Januargefühl

Ein richtiges Januargefühl wollte sich nicht einstellen. Woher denn auch, bei einem Wetter draußen wie im März: Schnee und Eiseskälte. Die Hände tief in den Taschen vergraben, stand sie an der Haltestelle und wartete auf den Bus, der schon seit einer viertel Stunde überfällig (und überflüssig) war wie ihre Monatsblutung. Sie trat von einem auf das andere Bein und fixierte die Kreuzung, aus der er kommen sollte. Das winterliche Treiben setzte eben zum Gnadenstoß an, als der Bus um die Ecke bog. Steif wie ein Eistaucher im Baikalsee nestelte sie mit klammen Fingern nach ihrem Portemonnaie, kaufte sich ein Ticket und taumelte zu einem freien Platz. Sie setze sich ans Fenster, wischte ein kleines Loch in die vereisten Scheiben und spähte hindurch. Es war noch stockfinster, nur wenige Autos waren unterwegs. Ein dumpfer Knall zerschnitt das Brummen des Motors, als mit einem Mal der Bus abrupt stoppte. Einige Fahrgäste rutschten auf ihren Sitzen näher an die Scheiben, um besser sehen zu können, als ein weiterer dumpfer Knall ihre Neugier erstach. „Scheiße, scheiße, scheiße“, hörte sie den Busfahrer sagen. Kurze Zeit später öffnete er mit einem Zischen die vordere Tür und stieg hinaus. Stimmenfetzen wehten herüber, groteske Schatten spielten Fangen. Endlich trat der Busfahrer mit lautem Poltern und Stampfen wieder ein. In der einen Hand hielt er einen toten Schneemann, in der anderen eine doppelläufige Flinte.
Dann war Stille. Der Wind hatte aufgehört zu wehen und die Schneeflocken verharrten regungslos in der Luft. Fadenschnippsel huschten auf blassrotem Hintergrund vor ihren Augen hin und her, ihr Atem rasselte und ihr Brustkorb hob und senkte sich wie eine Qualle beim Schreittanz. Sie schreckte hoch, als es hupte. Sie saß noch immer an der Haltestelle, die Haare nass von der Scheibe des Wartehäuschens, an die sie ihren Kopf gelehnt hatte. Schlüssel und Handy waren ihr aus der Hand geplumpst. Der Bus stand genau vor ihrer Nase. Der Fahrer rief durch die Tür: „Wollen Sie jetzt mit oder weiterschlafen?“

Dies ist mein Beitrag zu Donna’s Schreibprojekt.

7 Gedanken zu “Januargefühl

  1. Quer 16. Januar 2010 / 12:51

    Och, die Arme! Der schräge Traum lässt sich bestimmt mit einer beginnenden Erkältung und Fieber erklären…

    Spannend jedenfalls, deine Geschichte!

    Gruss, Quer

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  2. Eva 16. Januar 2010 / 14:08

    Ein toter Schneemann, welch köstliche Idee!

    Danke für Deine Geschichte, sie berührt und amüsiert!

    Alles Liebe
    Eva 🙂

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  3. Brigitte 16. Januar 2010 / 14:23

    Ist doch schön, wenn man immer und überall schlafen kann.

    Tolle Gechichte, ich dachte schon an Mord und Totschlag 😉

    Liebe Grüsse
    Brigitte

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  4. chinomso 16. Januar 2010 / 16:34

    Witzig!!
    Ist der Schneemann nun der Grund für die Buspanne? Oder hat ihn der Busfahrer erschossen? Oder beides?

    Vielleicht stand er auf der Fahrbahn und der Bus hat ihn angefahren. Und weil kein Schneemann-Notarzt erreichbar war, hat der gute Busfahrer dem Schneemann den Gnadenschuss gegeben. Das ist sehr mitfühlend.

    Ich schmeiss mich weg. Die Geschichte ist mein persönlicher Favorit in diesem Monat.

    Ansonsten noch ein Tipp: Malaria macht auch solche Fieberträume.

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  5. Donna 16. Januar 2010 / 17:46

    Ist das möglich, dass da jemand den Januar verschläft … verträumt …

    Deine Geschichte mit dem toten Schneemann gefällt mir sehr gut!

    Liebe Grüße in ein schöners Januarwochenende – Donna

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  6. Jorge D.R. 17. Januar 2010 / 07:25

    Der tote Schneeman ist der Hit.
    Eine Supergeschichte.
    Hoffentlich hat sie Schlüssel und Handy wieder aufgehoben, bevor sie eingestiegen ist – hinter dem toten Schneemann.

    Liebe Grüße
    Jorge D.R.

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  7. april 17. Januar 2010 / 10:29

    So skurril können Träume manchmal sein, wenn man im Bushäuschen schläft 😉

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