das Fenster offen gelassen und jetzt toben dort die Eisheiligen. Das Thermometer zeigt minus 12 Grad. Der Blasenschmerz lässt mich alle Vorsicht vergessen und ich setze mich auf die tiefgefrorene Sanitärkeramik. Mein Schrei weckt die Kinder. Die Klopapierrolle ist alle und ich muss mit wehender Banane zur Vorratskammer hüpfen. Bei der Gelegenheit schalte ich schon mal die Kaffeemaschine an. Kalkgeschwächt röchelt sie wie Helmut Schmidt auf dem Sterbebett. Wo sind wir hier? In Miami Beach? Am Küchenfenster blühen Eisblumen, im Kühlschrank gluckert nur ein homöopathischer Rest Milch und die Marmelade ist schimmelig. Schnaubend schlage ich die Tür wieder zu, es klirrt und poltert darin. Ich setzte mich, blättere bei einer trockenen Scheibe Brot durch die aufgeweichte Zeitung. Das Telefon im Flur klingelt, ich springe auf und stoße mich an der offen stehenden Geschirrspülmaschine. Der Handwerker, der die kaputte Heizung reparieren will, sagt ab, er sei erkältet.

Die erste Tasse Muckefuck ist durchgelaufen, als ich zur Arbeit losfahren muss. Und später müsst ihr mit reichlich Verkehrsstörungen rechnen, naja, weil wir, weil wir so einen Schneesturm kriegen. Und ich stehe mitten drin. Ein brennender Tulpenlaster blockiert den einen Fahrstreifen und gefrierendes Löschwasser den zweiten. Gegen Mittag komme endlich ich an, in der Kantine ist das Zigeunerschnitzel mit Pommes ausverkauft, es gibt nur noch vegetarische Pilzpfanne.

Am Abend fährt der Rechner kurz vor Ende der Auktion eines Karmann Ghia überhitzt herunter und der DVD-Player spielt die selbstgebrannte Silberscheibe mit heruntergeladenen Blockbustern nicht ab. Auf dem Weg zu meiner Freundin rutsche ich mit dem Auto gegen eine Biotonne und die Liebes- SMS schicke ich in der Hektik an die falsche Nummer. Die verhärmte Klassenlehrerin meines Sohnes bestellt daraufhin das Aufgebot.

Aber die große Frage, die heute jeder auf den Lippen hat:

Wie war der Sex? Reden wir nicht drüber. Morgen schaue ich mir die Drombuschs mit der unvergessenen Witta Pohl an.

Denn heute ist: MURMELTIERTAG!!!

Erfischend

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4), Schnurlos (Kapitel 5), Murmeltier und Sehnsucht (Kapitel 6), Holzklasse (Kapitel 7), Zurück in die Zukunft (Kapitel 8), Sucht und Ordnung (Kapitel 9), Hättichmal (Kapitel 10), Nie wieder zweite Liga! (Kapitel 11), Traumfahrer (Kapitel 12) und Hitzeschwelle (Kapitel 13)

Ab Samstag sanken tatsächlich die Temperaturen ein wenig. Der Pegel des modrigen Naviglio kletterte bis zur Niedrigmarke der großen Dürrekatastrophe von 1976. Der aufgeweichte Asphalt erstarrte wie ein Arminia- Fan nach dem entscheidenden Gegentor in der Nachspielzeit, Abstieg, Liga 4. Die Buschfeuer am Rande der Stadt verloschen, der Wind hauchte sanft durch die Straßen und die Schatten der Häuser hörten auf zu schwitzen. Mit jedem Tag begann das Leben mehr Normalität zurück zu gewinnen, die es vor der Sonneneruption gehabt hatte. Schon nach einer Woche war es wieder möglich, das Haus zu verlassen, ohne dass sich gleich Nekrosen auf der Haut bildeten. Auf dem Domplatz verteilte der Katastrophenschutz Hilfsgüter und Sonnencreme an die hungernde Bevölkerung, die Carabinieri klemmten Strafzettel hinter die Windschutzscheiben und mein Pensionswirt brachte einen neuen Spülkasten an. Ich ließ mir darin ein Fußbad ein und genoss den Abend bei einer Flasche Rotwein und einer Partie Tetris auf meinem Gameboy. Geschickt rotierte ich mit den primär- und sekundärfarbigen Würfeln herum, verschob sie nach links und rechts und packte in jede noch so kleine Lücke ein Päckchen wie ein UPS- Fahrer. Die Musik fiepte dazu gemächlich in einer Endlosschleife ein Sankt- Martinlied. Ich sammelte allerlei Leckeres und Süßes ein. Dann plötzlich platzte das Versandzentrum wie in der Vorweihnachtszeit aus allen Nähten, der heilige Bischof zerteilte seinen ollen Mantel jetzt in Techno- Frequenz. Immer schneller wirbelten mir bunt verpackte Geschenke um die Ohren, dicke, dünne, große, kleine. Schließlich stürzte ein riesiger Überseekoffer herab und blockierte die Einfahrt. Das Förderband schmiss noch ein paar unnütze Last- Minute- Präsente hinterher. Rien ne vas plus. Das Spiel war aus. Frustriert brach der Klodeckel unter mir zusammen. Meine Füße noch im Wasserkasten, strampelte ich wie eine Wespe im Apfelsaft, ehe ich mich aus dieser misslichen Lage befreien konnte. Mit nassen Hosen und einem neuen Highscore stand ich im Badezimmer, als es auf einmal klopfte. Ich hüpfte zur Tür, öffnete und blickte in den dunklen Flur, doch es war niemand da. Na ja, vielleicht hatte ich mich auch nur verhört oder mein Zimmernachbar wollte sich über den Krach beschweren und bullerte mit der Fernbedienung gegen die morsche Wand. Doch dann fiel mein Blick auf den pieksigen Kokosteppich unter meinen nackten Füßen. Ein verschlissener Karton lag da, als sei er aus dem Spiel gefallen. Verwundert bückte ich mich und hob ihn auf. Ich schlug die Tür hinter mir und ging wieder in mein Zimmer zurück. Angestrengt legte ich mein Ohr auf den Kasten, aber er schwieg wie ein Apnoetaucher. Mit dem wohltuenden Gedanken, jeder Zeit in die Luft fliegen zu können, riss ich ihn auf, wühlte mich durch eine Schicht Verpackungsflocken und zog ein angeschmortes Handy heraus. Ich drehte es hin und her und versuchte es einzuschalten. Es krähte ein paar Töne und begrüßte mich mit den Worten „Trippa ist Tod auf Raten“. Ein eisiger Schreck durchfuhr mich, als ich darin MEIN Handy wieder erkannte, dass ich dem Kaltbeinigen in den Rachen geworfen hatte. Mit zitternden Händen starrte ich es an, mir war mit einem Mal so kalt, dass mein Atem sichtbar wurde. Blassgraue Wolken entstiegen meinem Maul, der Pelz auf meinem Rücken stellte sich auf. Zäher Geifer tropfte mir von den Lefzen, als ich nach der letzten SMS blätterte, für die ich beinahe meinen Esbit betriebenen Dampfwandler hergegeben hätte:

Flupp*!* Dies*ist*eine*Mailschnuppe*.* Sie*bringt*dir*Glück*. *Sende*sie*an*6*ganz*ganz*liebe*Menschen* weiter*und*sie*wird*dir*einen*Wunsch*erfüllen*!* Alles Liebe*,* Carlotta*.*

Sprachlos, gedankenlos und kopflos klickte ich auf „Weiterleiten“, trug sechsmal Carlottas Nummer ein und jagte die SMS in den Äther oder zum Teufel, ich wusste es nicht so genau. Ich änderte meinen Begrüßungstext in „Tod ist Trippa zum Braten“, versenkte die schnurlose Wählscheibe im Spülkasten und legte mich schlafen.

Zum letzten Mal!

Traumfahrer

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4), Schnurlos (Kapitel 5), Murmeltier und Sehnsucht (Kapitel 6), Holzklasse (Kapitel 7), Zurück in die Zukunft (Kapitel 8), Sucht und Ordnung (Kapitel 9), Hättichmal (Kapitel 10) und Nie wieder zweite Liga! (Kapitel 11)

Kurz nach Sonnenaufgang stemmte ich mich klebrig aus meiner Kajüte, mein erster Blick fiel auf mein Handy: Keine Nachricht, kein Anruf und keine Kontakte! Es schien, als habe mein Zeitsalto rückwärts nicht nur mein Handy resettet und alles gelöscht, sondern auch das von Carlotta. Wackelig taumelte ich in meine Shorts, mein lädierter Fuß schmerzte immer noch vom Sturz über meinen Rucksack. Die Ärzte meinten, ich sollte mich schonen, damit der Knochen heilen könne und nicht steif verwachse. Vorsichtig humpelte ich die steile Treppe hinunter zum Frühstückraum. Unten erwartete mich ein karges Buffet wie in einer schwäbischen WG: Brötchen, Marmelade, Caffè. Fertig. Aus. Ich packte mir brummig zwei Weißmehlkugeln und sieben Pröbchen Sauerkirschkonfitüre auf einen Teller, griff mir die Corriere della sera vom Vortag von der Theke und setzte mich an einen freien Tisch am Fenster. Tief stach ich das Messer in das hohle Weizenmausoleum, teilte es, füllte es Rand hoch mit dem klebrigen Wespenlockstoff und biss hinein. Ein dicker Spritzer Fruchtmus stürzte herab und traf Carlotta, die mich aus dem Kulturteil anblickte. Erschrocken hustete ich den Teigling wieder hoch und wischte ihr den roten Kleckshut beiseite. „Ausstellungseröffnung“ überflog ich den Artikel hektisch, schüttete mir den lauen und übersüßten Caffè in den Ösophagus, schnappte nach der Zeitung und stürzte auf die Straße.
Draußen war ein Sommer, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, nicht in Mailand, nicht in Bielefeld oder irgendeiner anderen Metropole. Trotz der Frühe waren Stehplätze im Schatten bereits ausverkauft, das Blau des Himmels geschmolzen, ich blickte einfach hindurch in die explodierende Sonne. Die Hitze war unerträglich. Im Kanal blubberte das Wasser, Tauben gingen zu Fuß, weil die Luft zu dünn zum Fliegen war. Der Asphalt auf den Straßen war weich wie eine Ritter Sport Zartbitter im Handschuhfach eines Fiat Ritmo. Teerpappe tropfte in langen Fäden von den Dächern und erschlug einen Fahrradkurier. Ich versuchte, mir mit einer Markisenkurbel sein Velo zu angeln, sank dabei aber selbst ein wie in frischer Hundewurst. Fluchend schmiss ich das glühende Brandeisen in den Kanal. Tür um Tür kämpfte ich mich voran, drückte mich eng an die Hausmauern, turnte über überbackene Nagetiere und tänzelte über Lavaschollen, aber dieser Schmelzofen erstreckte sich endlos und unbarmherzig vor mir wie eine Wüste. Mein Liquor begann zu kochen, ich stolperte und schlug breitseits in die lodernde Pfanne. Erst am Abend schälte mich ein Wasserwerfer der Carabinieri wieder heraus. Frittiert und labbrig schleppte ich mich zurück in meine Pension, trug dickschichtig Speisequark und Olivenöl auf meinen Leib auf, wickelte mich in Aluminiumfolie und schaltete den Fernseher ein. Alle privaten Kanäle brachten Sondersendungen über die größte Hitzewelle Norditaliens seit der Erstausstrahlung von Sex in the city: Auf dem Grund des ausgetrockneten Lago Maggiore tauchte das Bernsteinzimmer auf. In einer Dringlichkeitssitzung beschloss Silvio Berlusconi, es im Palazzo Grazioli, seinem Wohnhaus in Rom, wieder aufzubauen. Der schmierige Breitkopfaal grinste mich in Full HD an, Arm in Arm mit einer schlanken Brünetten. Wahrscheinlich eine Medienreferentin im Praktikum, kurz vor ihrer mündlichen Abschlussprüfung. Dann verlas er seinen 2- Punkte- Plan zur Bewältigung der Klimakatastrophe:
1.) Ab sofort darf Trinkwasser nur noch schluckweise verzehrt werden, und
2.) Auf den Verkauf von Reservekanistern, Fässern und Eimern wird eine Sondersteuer erhoben.
Noch ehe der Staubsaugervertreter mit dem Charme einer Filtertüte die Auflösung des Parlaments, sowie die Privatisierung aller öffentlichen Sendeanstalten und Verlage verkünden konnte, schaltete ich auf um. MilanoArte berichtete von einer Künstlerin, die aus Kutteln und Schmelzkäse eine lebensgroße Plastik des Ministerpräsidenten und selbsternannten Nachtclubpapstes gefertigt hat und nun eifrig in ihrem Heimatdorf im kühleren Süden an der Umsetzung des Vatikans im Maßstab 1:32 arbeitete. Die Kamera schwenkte auf eine Sägemühle, neben der Tür stand eine mir gut vertraute Bank. Zoom auf Carlotta, ein Reporter fragte sie aus dem Off, wie sie zu diesem außergewöhnlichen Material gekommen sei. Plötzlich begann das Bild zu flackern, die Stimmen rissen ab und klangen blechern. Dunkelheit legte sich über die ganze Stadt, der Strom kroch in seine unterirdischen Höhlen zurück.

Fortsetzung bitte! Hier!

Selbstgebackenes

Gib mir zehn Minuten. Zehn ruhige Minuten nur für mich. Ohne Ansprüche, ohne Lärm. Einfach auf der Terrasse in der warmen Abendluft ein wenig verschnaufen, bei einem Bier oder einem Glas Rotwein. Lautlos zieht ein Heißluftballon vorbei, Menschen sehen von oben herab. Ich schaue hoch und schließe die Augen. Immer dann beginnt eine Reise in die wilde Phantasie. Stuff I’m going to do. Dinge, die ich noch machen möchte. Einmal, oder auch öfter. Ein Kuckuck ruft dazwischen, der dumme Vogel. Er hatte einen Streit mit einem Esel. Wenn man sonst nichts zu tun hat. Also Augen wieder zu und loslassen, Leinen loslassen. Der Wind schiebt mich sanft in meinem Boot aufs Meer. Die Wellen kräuseln sich nur leicht wie verwachsene Rentnerdauerwelle. Ich schaukele mit, sinke in mich hinein. Meine Gedanken lassen den Stress und die Hektik des Tages los, befreunden sich mit der Stille und dem kleinen Kind in mir, das diesen Sommer am liebsten auf einem Abenteuerspielplatz verbringen möchte. Im wilden Ritt, mit einem gellenden „Juchee“, auf der Affenschaukel den riesigen Hügel hinab, die Beine angezogen, bis zum Ende dengeln und soweit zurück, dass der Kuckuck staunt. Das Fahrrad liegt umgeworfen im Gras, die Hose ist grün auf den Knien, die Hände sind schmutzig wie nach der Töpferstunde.
Ruhe. Die Zeit verstreicht, der Atem verklingt, die Sonne küsst den Horizont.

Murmeltier und Sehnsucht

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1), Space Invaders (Kapitel 2), Verkorkt (Kapitel 3), Strafzimmer (Kapitel 4) und Schnurlos (Kapitel 5)

Gut eine Woche nach der Einladung bei Don Pascale war ich wieder bei Sinnen. Ich hatte 5 kg abgenommen und davon die Hälfte in Bartbehaarung investiert. Jeder Yeti wäre froh gewesen, endlich einen Paarungspartner gefunden zu haben, meinem Spiegel wurde aber schwarz vor Augen. Ich nahm das verstaubte Rasiermesser vom Waschbeckenrand und schäumte meinen Kopf aus. Die Klinge musste sich mehrere Male knisternd und knackend wie ein Lagerfeuer durch unwegsames Gelände graben, ehe endlich so etwas wie ein Gesicht zum Vorschein kam. Zahlreiche Glutnester brannten rot auf meiner Haut. Rückwärts pfeifend ging ich zum alten Brunnen hinter dem Haus. Grillen und Zikaden verstummten, als ich den ächzenden Eimer hochzog. Das Wasser darin war kalt und klar wie ein Gletschersee. Ich schmiss mir zwei Hände davon auf das Lavafeld, das zischend erlosch. Mit meinem Saunagesicht ging ich in die Küche und setzte einen Espresso auf. Nach ein paar Minuten röchelte es gluckernd auf dem Herd. Ich nahm die Cafetière von der Flamme, goss mir den kochenden Schwarzsirup ein und setzte ich mich auf meine wilde Terrasse. Sie war unaufgeräumt, überall standen und lagen Fundstücke herum: Rinden, Steine, Blätter, Zapfen, Kastanien, aber für mich war es der Quell verwöhnter Momente. Hier saß ich gerne, hier bekam meine Seele Flügel und erhob sich hoch über meine alte Mühle. So weit sie blicken konnte, so sehr genoss sie jeden einzelnen Moment. Jeder Baum wurde zum Drehort, jede Wiese zum Theater, jeder Bach zum Hauptdarsteller und jeder Tag zum Happy End. Mit Ausnahme der letzten Woche, da lag meine Seele zerschunden und ausgekotzt in der Ecke. Jetzt kehrte langsam wieder Leben in die Totgesagte zurück. Ich wollte mir grade einen Glühfaden anzünden, als sie von weit oben Ermes, unseren Dorfbriefträger, mit seiner alten 72er Gilera Strada über die Serpentinen brausen sah und in mir eine stille Hoffnung weckte. Kurze Zeit später hörte ich ihn den Kiesweg hinaufdonnern. Ich hatte ihn längere Zeit nicht gesehen, eigentlich niemanden und ich fühlte mich der Sprache wieder mächtig genug. So tranken wir noch einen Cappuccino zusammen und plauderten ein wenig. Über dieses und jenes, über den Sommer und den Ausbruch der Pest in Afrika, über Don Pascale, seinen Großvater, und die Frauen im Allgemeinen. Und schließlich überreichte er mir schelmisch grinsend eine Postkarte und ich wusste sofort, dass er sie gelesen hatte. Noch bevor ich ihm eine Walnuss an den Kopf werfen konnte, sprang er spottend auf seine Postkutsche und trieb die Pferde an. Als er endlich verschwunden war, betrachtete ich die Karte: Ein Mann mit schwarzem Zylinder hielt ein blinzelndes Murmeltier ins Licht. Die Bank bebte, als ich mich setzte und mir das Herz, als ich las:

Caro amico, ich musste leider schon abreisen, ohne dich noch einmal wieder gesehen zu haben. Unseren Abend bei Don Pascale habe ich sehr genossen. Und dann warst du so plötzlich verschwunden, dass ich dich nicht einmal mehr nach deiner Telefonnummer fragen konnte! Ich habe gewartet, dass du zurück kommst. Ich habe gehofft, dass du es ernst meinst, dass Deine Empfindung für mich alles verschlingt. Ich habe geglaubt, du meinst mich, nicht die Trippa! Jetzt fühlt sich mein Herz so schwer an wie ein Stein. Mein Hunger, dich wieder in meine Arme zu schließen, brennt lichterloh in mir. Komm mich doch in Mailand besuchen. Mein Onkel weiß, wo. In Liebe, Carlotta.

Und plötzlich war mir klar, was alles durch den Magen geht.

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Strafzimmer

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1) und Space Invaders (Kapitel 2) und Verkorkt (Kapitel 3)

Da lag ich nun, was auch immer ich mir eingefangen hatte, es war stärker als ich. Es gab Momente, da schaffte ich es wenigstens aufzustehen, ein Glas Wasser zu trinken und abzuführen. Dann wieder packte mich die kalte Pest und fesselte mich Stunden lang ans Bett. Manchmal wusste ich nicht, ob Tag oder Nacht war und wie lange ich schon hier in diesem Strafzimmer verbrachte. Vielleicht flohen gar schon die Ratten ob meines Anblickes panisch unter meiner Türe hindurch und erreichten das Dorf eben zur Abendmesse in der heiligen St. Pius- Kirche. Padre Giuseppe schwenkte grade ein letztes Mal das Weihrauchfass, als der modernde und beißende Gestank wie in einer römischen Latrine das Segnen überflüssig machte. Der Papst schickte entsetzt seine besten Exorzisten auf den Weg und betete täglich auf dem Petersplatz. Die bleichen Toten und Rattenkadaver wurden in den nahe gelegenen Fluss geworfen, von wo aus sie durch die Strömung wieder zu meiner Mühle geschwemmt wurden und dort am frisch renovierten Wasserrad eine natürliche Staumauer bildeten. Der Pegel stieg innerhalb kürzester Zeit um das Hundertfache, riss das ganze Dorf mit sich, löste in Japan einen Tsunami aus, zerstörte ein marodes Atomkraftwerk und ließ die Welt trudeln. Selbst die sture Bundesregierung um einen Hosenanzug aus der Uckermark sprang auf den verspäteten und überhitzten Zug der Deutschen Bundesbahn, schwor, schon immer gegen Atomkraft gewesen zu sein und gab Sarrazin die ganze Schuld. Die Nato und der Warschauer Pakt brachten ihre Marschflugkörper in Stellung. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, probten Dieter Bohlen und David Hasselhoff gemeinsam als D’n’D für meine Trauerfeier. Eine Cover- Version des Songs sollte 2004 als der „Holzmichl“ die deutschen Charts erobern.

Wenn schon tot, dachte ich, dann bevor die beiden auf Welttournee gehen. Ich plünderte das geflochtene Lunchpaket von Carlotta, biss völlig unterfettet in die grobe Salami, stocherte den Korken in die Flasche, leerte sie in zwei Hieben und rauchte die gierige Glut im Bett.

Die Geschichte setzt sich hier fort

Verkorkt

Fortsetzung von Hautnah (Kapitel 1) und Space Invaders (Kapitel 2)

Baff stand ich da und grübelte. Ich versuchte, mich an besagten Abend zu erinnern, aber meine Synapsen waren noch verkorkt. Sie ließen keinen Gedanken an irgendetwas, das vor heute lag, zu. So sehr ich mich auch anstrengte, es war nur ein hohles Pfeifen und Sausen da, als bliese der Sensenmann sein Willkommenslied auf der Schalmei. Mir wurde heiß, Schweiß tropfte von meiner faltigen Stirn und verwischte die Tinte auf der Karte. Suchend bohrte sich mein Blick hindurch und fand auf der Rückseite ein abgedrucktes Rezept der Trippa. Ich würgte sofort, spuckte ein paar warme Brocken aus und rannte zum Haus, hielt aber schon auf halbem Weg an der Magnolie an und düngte sie reichlich. Sie sah schon ganz verkümmert aus. Mit einem Kanonenschlag flog mein Hirnkorken in den weiten Kosmos, eine Raumfähre musste ein riskantes Ausweichmanöver einleiten. Der gestrige Abend war wieder lebendig, Carlottas Lachen klang in meinen Ohren nach. Plötzlich schlängelten sich Scheinwerfer den Weg zu meiner Mühle hoch. Das wandernde Licht schleuderte meinen Schatten an die Hauswand. Panik breitete sich aus. Ich angelte einbeinig nach meinem Schlappen, schlug die Tür hinter mir zu und starrte in den Spiegel. Rauchen und Fleisch fressen bestrafte Gott an mir sichtbar doppelt, der Suff tat sein Übriges. Dann parkte draußen ein Auto, kurze Zeit später klopfte es. Ich gefror und merkte, dass überall im Haus das Licht brannte. Eine plausible Ausrede schien so fern wie Arminia Bielefeld vom Wiederaufstieg und so wartete ich darauf, dass der böse Wolf meine Strohhütte einfach um pustete. Es klopfte noch einmal. Ich hielt die Luft an, bis die Venen hervortraten. Eine Bande hinterhältiger Mücken nutzte meine Wehrlosigkeit schamlos aus. Ich wünschte mich auf die Autobahn in ein Stauende und dass ein Betonlaster hinein rast, mich zerkrümelt und meinen Organspendeausweis hinfällig macht. Eine zarte Stimme rief meinen Namen, dann knirschte es, Schritte entfernten sich, ein Motor sprang an und verschwand in der Dunkelheit. Fauchend atmete ich aus, mir war speiübel. Ich schleppte mich zu meinem Bett und wälzte mich unruhig hin und her. Der Mond war bleich und stumm, die Stille drückend.

Die Geschichte setzt sich hier fort